Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen: Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-1110111 (kostenfrei) und 0800-1110222 (kostenfrei) oder online unter https://www.telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Beratungsstellen gibt es unter https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/adressen.
Lebensentscheidungen auf der Bühne
08:35 Minuten
Ferdinand von Schirachs neues Stück "Gott" feiert eine Doppelpremiere in Berlin und Düsseldorf. Der Intendant Oliver Reese führt am Berliner Ensemble selbst Regie und verhandelt in der Inszenierung das schwierige Thema Suizid.
Stephan Karkowsky: Heute gibt es im Theater eine Doppelpremiere: Ferdinand von Schirachs neues Stück "Gott" wird zeitgleich uraufgeführt am Berliner Ensemble und am Düsseldorfer Schauspielhaus. In Berlin führt Intendant Oliver Reese persönlich die Regie.
Ein Mann will nicht mehr weiterleben, er ist 78 Jahre alt und verwitwet, sein Hausarzt aber verweigert ihm die Beihilfe zum Suizid. Wer bestimmt darüber, wann wir sterben dürfen, das ist die große Frage. Von Schirach hat seinem Buch ein Zitat von Albert Camus vorangestellt: Es gibt nur ein wirklich ernstes, philosophisches Problem, den Selbstmord. Sehen Sie das auch so?
Oliver Reese: Nein, das sehe ich nicht so. Das liegt daran, dass Ferdinand von Schirach eine starke persönliche Beziehung zu dem Thema Suizid hat. Übrigens, ich muss Sie "korrigieren": Sie haben recht, in dem Buch steht, dass es um einen Mann geht, der sich selbst töten will, bei uns ist es allerdings eine Frau. Schirach schreibt in seiner Regieanweisung, alle Rollen bis auf den Bischof können von Männern oder Frauen gespielt werden.
Karkowsky: Was ist die persönliche Beziehung, die der Autor zu Suizid hat?
Reese: Er hat in seinem Buch "Kaffee und Zigaretten" bekannt, dass er sich als junger Mensch versucht hat, das Leben zu nehmen, dass das ein bisschen traurig gescheitert ist, weil er zu betrunken war, um das Gewehr zu laden. Er spricht offen immer wieder über seine Depressionen.
Schirach ist ein Mensch, der schon einmal in seinem Leben ein Ende machen wollte. Aber ich glaube, dass er mit diesem Stück nicht nur über das philosophische Thema und das persönliche Thema Suizid sprechen wollte, sondern ein sehr politisches Stück geschrieben hat. Denn die ärztlich assistierte Beihilfe zum Suizid, das ist etwas, wo wir in Deutschland im Moment eine geradezu ungeregelte gesetzliche Situation haben.
Ein Gesetz aus dem Jahre 2015, um Sterbehilfevereinigungen zu verhindern, ist vom Verfassungsgericht im Februar gekippt worden - und zwar mit sofortiger Wirkung. Mit den Folgen haben wir uns in diesem Land, der Bundestag und der Gesundheitsminister zu beschäftigen, wir im Theater beschäftigen uns jetzt auch damit.
Karkowsky: Das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, es sei unzulässig, die Hilfe zum Suizid von materiellen Kriterien wie zum Beispiel einem bestimmten Grad einer unheilbaren Krankheit abhängig zu machen. Die Hauptfigur ist kerngesund, oder?
Reese: Das ist so, sonst hätte das Stück auch nicht diesen Stachel, dass man sich als Zuschauer fragen muss, was denke ich denn dazu. Wenn es einen todkranken Menschen hier im Mittelpunkt gebe, der sagt, ich möchte mir dieses Leiden ersparen, dann würden sehr viele Zuschauer ganz eindeutig der Meinung sein, dass man ihm oder ihr dabei helfen darf.
Das Urteil aus Karlsruhe ist deswegen so weitgehend, weil es sagt, in diesem Land darf es eben keine Bevorzugung oder keine Ungleichbehandlung von Kranken, von Gesunden, von Alten oder Jungen geben. Damit würde in der Konsequenz Deutschland eine liberalere Sterbehilferegelung bekommen, als wir sie im Moment in Holland oder in der Schweiz haben.
Der Gesetzgeber wird dem irgendwie folgen müssen. Es ist keineswegs sicher, dass das Parlament widerspruchslos dieses Urteil akzeptieren wird.
Die Zuschauer sollen sich selbst befragen
Karkowsky: Nein, das wird mit Sicherheit eine harte Debatte geben. Wie überzeugend sind denn die Argumente Ihrer Sterbewilligen? Sind Sie selber von der überzeugt worden?
Reese: Also, es sind im Stück nicht nur die Argumente von Frau Gärtner und ihrem Anwalt, sondern es gibt Experten, die diskutieren. Wir hören viele Argumente einer Ethikprofessorin an diesem Abend, von der Bundesärztekammer und von einem katholischen Bischof.
Die Religion, die Ethik und die Medizin bringen ihre Argumente an. Ich glaube, dass Sie sich als Zuschauer in diesem Stück selber befragen müssen, ob Sie schon eine klare Position haben. Das Problem ist, dass Ärzte eine haben müssen, wenn sie gefragt werden, müssen sie sagen, sie es tun oder nicht. Diese Entscheidung ist immer persönlich.
Karlsruhe regelt nur ein Verhältnis der Sterbehilfe und der medizinischen Möglichkeiten in Bezug auf unsere juristische Freiheit. Das heißt, selbstbestimmt, das ist etwas, wo die Kirche sagt: Nein. Also, die Selbstbestimmung des Menschen über seinen Tod oder den Beginn des Lebens, die sehen wir gar nicht, das ist ein Geschenk Gottes. Da gibt es sehr unterschiedliche Positionen.
Eine persönliche Haltung zum Stück
Karkowsky: Da wird auch in den Kirchen sehr unterschiedlich drüber diskutiert. Es ist nicht so, dass das Publikum im Stillen für sich am Ende des Stückes entscheiden soll, wie würde ich damit umgehen, sondern Sie fordern das Publikum – wie schon im letzten Schirach-Stück "Terror" – auf, eine Entscheidung zu treffen. Wie lautet die Frage am Ende?
Reese: Ferdinand von Schirach stellt die Frage: Der Arzt darf im Falle eines Suizides helfen, das hat das Verfassungsgericht klargemacht, aber soll er es auch? Soll er es im Falle von Frau oder Herrn Gärtner? Das heißt, wir sind an diesem Abend mit diesem Menschen im Mittelpunkt gegangen, der glaubhaft darstellt, dass er dieses Leben nicht mehr weiterleben möchte, obwohl er gesund ist. Dazu muss sich der Zuschauer verhalten.
Ich finde nicht so wichtig, ob es eine Abstimmung gibt oder nicht, sondern dass man als Zuschauer im Theater eine persönliche Haltung zu dem Stück entwickeln muss. Schirach hat hier ein Thema, bei dem wir uns alle, und zwar in unserem Leben, entscheiden müssen – und nicht nur im Theater.
Karkowsky: Ich kenne nur das Buchmanuskript, aber da sagt gegen Ende des Stückes die Vorsitzende des Ethikrates, sie könne nicht beantworten, Zitat: Wem unser Leben und unser Sterben gehören soll. Aber ich weiß sicher, dass es unser Staat ist, unsere Gesellschaft und unsere Zukunft, über die wir hier streiten.
Kritiker befürchten, dass es nach dem Verfassungsgerichtsurteil auch eine schleichende Entwicklung geben kann, dass irgendwann immer mehr Alte und Kranke sich gedrängt fühlen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, weil sie den Verwandten nicht zur Last fallen und der Gesellschaft keine Kosten verursachen wollen. Ist das eine Befürchtung, die man ernst nehmen sollte?
Neues Gesetz nötig
Reese: Ernst nehmen muss man das auf alle Fälle, aber deswegen ist auch ganz entscheidend, dass der Gesetzgeber die Sterbehilfebegleitung neu regeln muss. Das Gesetz von 2015 ist gekippt, das heißt aber nicht, dass wir in einem gesetzlosen Zustand verharren werden.
Es gab auch eine gesetzliche Regelung, bevor 2015 der Paragraph 217 erfunden wurde. Ich bin sicher, dass es auch jetzt wieder eine neue Gesetzgebung geben wird, das haben auch viele Parteien schon angekündigt. Da werden, wie damals 2015, die Kirchen und die Bundesärztekammer mitzureden haben, da werden aber auch Ärzte beraten, die in vielfachen Fällen Suizidbeihilfe geleistet haben.
Wir werden diese Fälle nur nicht jedem Einzelnen überlassen, sondern es wird eine gesetzliche Regelung geben müssen. Das heißt, es geht um Beratung, um die Prüfung der Dauerhaftigkeit und der Nachhaltigkeit eines Sterbewunsches. Wir dürfen sicher sein, dass in Deutschland keine fahrlässigen Selbsttötungen unterstützt werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.