Unwissende zu überrumpeln, ist nicht legitim!

Vernehmungen bestimmen den Gang des weiteren Strafverfahrens.
Vernehmungen bestimmen den Gang des weiteren Strafverfahrens. © Stock.XCHNG / Nate Nolting
Von Peter-Alexis Albrecht · 17.01.2012
Die hohe Schule polizeilicher Ermittlungstätigkeit ist die Vernehmung der Beschuldigten. Was bei der Polizei gesagt und geschrieben wird, hat höchste Relevanz, bestimmt es doch in den meisten Fällen den Gang des weiteren Strafverfahrens.
Die Kriminologie hat eine Vielzahl von Mängeln in der alltäglichen Praxis der Belehrung nachgewiesen. In einer Hamburger Untersuchung entsprachen nur 9 von 100 Vernehmungen bei Tötungsdelikten der strafprozessualen Rechtslage: Kaum Hinweise auf Tatvorwurf, Aussagefreiheit, auf Rechte, Verteidiger zu konsultieren oder Beweise zu beantragen.

Gerade bei Tötungsdelikten stehen den professionellen Vernehmern oft juristische Laien gegenüber, die zumeist in emotionaler Ausnahmesituation gehandelt haben. Hier wird mit kunstvoller juristischer Begrifflichkeit der Unterschied zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit herausgearbeitet - mit gewichtiger Folge: Vorsatz heißt oft lebenslange Freiheitsstrafe, bei Fahrlässigkeit kann auf Geldstrafe erkannt werden.

Das Hauptproblem liegt darin, dass ein polizeilicher Experte eine Vernehmung zielgerichtet auf Rechtsfiguren hinführt, die im Alltagssprachgebrauch des Laien keine Bedeutung haben. Die rechtliche Bedeutung der unterschriebenen Aussage wird dem Beschuldigten in aller Regel nicht deutlich. Verteidiger hätten hier einzuspringen. Doch ihre Anwesenheit hängt vom Zufall ab. Der eines Tötungsdelikts Verdächtige muss zum intellektuellen Element (also zum Wissen) und zum voluntativen Element (also zum Wollen) der Tat befragt werden.

Auf der Wissensseite ist keine Gewissheit der Todesfolge erforderlich. Es genügt nach der Rechtsprechung lediglich ein ernsthaftes Für-möglich-halten: sowohl für Vorsatz – mit der Gefahr der Strafe ‚lebenslang‘ – als auch für bewusste Fahrlässigkeit. Man muss es in der Vernehmung also nur "für möglich gehalten haben", dass der Tatbestand, hier die Todesfolge, wirklich eintritt. "Mit Absicht haben Sie doch bestimmt nicht getötet?", fragt der Vernehmer versöhnlich, "Sie haben es doch höchstens für möglich gehalten." Der Beschuldigte akzeptiert dankend und die Klappe ist schon halb zu.

Nun geht es um das Wollen. Zwischen Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit wird von der Rechtsprechung wie folgt unterschieden: "Sich mit dem Erfolg abgefunden, also etwas billigend in Kauf genommen zu haben", führt in den Vorsatz. Hat man dagegen "auf den Nichteintritt des Schadens vertraut", ist man in der Fahrlässigkeit und raus aus der Gefahrenzone.

Dieser schmale Grat zwischen Abfinden mit dem Schaden und dem Vertrauen auf den Nichteintritt des Schadens entscheidet also über ‚lebenslang‘ oder geringfügige Sanktion. Aber wer weiß das schon?

In allen Fällen kann der kluge Vernehmer damit dem Tatverdächtigen Sympathie und Vertrauen signalisieren. Aber die Überraschung kommt später: bei Gericht. Nun erfährt der Angeklagte, dass ihn all die netten Worte, die doch auf so viel Verständnis hindeuteten, schnurstracks in den Vorsatz und damit in den Einzugsbereich der lebenslangen Freiheitsstrafe geführt haben.

Im Ergebnis ist das eine Vernehmung mittels sprachlicher Überrumpelung. Die verfassungsrechtlich garantierte Waffengleichheit ist evident verletzt. Gleichwohl ermöglicht die derzeitige Gesetzeslage es der Polizei, sich die Kriminalitätsbekämpfung zu erleichtern. Das ist ein in der Ausbildung angestrebtes Organisationsziel. An die Polizisten geht der Vorwurf deshalb zu allerletzt!

Er geht vielmehr an den Gesetzgeber, der es bislang unterlassen hat, in Vernehmungen bei Kapitaldelikten, also immer, wenn hohe Strafen drohen, dem zu Vernehmenden von Gesetzes wegen einen Verteidiger beizuordnen. Das muss sich der Rechtsstaat jedoch leisten, denn es ist nicht legitim, Ungeschulte und Unwissende durch sprachliche Überrumpelung zu überführen.

Der Rechtsstaat verpflichtet in der Situation polizeilicher Vernehmung alle Beteiligten zu hoher Transparenz und Folgenabwägung. Nur so wird man der Wahrheitsfindung im Kriminaljustizsystem gerecht, die ohnehin nur eine Annäherung an materielle Wahrheit ist. Die Überrumpelung von Ungeschulten und Unwissenden ist Unrecht, schlicht menschenrechtswidrig!


Peter Alexis Albrecht, geboren 1946, ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsgebiete sind das Strafrecht in seinen Grundlagenbezügen zur Krimino-logie, zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie sowie die Methoden empirischer Sozialwissenschaften zur Erforschung der Wirkungsweisen des Kriminaljustizsystems.

Veröffentlichungen u. a.: "Die vergessene Freiheit" (2. Auflage, 2006) und "Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft – Auf der Suche nach staatskritischen Absolutheits-regeln" (2010).
Peter-Alexis Albrecht ist Herausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift "Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft".
Prof. Dr. Peter Alexis Albrecht
Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht© privat