Urbild aller Verschwörungstheorie

Besprochen von René Weiland |
Bei den "Protokollen der Weisen von Zion" handelt es sich um einen berüchtigten Text. Nicht nur, dass sie das Gerücht einer planmäßigen Eroberung der Welt durch die Juden verbreitet haben: Auch ihre eigene Entstehung ist von Gerüchten umrankt.
Ende des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Dreyfus-Affäre und des ersten Zionistischen Kongresses, so heißt es, seien sie auf Französisch verfasst worden. Agenten des russischen Auslandsgeheimdienstes sollen sie in Auftrag gegeben und nach Russland geschafft haben – als Kampfschrift gegen die sich abzeichnenden Reformen des russischen Wirtschafts- und Finanzwesens.

1903 wurden die "Protokolle" dann in Auszügen und auf Russisch in einer antisemitischen Zeitschrift veröffentlicht. Erst als sie jedoch in voller Länge in einem Buch des orthodoxen Erweckungsautors Sergej Nilus erschienen, begann ihre eigentliche, unheilvolle Wirkungsgeschichte, vor allem angefeuert durch ihre Folgeauflagen nach Russischer Revolution und Erstem Weltkrieg.

Allerdings stellte sich bald heraus, dass man es dabei zum großen Teil mit einem Plagiat zu tun hat. Fast die Hälfte des Buches war aus den "Gesprächen in der Unterwelt" von Maurice Joly abgeschrieben, einem fiktiven Gespräch zwischen Montesquieu und Machiavelli, mit dem Joly die politischen Zustände unter Napoleon III. satirisch anprangerte.

Darüber hinaus machten der Autor oder die Autoren der "Protokolle" Anleihen bei dem Erfolgsroman "Biarritz" von Hermann Goedsche. Dieser stellte sozusagen das fiktive verschwörungstheoretische Setting bereit. Danach trafen sich im Jahre 1860, wie alle hundert Jahre, auf dem jüdischen Friedhof in Prag Vertreter der zwölf jüdischen Stämme, um zu beraten, wie die Eroberung der Weltherrschaft zu bewerkstelligen sei.

Der vorliegende Sammelband bemüht sich darum, Licht in die Entstehungsgeschichte und die Hintergründe dieses Textes zu bringen. So wissen wir bis heute nicht, wer der Autor der "Protokolle" ist, der durchgehend von "wir" spricht. Genauso wenig hat je jemand das französische Original zu Gesicht bekommen.

Der italienische Literaturwissenschaftler Cesare de Michelis vertritt seit Jahr und Tag die These, dass ein französischer Originaltext nie existierte. Für ihn dient der Verweis auf ein verschollenes "Original" dazu, das verschwörungstheoretische Klima anzuheizen und zugleich die Spuren des Gekitteten und Fabrizierten zu verwischen.

"Ein 'wiederentdecktes Manuskript', das nur als Übersetzung verbreitet werden kann, ist die selbstverständlichste Vorgehensweise, um eine Fälschung zu beglaubigen. Die These, dass die Protokolle ursprünglich in französischer Sprache geschrieben worden sind, hat nur die Funktion, deren Authentizität zu beteuern."

De Micheles zufolge weisen etliche Ukrainismen und andere umgangssprachliche Besonderheiten in den frühen russischen Ausgaben der "Protokolle" auf das Umfeld der sogenannten "Schwarzhunderter" hin, eines zarentreuen Freicorps, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts an antisemitischen Pogromen im Russischen Reich beteiligt war. Andere sehen in Sergej Nilus, dem vermeintlichen Übersetzer und Herausgeber der "Protokolle", ihren Autor oder besser: Plagiator bzw. Kompilator.

Wie dem auch sei: Die Entstehungsgeschichte der "Protokolle" würde uns kaum beschäftigen, wären sie nicht bis auf den heutigen Tag die Quelle schlechthin für eine jüdische Weltverschwörung. Auf der anderen Seite ist die immense Wirkung kaum nachzuvollziehen, macht man sich einmal die Mühe, diesen wirren, geradezu debilen Text Wort für Wort zu lesen.

Interessanterweise auch geben die "Protokolle" überhaupt nichts Stilbildendes her für den rassistischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts. Die in ihnen enthaltende Verschwörungstheorie ist eher anachronistischen Typs. Sie orientiert sich primär an alten Vorstellungen jesuitischer Kabalen, denen sie entsprechende Mutmaßungen über die geheimen Umtriebe der Freimaurer und einen erdumspannenden jüdischen Finanzkomplott aufpfropft.

Stephan Gregory, Juniorprofessor an der Bauhaus-Universität, Weimar, sieht in dem Machiavellismus, der den Jesuiten unterstellt wird, das Urbild aller Verschwörungstheorie:

"Das vielleicht wichtigste Moment, das die antijesuitische Polemik dem Verschwörungsdenken der Neuzeit vermacht hat, besteht in der Idee einer indirekten Herrschaft, einer Führung, die sich nicht durch direkte politische Gewaltausübung, sondern auf Umwegen vollzieht, durch eine listige Manipulation der Interessen und Begierden. Diese Idee der indirekten Herrschaft kehrt in den Phantasien über die jüdische Weltverschwörung wieder. Allerdings ist hier das Medium der Religion durch das des Geldes ersetzt."

Es ist diese Vermengung verschiedener Verschwörungstypen zur der einen großen Weltverschwörung, die Eva Horn, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien, zu der Überlegung bringt, dass es sich bei den "Protokollen" womöglich ursprünglich um einen wüsten literarischen Jux gehandelt haben könnte. Dann wäre der Text auf denkbar fatalste Weise missverstanden worden. Gegen ihre These spricht, dass aus dem Text selber keinerlei satirische oder auch nur ironische Distanz herauszulesen ist.

Unbestritten ist dagegen, dass die Rezeptionsgeschichte der "Protokolle" Hand in Hand ging mit ihrer Editionsgeschichte. Erklärende Vorworte und zuspitzende Zwischentitel der nachherigen Übersetzer und Herausgeber haben die "Protokolle" mit jeder Ausgabe verändert, d.h. den zeitgeschichtlichen Gegebenheiten angepasst. Eva Horn:

"Diese Paratexte - angefangen vom Titel, den Publikationskontexten, Herausgebervorworten und Ankündigungen bis hin zu den Zwischentiteln - sind es, die die fatale Rezeption des Textes steuern. Sie erzeugen einen Erwartungsraum, in den der Text dann stoßen kann und in dem er seine Bedeutung überhaupt erst entfaltet, auch wenn er sie gar nicht enthält."

Dies erklärt das Phänomen einer "Rezeption ohne Lektüre". Die "Protokolle" wirken fort als Gerücht. Man muss die "Protokolle" gar nicht lesen, um sie zu "verstehen". Es gibt überhaupt nichts zu verstehen, genauso wenig wie wir die "Protokolle" als kohärenten Text zu lesen vermögen. Statt auf Gründe und Erklärungen stoßen wir auf die schiere Selbstreferenz verschwörungstheoretischen Denkens.

Es ist dieses In-sich-selbst-Kreisen, das die Unerschütterlichkeit der Fama samt ihrer ansteckenden Wirkung erklärt. "Die Protokolle der Weisen von Zion" führen uns an die Grenzen von Aufklärung, historischer wie philologischer. Das Verdienst dieses Sammelbandes besteht nicht zuletzt darin, dies offen zu legen.

Eva Horn und Michael Hagemeister (Hg.): Die Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung - Zu Text und Kontext der "Protokolle der Weisen von Zion"
Wallstein Verlag, Göttingen 2012
254 Seiten, 29,90 Euro
Cover "Eva Horn, Michael Hagemeister: Die Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung"
Cover "Eva Horn, Michael Hagemeister: Die Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung"© Wallstein Verlag