Ursula Weidenfeld: "Regierung ohne Volk"

Drei Todsünden der Demokratie

Ursula Weidenfeld: "Regierung ohne Volk: Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert"
Ursula Weidenfeld: "Regierung ohne Volk: Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert" © dpa / Maurizio Gambarini / Rowohlt
Ursula Weidenfeld im Gespräch mit Christian Rabhansl |
Kanzlerin Merkel habe die Demokratie geschwächt, um realpolitisch voranzukommen. Diesen Vorwurf erhebt die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld in "Regierung ohne Volk". Dem Wähler müssten alternative Konzepte angeboten werden. Sonst würde der politische Wettbewerb gelähmt.
Christian Rabhansl: Wir sehen uns heute in der "Lesart" ja Deutschland genauer an, und wir werden uns nachher noch die Bevölkerung und ihre Befindlichkeiten, den werden wir uns noch genauer widmen. Jetzt geht es aber erst einmal um das Fehlen des Volkes, und wenn Sie jetzt nicht genau wissen, was ich damit meine, dann geht es Ihnen wahrscheinlich genauso wie der Bundesregierung, der sind nämlich die Bürger abhandengekommen. So lautet etwas verkürzt die These der Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld. Ihr Buch trägt den Titel "Regierung ohne Volk: Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert". Guten Tag, Frau Weidenfeld!
Ursula Weidenfeld: Hallo, Herr Rabhansl!
Rabhansl: Wenn ich Ihr sehr pointiertes Buch lese, dann lerne ich, da steht nicht nur die Regierung ohne Volk da, weil sie es irgendwo zwischen all dem pragmatischen, alternativlosen Regieren verloren hat, es ist vor allem die Bundeskanzlerin, an der Sie sich abarbeiten. "Angela Merkel und die drei Todsünden der Demokratie" heißt gleich eins der ersten Kapitel, und eine dieser Todsünden, das ist: Angela Merkel habe die Demokratie geschwächt, um realpolitisch voranzukommen. Wie das denn?
Weidenfeld: Na ja, wenn man auf die zwölf Jahre Angela Merkel guckt, die wir ja jetzt hinter uns haben, dann sieht man, dass es eben zunehmend im Laufe dieser Regierungszeit immer öfter dazu gekommen ist, dass die Bundesregierung etwas beschlossen hat – in der Eurokrise, im Atomausstieg oder zum Schluss eben auch in der Flüchtlingskrise –, ohne dass sie das Parlament gefragt hat, oder das Parlament wurde hinterher erst gefragt, und das Parlament ist ja der Vertreter des Souveräns, der Bevölkerung, der Bürger, und wenn man eben nicht mehr gefragt wird, weil die Exekutive durchregiert, dann wird die Demokratie geschwächt.

"Es ist unkomplizierter, wenn man Parlamentarier nicht befragen muss"

Rabhansl: Das hat Angela Merkel mal in das fürchterliche Wort der marktkonformen Demokratie gefasst, diese Methode, und da schreiben Sie – das ist der Vorwurf: "Zuerst war es nötig, dann war es unkompliziert."
Weidenfeld: Na ja, es ist eben einfach viel unkomplizierter, wenn man eben die Parlamentarier nicht befragen muss, und wenn sich die Parlamentarier – das ist ja die zweite These des Buches –, wenn der Parlamentarier sich ja auch gerne damit abfindet, dass er nicht mehr selber entscheiden soll, dass er nicht mehr selber Gesetzentwürfe machen muss, dass er nicht mehr selber politisch tatsächlich aktiv sein soll.
Dann hat man von beiden Seiten eine tatsächliche Schwächung der Demokratie, weil es eben so unkompliziert und so bequem ist, und es ist ja auch erfolgreich. Das ist ja das Tückische daran. Die Eurokrise hat Deutschland super bewältigt, der Atomausstieg ist eben mit einem sehr breiten Konsens dann gemacht worden, und in der Flüchtlingskrise ist es dann zerbrochen. Da ist dann sehr polarisiert diskutiert worden. Aber letztlich war es erfolgreiche Politik, die aber der Demokratie geschadet hat, die das politische System korrumpiert hat.
Rabhansl: Ich habe mich beim Lesen gefragt, ob nicht Angela Merkel diese Methode lediglich etwas subtiler anwendet als ihr Vorgänger, der mit seiner Basta-Politik zwar viel mehr krakeelt hat, aber es doch eigentlich relativ ähnlich gemacht hat.
Weidenfeld: Ja, man muss, glaube ich, schon fairerweise anerkennen, dass jede Regierung einen solchen exekutiven Moment hat. Also wenn man die Agenda 2010 von Gerhard Schröder anguckt oder die Ostpolitik von Willy Brandt, die Westbindung von Konrad Adenauer, dann hat man das immer, dass eben Bundeskanzler gesagt haben, da geht es lang, und jetzt folgen mir alle.
Aber bei Angela Merkel hat es etwas anderes, weil sie es nicht mit konkreten Inhalten verbindet, sondern das ist ein Regierungsprinzip. Man sagt eben, wir müssen schnell sein, wir müssen schnell entscheiden, wir müssen vielleicht auch so historische Fenster nutzen, die wir jetzt gerade haben. Also den Atomausstieg, den gab es eben nur nach Fukushima, und vermutlich hätte es ihn sechs Monate später nicht mehr gegeben.

"Sie hat den politischen Wettbewerb zur Strecke gebracht"

Also wenn man dieses Exekutive zu einem pragmatischen Prinzip des Regierens macht und wenn ein Parlament dann über zwölf Jahre systematisch entmündigt wird, dann wird es eben kritisch, und das sieht man ja eben auch. Man sieht ja, wir haben in Deutschland auf der einen Seite eine supererfolgreiche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, eigentlich geht es uns besser denn je, aber die Bürger sind unzufriedener denn je.
Rabhansl: Das könnte ja vielleicht damit zu tun haben, dass, wenn ich Sie richtig verstehe in Ihrem Buch, Angela Merkel ja nicht Prinzipien oder politische Linien durchsetzt – Sie bezeichnen Sie als Pragmatikerin, was aber wirklich kein Kompliment ist in diesem Zusammenhang –, sie sei keine Visionärin, keine Überzeugungstäterin, sondern sie räume immer wieder umstandslos ihre Positionen, sie mache sich im Wahlkampf sogar die Parolen des politischen Gegners zu eigen, und jetzt kommt der wirklich ätzende Satz: Das Erfolgsgeheimnis der Kanzlerin liege nämlich darin, "sie hat den politischen Wettbewerb im Land zur Strecke gebracht".
Weidenfeld: So ist es. Ich meine, wir sehen es gerade jetzt erst eigentlich mit Martin Schulz, dass es wieder so etwas wie Wettbewerb gibt, und wir sehen eben auch, dass Wettbewerb ganz offensichtlich das Politikbewusstsein und die Politikleidenschaft der Bürger befeuert. Wir haben das zwölf Jahre lang nicht gehabt.
Rabhansl: Politischer Wettbewerb – das, was die Kanzlerin in Ihren Augen zur Strecke gebracht hat, ist ja eigentlich nur eine andere Formulierung für Demokratie. Das heißt, das ist eigentlich der härteste Vorwurf, den Sie gegen eine Bundeskanzlerin erheben können.
Weidenfeld: Na ja, es ist … Klar, es ist ein harter Vorwurf. Es ist auch eine Kritik, die natürlich sehr, sehr spät kommt. Wir haben da eben einfach zwölf Jahre Angela Merkel gesehen, wir haben zwölf Jahre lang gesehen, dass sowas ja auch super funktioniert.

"Eine Missachtung des Wählers"

Wenn ich eben meinem politischen Gegner die Instrumente oder seine Ziele aus der Hand winde und sage, ich mach das alles selbst, und dafür sorgen will, dass die Wähler dieses politischen Gegners demoralisiert sind und nicht zur Wahl gehen, weil sie entweder denken, ich könnte ja eigentlich die Regierung wählen oder eben die Regierungspartei wählen oder aber muss ich gar nicht wählen, weil ich ja keine Forderungen an die Politik mehr habe, dann ist das auf der einen Seite natürlich erfolgreiche Realpolitik, auf der anderen Seite ist es aber tatsächlich auch eine Sünde an dem, was wir an demokratischem Miteinander, an demokratischen Gepflogenheiten, an demokratischen Gewohnheiten haben, und eben auch – wie soll man das sagen – eine Missachtung des Wählers.
Ich muss dem Wähler alternative Konzepte anbieten, damit er sich entscheiden kann, und das muss ich ernst nehmen, und wenn ich es nicht ernst nehme, dann lähme ich den politischen Wettbewerb und tue so, als gäbe es eigentlich gar keine Alternative.
Rabhansl: Am Ende Ihres Buches traue ich dann tatsächlich meinen Augen nicht, wenn Sie dann bei dem Ausblick, was sich ändern müsste, doch wieder bei der Kanzlerin bleiben und schreiben, was dann in einer womöglich noch kommenden Legislatur anders werden müsste. Was denn?
Weidenfeld: Na ja, noch eine Große Koalition darf es nicht geben. Große Koalitionen müssen Ausnahmeerscheinungen im politischen System Deutschlands bleiben.
Rabhansl: Große Koalitionen schaden der politischen Kultur und sie schaden der repräsentativen Demokratie, schreiben Sie.

"Die repräsentative Demokratie in Deutschland mehr achten"

Weidenfeld: Ja, so ist es. Also wenn man wirklich ernsthaft der Auffassung ist, dass Demokratie nichts ist, was selbst in einem Land wie diesem selbstverständlich ist, dann muss man sich sehr leidenschaftlich für politischen Wettbewerb aussprechen, für politische Alternativen.
Die Kanzlerin hat gute Politik gemacht, da beißt die Maus keinen Faden ab, aber es wird ihre letzte Legislatur sein, wenn sie noch einmal Kanzlerin wird, und dann hat sie tatsächlich auch eine Aufgabe, die repräsentative Demokratie in Deutschland mehr zu achten und stärker zu gewichten als sie das bisher getan hat.
Rabhansl: Ursula Weidenfeld über eine Regierung ohne Volk. Vielen Dank, Frau Weidenfeld!
Weidenfeld: Vielen Dank, Herr Rabhansl!
Rabhansl: Wir haben über diese Kritik an der Kanzlerin gesprochen, aber in dem Buch bekommen noch viele andere ihr Fett weg: die Medien, gerade die öffentlich-rechtlichen Medien, die maroden Verwaltungen, die zum Sinnbild eines Staatsversagens werden, die globalisierte Wirtschaft, und all das kann man lesen – ab heute im Buchhandel gibt es das Buch "Regierung ohne Volk: Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert". 300 Seiten für 19,95 Euro, bei Rowohlt erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Ursula Weidenfeld: "Regierung ohne Volk: Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert"
300 Seiten, 19,95 Euro, Rowohlt

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