Mit dem Erzählen über meine Kindheit ist es wie mit einem Gang über einen zugefrorenen See. Ich darf nicht zu feste auftreten, ich darf über meine Kindheit nicht als Erwachsener nachdenken. Sonst breche ich ein, tauche unter und finden nicht mehr zurück.
Zum Tod von Uri Orlev
Der Autor und Holocaust-Überlebende Uri Orlev: Er sei ein feiner, geduldiger und charmanter Mensch gewesen, sagt die Lektorin Barbara Gelberg. © picture-alliance / dpa / ermann Josef Wöstmann
Zwischen Traumata und unbändiger Lebenskraft
08:37 Minuten
Der Kinderbuchautor Uri Orlev ist tot. Am bekanntesten ist sein Roman "Lauf, Junge, lauf", in dem ein jüdischer Junge im Zweiten Weltkrieg ums Überleben kämpft. Auch Orlev selbst war Holocaust-Überlebender, sein Werk ist autobiografisch geprägt.
Die Anzahl der Zeitzeugen, die heute noch von der Shoah berichten können, wird immer geringer. Umso wichtiger erscheint es, deren Erinnerungen der Nachwelt zu überliefern, sie literarisch oder filmisch zu dokumentieren. Dabei gilt es, formal einen großen Zwiespalt zu meistern: Wie lässt sich das Schicksal von brutal traumatisierten Menschen angemessen darstellen?
Der jüdische Kinder- und Jugendbuchautor Uri Orlev war darin ein Meister. Er war selbst Holocaust-Überlebender, seine Bücher tragen stark autobiografische Züge.
„Lauf, Junge, lauf“ aber - sein wohl bekanntester Roman in Deutschland, der 2013 von Pepe Danquart verfilmt wurde - war die Geschichte eines anderen Überlebenden. Yoram Fridman wollte lange nicht an die Traumata der NS-Zeit erinnert werden. Es dauerte ein halbes Jahrhundert, ehe er die Geschichte seiner Flucht aus dem Warschauer Ghetto Uri Orlev erzählte.
Ein Junge namens Srulik
Der schrieb dann über den knapp neun Jahre alten Jungen Srulik, den ein Helfer aus dem Ghetto schmuggelt und in die polnischen Wälder bringt. Im Roman reiht sich Ereignis an Ereignis. Orlev berichtet, wie der Junge nach seiner Unterweisung durch Gleichaltrige, durch den Vater und durch eine Ersatzmutter Stück für Stück allein zu überleben lernt.
Dabei muss er gute von bösen Menschen unterscheiden - selbst von deutschen Soldaten erfährt er auch Freundlichkeit. Doch kein Ort ist auf Dauer sicher, und so sucht er immer wieder eine neue Unterkunft.
Die Bücher von Orlev sind in Deutschland von Beltz & Gelberg verlegt worden. „Lauf, Junge, lauf“ sei „ein Glücksfall von einem Buch“, sagt die Lektorin Barbara Gelberg: „Das gibt es nicht oft.“
Behutsam, unpathetisch, beobachtend
Orlev habe seine Geschichten wie „spannende Abenteuerromane“ erzählt, betont die Lektorin. Er sei immer einfach, behutsam und unpathetisch geblieben, beobachtend und „fast naiv“: „Und man folgt ihm trotzdem atemlos.“ Denn Orlev habe „konsequent aus der Perspektive des Kindes“ geschrieben, sagt Gelberg: „Das ist sein Geheimnis. Das macht alles erträglicher, was er erzählt.“
Orlev wurde 1931 als Jerzy Henryk Orlowski in Warschau als Sohn jüdischer Eltern geboren. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte er im Warschauer Ghetto. 1943 wurde er gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Tante in das KZ Bergen-Belsen deportiert.
Nach der Befreiung durch die US-Armee 1945 gelangten er und sein Bruder mit einem Kindertransport nach Paris, dann nach Israel. Im Roman „Die Bleisoldaten“ schrieb Orlev seine eigene Geschichte des Überlebens auf. Das Buch erschien 1956 in Israel, zwei Jahrzehnte später in England und in den USA und noch einmal 20 Jahre danach in Deutschland.
Fantasie kann Leben retten
Orlevs zentrales Thema seien seine Traumata und die Frage gewesen, wie Fantasie Leben retten kann, sagt Gelberg. Sie erinnert sich an einen "feinen Menschen", geduldig und charmant, der auf eine "stille Art" viel Aufmerksamkeit eingefordert habe: "Und die hat er auch bekommen." Jetzt ist Uri Orlev im Alter von 91 Jahren in Jerusalem gestorben.
(ahe/kna)