Ursula Rumin: Im Frauen-GULag am Eismeer
Berlin, September 1952. Ursula Rumin läuft von ihrer Wohnung am Hohenzollerndamm zum Fehrbelliner Platz, um dort die U-Bahn nach Ostberlin zu nehmen. Die Sonne scheint warm, und die junge Frau ist guter Laune, denn sie befindet sich auf dem Weg zum Büro der DEFA, wo sie einen neuen Drehbuchvertrag unterzeichnen soll.
Als sie den Bahnhof Friedrichstraße verlässt, sprechen sie zwei Männer an, die sie in einer schwarzen Limousine zum Sitz der Filmgesellschaft bringen wollen. Der befindet sich kaum einen Kilometer entfernt in der Jägerstraße, doch der Wagen fährt in rasantem Tempo in Richtung Frankfurter Allee. Nach etwa zwanzig Minuten hält das Auto vor einem großen eisernen Tor, das von zwei Uniformierten geöffnet wird. Dahinter ein langes dreistöckiges Gebäude mit Holzblenden vor den Fenstern, das ehemalige Antonius-Krankenhaus in Karlshorst, das inzwischen dem sowjetischen Geheimdienst MGB als Untersuchungsgefängnis dient.
"In einem kleinen Raum schiebt man mir wenig später einen Holzstuhl zu, Männer um mich herum, Soldaten, Gesprächsfetzen, von denen ich nichts verstehe, weil die Männer Russisch sprechen. Mir wird übel.
Ein Uniformierter steht vor mir und fordert in deutscher Sprache: "Ziehen Sie sich aus, geben Sie Schmuck, Mantel, Handtasche, Hüftgürtel und Strümpfe."
Ich gehorche, was bleibt mir auch anderes übrig. Dann greift er in mein Haar und beginnt, meinen Knoten zu lösen. Seine Hände sind schmutzig, ich weiche zurück. Hastig und mit zitternden Händen ziehe ich die Haarnadeln heraus. Das Haar fällt mir lang auf die Schultern. Der Posten betrachtet mich mit einem abschätzenden Blick und grinst...
Ein anderer schiebt mir ein dickes, schwarzes Buch zu, reicht mir einen Federhalter. Ich soll die Ablieferung meines Eigentums bestätigen. Das ist die erste Unterschrift in diesem Haus – viele sollen folgen.
Wenig später führt mich ein junger Soldat über eine Treppe in den Keller hinab. Auf schmutzig-grauen Läufern gehen wir an vielen Türen vorbei, Türen auf denen Nummern stehen. Einige starke Birnen brennen; Schlüssel klirren; ein Ventilator summt.
Dann schließt sich hinter mir eine Eisentür. Ich bin allein und sehe mich um: Eine kleine Zelle ohne Fenster, eine nackte Glühbirne in einem Drahtkorb über der Tür, eine Holzpritsche von Wand zu Wand, ein Blecheimer in der Ecke, sonst nichts. "
Für Ursula Rumin hat eine Odyssee begonnen, die sie bis nach Workuta führen soll, dem nördlichsten, zwischen Ural und Eismeer gelegenen Vorposten des Archipel GULAG. Sie ist eine von zehntausenden Deutschen, denen ein ähnliches Schicksal widerfährt, eine von hunderten, die in den frühen fünfziger Jahren aus Westberlin entführt wurden oder in eine vom sowjetischen oder ostdeutschen Geheimdienst aufgestellte Falle tappten.
Was war der Grund für Ursula Rumins Verhaftung? Den Verhörenden ging es um ihre nicht existierenden Beziehungen zur CIA, um ominöse Auftraggeber und Verbindungsmänner, die beispielsweise hinter der Flucht einiger Gefangener standen, die sich in den Westen absetzten, nachdem Ursula Rumin sie in einer Jugendstrafanstalt zu Recherchen für einen Dokumentarfilm aufgesucht hatte. Mit Informationen konnte sie beim besten Willen nicht dienen, was sie nicht davor bewahrte, in einem geheimen Prozess zu fünfzehn Jahren Arbeitslager verurteilt zu werden.
Knapp fünfzig Jahre später hat Ursula Rumin ihre Erinnerungen veröffentlicht, in einer klaren und bildhaften Sprache vermag sie ihre eigene Geschichte und die ihrer Mitgefangenen anschaulich zu machen. Ohne Verbitterung, aber auch ohne Hang zu gnädigem Vergessen führt sie den Leser durch die Schlamm- und Wasserkarzer von Berlin-Karlshorst und –Lichtenberg, in die verwanzten Zellen des Butyrka-Gefängnisses in Moskau und von dort aus auf endloser Eisenbahnfahrt in den hohen Norden, in die Lager von Workuta.
1931 wurden am Ufer der Workuta die ersten 400 Zwangsarbeiter abgesetzt, die sich Wohnhöhlen in den Frostboden gruben. Im Winter fallen dort die Temperaturen bis auf 65 Grad minus, der dreimonatige Sommer ist von Moskitos und Fliegen verseucht. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs - inzwischen hatte man Kohle hier entdeckt - bauten deportierte Wolgadeutsche erste Ansiedlungen. Rund um die Kohlenschächte entstanden in den folgenden Jahren etwa 30 Männerlager und eine Geisterstadt mit bis zu 50.000 Einwohnern. Zu dem Bezirk gehörten drei Lager, in denen etwa 5000 Frauen in Ziegeleien und Steinbrüchen, beim Eisenbahnbau und auf Holzplätzen arbeiteten. Unter ihnen waren Ukrainerinnen und Baltinnen aus den sowjetisch okkupierten Gebieten, russische und jüdische Frauen aus Moskau und Leningrad, Usbekinnen, zahlreiche Deutsche. Als besiegte Feinde traf sie das schwerste Los: sie sind zu "Schweigelager" verurteilt - das heißt sie dürfen Briefe weder schreiben noch in Empfang nehmen -, sie verstehen die russische Sprache nicht und werden, als letzte in der Hierarchie, für die niedrigsten Arbeiten eingesetzt.
Ursula Rumin entwirft dennoch kein Schreckensszenario. Ihr gelingt es, das Zusammenleben dieser Frauen, ihre Schicksale, ihren Überlebenskampf mit all der dazu gehörenden Verzweiflung und immer wieder aufkeimenden Hoffnung in lebendigen Szenen und Dialogen zu schildern. In Szenen wie jener, in der sie auf die Ukrainerin Olga trifft, eine der zahlreichen Zeuginnen Jehovas unter den gefangenen Frauen.
"Auf dem Holzplatz soll eine Latrine gebaut werden. Die Brigadierinnen stecken die Umrisse ab, zwei mal vier Meter Umfang, drei Meter Tiefe. Zusammen mit Karin, Christine, einer Estin und Olga aus der Ukraine werde ich zum Ausschachten der Grube eingeteilt. Drei Tage haben wir Zeit dafür. Die Arbeit ist sehr mühsam, der Boden besteht aus Lehm und Eis, das gehackt werden muss. Wir wechseln uns ab, da immer nur zwei in der Grube stehen können.
In der Ruhepause forme ich aus dem aufgeworfenen Lehm eine kleine Madonna, ähnlich jener, die ich im Gefängnis aus Brot geformt habe.
Olga sieht sie und stößt einen Begeisterungsschrei aus, dann fällt sie mir um den Hals, entreißt mir die kleine Figur und ruft "Krassiwo! Wunderschön!"
Sie bittet mich, die Figur behalten zu dürfen für ihren Gottesdienst in der Baracke. Da ich von ihren täglichen Gebeten weiß, schenke ich sie ihr gerne. "
Ende Juli 1953 kommt es zu ernsthaften Unruhen in den Arbeitslagern der Männer. Der Tod Berijas und die Berichte über den Aufstand am 17. Juni in Ostdeutschland führen zu einer Streikbewegung, die Wiederaufnahme der Verfahren, Herabsetzung der Strafzeit, Briefverkehr mit der Heimat, Minderung der Arbeitsnormen und bessere Lebensbedingungen fordert. Auf Anweisung des Generalstaatsanwaltes der Sowjetunion schießen sowjetische Soldaten in die Reihen der Streikenden des 29. Schachtes. 89 Männer sind sofort tot, Hunderte werden verwundet. Der Streik ist niedergeschlagen.
Als sich im Dezember 1953 für Ursula Rumin und andere Gefangene die Lagertore von Workuta öffnen und sie bei 28 Grad minus auf einem offenen LKW zum nächsten Bahnhof transportiert werden, geht für die Autorin eine fünfzehnmonatige Zeit der Leiden zu Ende. Über die Ukraine, Brest-Litowsk und die Oderbrücke in Frankfurt geht es wieder nach Deutschland zurück.
"Keiner von uns hat angenommen, dass wir auf deutschem Boden mit Fanfarenklängen begrüßt werden, aber als wir in den Bahnhof von Frankfurt einfahren, versteinern unsere Mienen. Über den Bahnsteig zieht sich lang eine Postenkette der Volkspolizei mit geschulterten Karabinern. Die DDR heißt uns willkommen. "
Doch das kann sie so wenig erschüttern wie das Verfahren des amerikanischen Geheimdienstes, als sie wegen einer noch inhaftierten Gefährtin vorspricht, deren Verwandte in den USA leben. Als man sie zur Überprüfung ihrer Angaben an einen Lügendetektor anschließt, sagt sie den Herren ihre Meinung und gibt auf die 30 Fragen 30 falsche Antworten.
"Ich weiß, dass ich niemals mehr vor etwas Angst haben werde. "
"In einem kleinen Raum schiebt man mir wenig später einen Holzstuhl zu, Männer um mich herum, Soldaten, Gesprächsfetzen, von denen ich nichts verstehe, weil die Männer Russisch sprechen. Mir wird übel.
Ein Uniformierter steht vor mir und fordert in deutscher Sprache: "Ziehen Sie sich aus, geben Sie Schmuck, Mantel, Handtasche, Hüftgürtel und Strümpfe."
Ich gehorche, was bleibt mir auch anderes übrig. Dann greift er in mein Haar und beginnt, meinen Knoten zu lösen. Seine Hände sind schmutzig, ich weiche zurück. Hastig und mit zitternden Händen ziehe ich die Haarnadeln heraus. Das Haar fällt mir lang auf die Schultern. Der Posten betrachtet mich mit einem abschätzenden Blick und grinst...
Ein anderer schiebt mir ein dickes, schwarzes Buch zu, reicht mir einen Federhalter. Ich soll die Ablieferung meines Eigentums bestätigen. Das ist die erste Unterschrift in diesem Haus – viele sollen folgen.
Wenig später führt mich ein junger Soldat über eine Treppe in den Keller hinab. Auf schmutzig-grauen Läufern gehen wir an vielen Türen vorbei, Türen auf denen Nummern stehen. Einige starke Birnen brennen; Schlüssel klirren; ein Ventilator summt.
Dann schließt sich hinter mir eine Eisentür. Ich bin allein und sehe mich um: Eine kleine Zelle ohne Fenster, eine nackte Glühbirne in einem Drahtkorb über der Tür, eine Holzpritsche von Wand zu Wand, ein Blecheimer in der Ecke, sonst nichts. "
Für Ursula Rumin hat eine Odyssee begonnen, die sie bis nach Workuta führen soll, dem nördlichsten, zwischen Ural und Eismeer gelegenen Vorposten des Archipel GULAG. Sie ist eine von zehntausenden Deutschen, denen ein ähnliches Schicksal widerfährt, eine von hunderten, die in den frühen fünfziger Jahren aus Westberlin entführt wurden oder in eine vom sowjetischen oder ostdeutschen Geheimdienst aufgestellte Falle tappten.
Was war der Grund für Ursula Rumins Verhaftung? Den Verhörenden ging es um ihre nicht existierenden Beziehungen zur CIA, um ominöse Auftraggeber und Verbindungsmänner, die beispielsweise hinter der Flucht einiger Gefangener standen, die sich in den Westen absetzten, nachdem Ursula Rumin sie in einer Jugendstrafanstalt zu Recherchen für einen Dokumentarfilm aufgesucht hatte. Mit Informationen konnte sie beim besten Willen nicht dienen, was sie nicht davor bewahrte, in einem geheimen Prozess zu fünfzehn Jahren Arbeitslager verurteilt zu werden.
Knapp fünfzig Jahre später hat Ursula Rumin ihre Erinnerungen veröffentlicht, in einer klaren und bildhaften Sprache vermag sie ihre eigene Geschichte und die ihrer Mitgefangenen anschaulich zu machen. Ohne Verbitterung, aber auch ohne Hang zu gnädigem Vergessen führt sie den Leser durch die Schlamm- und Wasserkarzer von Berlin-Karlshorst und –Lichtenberg, in die verwanzten Zellen des Butyrka-Gefängnisses in Moskau und von dort aus auf endloser Eisenbahnfahrt in den hohen Norden, in die Lager von Workuta.
1931 wurden am Ufer der Workuta die ersten 400 Zwangsarbeiter abgesetzt, die sich Wohnhöhlen in den Frostboden gruben. Im Winter fallen dort die Temperaturen bis auf 65 Grad minus, der dreimonatige Sommer ist von Moskitos und Fliegen verseucht. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs - inzwischen hatte man Kohle hier entdeckt - bauten deportierte Wolgadeutsche erste Ansiedlungen. Rund um die Kohlenschächte entstanden in den folgenden Jahren etwa 30 Männerlager und eine Geisterstadt mit bis zu 50.000 Einwohnern. Zu dem Bezirk gehörten drei Lager, in denen etwa 5000 Frauen in Ziegeleien und Steinbrüchen, beim Eisenbahnbau und auf Holzplätzen arbeiteten. Unter ihnen waren Ukrainerinnen und Baltinnen aus den sowjetisch okkupierten Gebieten, russische und jüdische Frauen aus Moskau und Leningrad, Usbekinnen, zahlreiche Deutsche. Als besiegte Feinde traf sie das schwerste Los: sie sind zu "Schweigelager" verurteilt - das heißt sie dürfen Briefe weder schreiben noch in Empfang nehmen -, sie verstehen die russische Sprache nicht und werden, als letzte in der Hierarchie, für die niedrigsten Arbeiten eingesetzt.
Ursula Rumin entwirft dennoch kein Schreckensszenario. Ihr gelingt es, das Zusammenleben dieser Frauen, ihre Schicksale, ihren Überlebenskampf mit all der dazu gehörenden Verzweiflung und immer wieder aufkeimenden Hoffnung in lebendigen Szenen und Dialogen zu schildern. In Szenen wie jener, in der sie auf die Ukrainerin Olga trifft, eine der zahlreichen Zeuginnen Jehovas unter den gefangenen Frauen.
"Auf dem Holzplatz soll eine Latrine gebaut werden. Die Brigadierinnen stecken die Umrisse ab, zwei mal vier Meter Umfang, drei Meter Tiefe. Zusammen mit Karin, Christine, einer Estin und Olga aus der Ukraine werde ich zum Ausschachten der Grube eingeteilt. Drei Tage haben wir Zeit dafür. Die Arbeit ist sehr mühsam, der Boden besteht aus Lehm und Eis, das gehackt werden muss. Wir wechseln uns ab, da immer nur zwei in der Grube stehen können.
In der Ruhepause forme ich aus dem aufgeworfenen Lehm eine kleine Madonna, ähnlich jener, die ich im Gefängnis aus Brot geformt habe.
Olga sieht sie und stößt einen Begeisterungsschrei aus, dann fällt sie mir um den Hals, entreißt mir die kleine Figur und ruft "Krassiwo! Wunderschön!"
Sie bittet mich, die Figur behalten zu dürfen für ihren Gottesdienst in der Baracke. Da ich von ihren täglichen Gebeten weiß, schenke ich sie ihr gerne. "
Ende Juli 1953 kommt es zu ernsthaften Unruhen in den Arbeitslagern der Männer. Der Tod Berijas und die Berichte über den Aufstand am 17. Juni in Ostdeutschland führen zu einer Streikbewegung, die Wiederaufnahme der Verfahren, Herabsetzung der Strafzeit, Briefverkehr mit der Heimat, Minderung der Arbeitsnormen und bessere Lebensbedingungen fordert. Auf Anweisung des Generalstaatsanwaltes der Sowjetunion schießen sowjetische Soldaten in die Reihen der Streikenden des 29. Schachtes. 89 Männer sind sofort tot, Hunderte werden verwundet. Der Streik ist niedergeschlagen.
Als sich im Dezember 1953 für Ursula Rumin und andere Gefangene die Lagertore von Workuta öffnen und sie bei 28 Grad minus auf einem offenen LKW zum nächsten Bahnhof transportiert werden, geht für die Autorin eine fünfzehnmonatige Zeit der Leiden zu Ende. Über die Ukraine, Brest-Litowsk und die Oderbrücke in Frankfurt geht es wieder nach Deutschland zurück.
"Keiner von uns hat angenommen, dass wir auf deutschem Boden mit Fanfarenklängen begrüßt werden, aber als wir in den Bahnhof von Frankfurt einfahren, versteinern unsere Mienen. Über den Bahnsteig zieht sich lang eine Postenkette der Volkspolizei mit geschulterten Karabinern. Die DDR heißt uns willkommen. "
Doch das kann sie so wenig erschüttern wie das Verfahren des amerikanischen Geheimdienstes, als sie wegen einer noch inhaftierten Gefährtin vorspricht, deren Verwandte in den USA leben. Als man sie zur Überprüfung ihrer Angaben an einen Lügendetektor anschließt, sagt sie den Herren ihre Meinung und gibt auf die 30 Fragen 30 falsche Antworten.
"Ich weiß, dass ich niemals mehr vor etwas Angst haben werde. "