Andacht unter einem Dach mit den Verstorbenen
Eine Grabstätte unter dem Kirchendach? Das war früher Geistlichen und Adel vorbehalten. Heute finden in "Urnenkirchen" Normalbürger die letzte Ruhe – und finanzieren den Erhalt der Gebäude mit. Die Auferstehungskirche in Mülheim ist fast ausgebucht.
Mit einer Seilwinde kurbelt der Küster Raimund Fitza einen Urnenschrein von unten in die oberste Reihe der Beisetzungsstätte. Dort oben sind noch wenige Plätze frei.
Fitza: "Da will keiner hin. Da kann man keine Kerzen anzünden, muss man zu mir kommen, dann hol ich eine große Leiter und kann ich die Kerze anzünden, oder Blumen hinlegen – weil, normalerweise dürfen die die große Leiter nicht nehmen, das ist ja gefährlich."
Pfarrer Schwarzenberg: "Es gibt schon manche alte Menschen, die sehr humorvoll umgehen mit ihrem Tod. Sie wollen dann auf keinen Fall einen Schrein hier zu ebener Erde, denn wenn mal eine Überschwemmung kommt, dann möchten sie nicht gern wegschwimmen. Originalton einer älteren Dame."
Manfred von Schwarzenberg ist Pastor der Pfarrei St. Barbara in Mülheim an der Ruhr. Zu ihr gehört auch die Auferstehungskirche, oder – wie ihre korrekte Bezeichnung lautet – Auferstehungskirche Heilig Kreuz.
Schwarzenberg: "Auferstehungskirche Heilig Kreuz, weil wir in dem Namen die Doppelseitigkeit betonen wollen: einmal Tod, Sterben, Leiden, auf der anderen Seite aber Auferstehung, Sieg über den Tod."
Grabstätten auf sechs Etagen
Wer die Auferstehungskirche durch die hintere Seitentür betritt, steht sofort vor einer halbrunden Wand, an der sich auf sechs Etagen die Urnenschreine aneinanderreihen. Die Urnenwand zieht sich an beiden Seitenwänden entlang bis neben den Altar. Weil es langsam eng wird mit Plätzen, ist jetzt schon eine Erweiterung geplant.
Schwarzenberg: "Im Augenblick sind hier fast 600 Menschen beigesetzt – wir bauen jetzt aber noch weiter aus, hinten im Altarrund. Die Nachfrage ist ungeheuer groß, damit hatten wir gar nicht gerechnet damals."
Damals – das war im Jahr 2009. Die Auferstehungskirche Heilig Kreuz gehörte zu den vielen Bauten, die wegen mangelnder Besucherzahlen eingerissen oder profaniert – also entweiht – werden sollten. Dass der erst 1967 errichtete Bau als geweihter Raum gerettet werden konnte, ist der Planung der Urnenkirche zu verdanken.
Schwarzenberg: "Da haben wir einen guten Mann im Rücken gehabt, den damaligen Bischof Felix Genn. Der hat gesagt: Geht mal nach Aachen. Schaut euch mal die St. Josefskirche an."
Vorbild St. Josef in Aachen
In der Aachener St. Josefskirche war schon 2006 die erste katholische Urnenkirche entstanden.
Schwarzenberg: "Zwei Busse haben wir vollgekriegt auf Anhieb, wo wir nach Aachen gefahren sind. Und waren auch sehr angetan und begeistert. Hinterher haben wir dann gesagt: Das ist es – und konnten dann auch das Bistum überzeugen, dass sich das hier rechnet."
Der Architekturwettbewerb für die neue Bestimmung der Kirche zielte nicht nur auf die Gestalt der Grabnischen. Im ganzen Kirchenraum sollte eine theologische Aussage sichtbar werden: Das Leben führt zum Tod, aber der Tod führt zum Leben.
Sinnbildlich für diesen Weg zieht sich ein Band aus Beton durch den Kirchenraum. Eine durchlässige Trennung der Urnenstätte vom inneren Kirchenschiff bilden zwölf bewegliche Tore aus Stahlrohren. Sie stehen für die biblischen zwölf Tore Jerusalems.
Bestattung mit oder ohne Bekenntnis
Schwarzenberg: "Dieses himmlische Jerusalem hat ja die berühmten Tore in alle Himmelsrichtungen. Will sagen: Alle Menschen sind in dieser Stadt willkommen, das zeigt sich hier darin, dass hier auch jeder Mensch beigesetzt werden kann. Er muss nicht katholisch sein, muss keiner Kirche angehören und so weiter, also offen für jeden Menschen – so wie die Vision dieses himmlischen Jerusalems."
Schon die ersten Christen haben in so genannten Kolumbarien die Asche ihrer Toten beigesetzt und dort auch ihre Gottesdienste gefeiert. Sie hatten offensichtlich keine Probleme damit, in ihren Andachtsräumen von den Toten umgeben zu sein. Pfarrer Schwarzenberg beobachtet das auch bei seiner Gemeinde:
"Manche Leute sagen mir, wenn ich eine Beisetzung hier habe, das wäre gar nicht traurig gewesen. Das hat auch mal jemand gesagt: Wenn ich hier beigesetzt werde, ist es, als ob ich nach Hause käme."
Zu diesem Gefühl trägt vielleicht auch bei, dass jeder Angehörige seine Nische gestalten darf. Zwar gibt es Grenzen, aber die sind leichter ausgesprochen als durchgesetzt.
Schreine mit persönlichen Zeichen der Trauer
Schwarzenberg: "Die Architekten wollten natürlich die große, künstlerische, einheitliche Lösung. Und wir haben gesagt, nein, die Leute, die müssen ihre Trauer verarbeiten. Und dann haben wir uns einstimmig entschieden, diese Schreine mit einem Sims auszustatten, wo wir dann die Leute gebeten haben, nur unsere Kerzen rein zu setzen, keine künstlichen Blumen und auch keinen Kitsch und so weiter. Das ist nicht gelungen."
Winzige Kuscheltiere, ein Bonsai, Engelchen oder eine kleine Rakete. Gern gesehen wird das alles nicht.
Schwarzenberg: "Aber wir wollen uns auch nicht in die Herzen der Leute einmischen. Es gibt Grenzen, da greifen wir dann ein, das ist klar. Aber es gibt eben Situationen der Trauerbewältigung, da haben wir uns nicht zu erlauben etwas zu sagen."
Die Urnenkirche in Mülheim an der Ruhr ist nicht einfach ein überdachter Friedhof, und – auch wenn hier sicher viele Tränen geweint werden – nicht in erster Linie ein Abschiedsort. Wenn hier, jede Woche zweimal, Gottesdienste und Andachten gefeiert werden, bleiben die Lebenden bei den Toten und die Toten bei den Lebenden als eine Gemeinschaft.