"Ein miserables Flötenspiel von Rattenfängern"
Das Unwort des Jahres 2017 "Alternative Fakten" hat seine Auszeichnung nicht verdient, meint Arno Orzessek. Zwar habe es ursprünglich entlarvenden Charakter gehabt. In der Realität habe es allerdings zumindest in Deutschland wenig Schaden angerichtet.
Behalten wir die "Alternativen Fakten" im Hinterkopf und besichtigen kurz das Wort "Unwort". Es ist, wie gerade gesagt, ein durchaus handelsübliches Wort - aber eines, das durch die Verneinungsautorität der Vorsilbe Un- quasi sich selbst durchstreicht. Es ist also ein Wort, das so viel wie "kein Wort" bedeutet. Worüber sich theoretisch lange grübeln ließe - was hier aber praktischerweise nicht Not tut.
Denn der Clou beim Gebrauch des Wortes "Unwort" liegt ja darin, dass es so gut wie nie sprach-philosophisch auf sich selbst angewandt, sondern auf andere Worte losgelassen wird, entfernt ähnlich, wie man einen bissigen Hund von der Leine lässt.
Das angegriffene Wort bleibt nach der Attacke zwar in der Sprache lebendig, trägt aber Bisswunden davon - Stigmata, die ausdrücken: Die Sprache wäre sauberer, wenn es dieses verwerfliche Wort nicht gäbe.
"Gut" und "schlecht" aus zumeist linksliberaler Perspektive
Die jährliche Kür des Unwortes hat insofern eine moralische Aufladung; sie impliziert ein Urteil anhand der Unterscheidung von "gut" und "schlecht" aus einer zumeist linksliberalen Perspektive - wie die Unwörter der letzten Jahre belegen: "Lügenpresse", "Gutmensch", "Volksverräter".
Diese Worte stammen erkennbar aus dem Kampf-Vokabular der Rechten; sie alle haben etwas Niederträchtiges, sind aber, neutral betrachtet, hochwirksame politische Reizbegriffe.
Die "Alternativen Fakten" gehören nur bedingt in diese Reihe. Falls Kellyanne Conway die Formulierung spontan eingefallen ist, könnte man die Trump-Beraterin für Geistesgegenwärtigkeit oder sogar satirischen Wortwitz loben - wäre da nicht der Kontext.
Entlarvender Charakter
Denn die von Conway verteidigte Behauptung Sean Spicers, (ehemaliger) Pressesprecher des Weißen Hauses, Trump habe bei der Amtseinführung das "größte Publikum" überhaupt gehabt, war schlicht faktenwidrig. Es war eine Unwahrheit, oder - wenn man Absicht unterstellt - eine Lüge, und ist als solche weltweit gerügt und lächerlich gemacht worden.
Man darf allerdings bezweifeln, ob irgendetwas gewonnen wäre, wenn Conway das Wort alias Unwort gar nicht benutzt hätte. Denn tatsächlich hatte die Formulierung entlarvenden Charakter. Sie legte frühzeitig offen, dass nicht nur Donald Trump, sondern auch sein Stab willentlich gegen Grundregeln des rationalen Diskurses und der Redlichkeit verstoßen.
Von "Alternativen Fakten" zu sprechen, war insofern eine vernichtende intellektuelle Selbstbezichtigung - weshalb der Begriff auch kaum Verteidiger gefunden hat. Allein die rechtspopulistischen "Breitbart News" bemühten sich um Rechtfertigung, indem sie "Alternative Fakten" als neuen Ausdruck für die je persönliche Perspektive auf ein Ereignis definieren wollten. Das aber war viel zu durchsichtig, um flächendeckend zu verfangen.
Gewiss, es mag vereinzelt geistig anspruchslose Menschen geben, denen "Alternative Fakten" als tolle Alternative zum herkömmlichen Fakten-Begriff erscheinen. Und der konventionelle Begriff 'Faktum' hat auch durchaus gewisse Unschärfen. Doch er erweist sich als so stabil, dass die Variante "Alternative Fakten" mühelos als das miserable Flötenspiel von Rattenfängern zu erkennen bleibt.
Keine Auszeichnung verdient
Soll heißen: Anders als "Gutmensch" und "Volksverräter" besitzt das Unwort "Alternative Fakten" wenig Verführungs- und Verblendungspotential. Dafür deckt es die Trotzköpfigkeit derer auf, die es ernstlich im Munde hatten.
"Alternative Fakten" mag also auf dem Papier ein übles Unwort sein, in der Realität hat es nach kurzer Aufregung zumindest in Deutschland wenig Schaden angerichtet. Eigentlich hat es keine Auszeichnung verdient.