Ursula Weidenfeld: "Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche"
Rowohlt Berlin, 2022
352 Seiten, 22 Euro
Zögern bis zur Schmerzgrenze
12:19 Minuten
Angela Merkels Ära als Kanzlerin geht nach 16 Jahren zu Ende. Sie habe das fast unerträgliche Zögern zum Regierungsprinzip gemacht, sagt die Journalistin Ursula Weidenfeld. Damit habe sie zwar manche Krise gut gemeistert, aber keine Lösungen für die Zukunft gefunden.
Angela Merkels größter Erfolg und Leistung sei, dass sie Deutschland in einer politischen Phase, in der sich die Welt mit Politikern wie Boris Johnson, Emmanuel Macron oder auch Markus Söder sehr stark in eine populistische Richtung ausgerichtet habe, "auf Kurs gehalten hat", sagt Ursula Weidenfeld.
Sie habe ohne Krach und hegemoniale Züge in dieser aufgeregten Welt Politik gestaltet. "Das mache Angela Merkel zu einer der modernsten Politikerinnen im 21. Jahrhundert." Mit ihrer Amtszeit sei die deutsche Gesellschaft im Vergleich zu den 90er-Jahren "offener" geworden, und ihr Politikstil habe Europa "mitzusammengehalten" in einer seiner schwersten Krisen.
Mit ihrem Buch "Die Kanzlerin" habe sie versucht, herauszufinden und herauszuarbeiten, welchen Einfluss eine Person – in diesem Fall Bundeskanzlerin Angela Merkel – auf Politik und gesellschaftliche Entwicklungen in einer Epoche habe, sagt Ursula Weidenfeld.
Sie habe die persönliche "Eigenart" einer politischen Führungsperson wie Merkel würdigen wollen, die "ungewöhnlich" sei und eine "außergewöhnliche Biografie" habe. Bei Angela Merkel müsste man "sehr genau schauen", was für eine Person sie sei, wie sie sozialisiert und in die Politik gekommen sei. Somit könnte man vielleicht auch das "Einmalige der Kanzlerin" erklären.
Persönliches mit politischer Botschaft
Über Angela Merkel persönliches Leben sei nur wenig bekannt, das habe Weinfeld aber gerade als "Einladung" empfunden, um darüber zu recherchieren und zu schreiben. Wenn Angela Merkel in späteren Jahren doch etwas Persönliches über sich preisgegeben habe, könne man vermuten, dass sie damit auch etwas über ihre politische Arbeit erzählen wollte, meint Weidenfeld.
So sei eine der wenigen privaten Geschichten, die Angela Merkel mit der Öffentlichkeit geteilt habe, wie sie im Schwimmunterrichte, trotz großer Angst, erst mit dem Ende der Schulstunde zum ersten Mal vom drei Meterbrett gesprungen sei. "Das ist schon eine Erklärung für ihr Prinzip der politischen Arbeit. Sie wartet, sie zögert, sie denkt nach."
Wenn es unerträglich für sie werde, dann "springt sie" und entscheide. Wenn sie etwas tun müsse, dann tue sie es auch – wie ihr Gastbeitrag am 22. Dezember 1999 in der FAZ zum CDU-Spendenskandal, mit dem sie sich vom damaligen Kanzler Helmut Kohl emanzipierte. Aber auch später in ihrer politischen Karriere wie in der Finanzkrise oder Flüchtlingsfrage habe der "Moment des Wartens, des Zögerns" immer eine Rolle bei ihr gespielt.
Merkels Versäumnisse
Gerade dieses Abwarten und Zögern funktioniere zwar bei der Bewältigung aktueller Krisen, sei aber wenig hilfreich bei langfristigen Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Digitalisierung, sagt die Politikjournalistin . Angela Merkel "war ganz groß", die Gegenwart zu managen und Konflikte zu moderieren. Das würde auch ihre Kanzlerschaft prägen. Zu kurz gekommen sei aber das Werben um "langfristig tragbare Lösungen". Wenn man überzeugt sei, dass Deutschland etwas für das Klima tun müsse, dann "muss man auch ein politisches Konzept entwickeln".
Angela Merkel habe sich hingegen immer für den Machterhalt und eine Regierungsbeteiligung entschieden. "Und das ist vielleicht die entscheidende Schwäche." Vorwerfen müsse man der noch amtierenden Kanzlerin auch, dass sie es versäumt habe, Behörden wie aktuell die Gesundheitsämter und das Bundesamt für Katastrophenschutz gegenüber Krisen nicht widerstandsfähig gemacht zu haben.
Dennoch habe Angela Merkel in ihrer Kanzlerinnenschaft auch Erfolge zu verbuchen: Sie habe den Reformprozess der europäischen Institutionen mit vorangetrieben, nur habe sie solche großen Erfolge selbst nie klar benannt. "Die Erfolge der Kanzlerin liegen vielmehr im Verfahren als im Ergebnis."
(jde)