Darf Hozan Canê ausreisen?
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Die kurdischstämmige deutsche Sängerin Hozan Canê ist seit über drei Jahren gefangen in der Türkei und erwartet am Mittwoch ihr Urteil. Ihre ebenfalls inhaftierte Tochter Gönül Örs durfte im Juni ausreisen und sagt: "Ich habe immer noch Albträume".
"Es ist nicht nur meine Mutter, die zu Unrecht verurteilt worden ist, es sind so viele Menschen in der Türkei, so viele Journalisten, so viele Künstler, so viele Abgeordnete, die seit Monaten, seit Jahren grundlos hinter den Gittern sitzen. Dieses Urteil werde ich nicht akzeptieren und das wird kein Mensch, der halbwegs logisch denkt, akzeptieren können."
Das sagt Gönül Örs am 14. November 2018 auf einer Pressekonferenz in Köln, als sie vom Urteil gegen ihre Mutter Hozan Canê in der Türkei erfährt. Die deutsch-kurdische Sängerin war da gerade zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt worden, da sie angeblich die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützt haben soll.
Auch Gönül Örs gerät ins Visier der türkischen Justiz. Als die Kölnerin im Mai 2019 in die Türkei reist, wird sie festgenommen. Erst im Juni 2021 kommt sie frei und darf nach Deutschland ausreisen.
Die Anwältin Ayse Celik aus Ankara betreut den Fall von Gönül Örs von Anfang an.
"Mein ganzes Herz hing an diesem Fall. Ich habe meine ganze Energie da reingesteckt. Ich wollte unbedingt einen Freispruch, aber es sollte nicht sein."
Die beiden Frauen lernen sich über eine Bekannte kennen, kurz nachdem die Polizei die Kölnerin am Flughafen in Istanbul 2019 festnimmt. In die Türkei gekommen war Gönül Örs, um ihre Mutter Hozan Canê im Gefängnis zu besuchen. Angefangen hat alles im Juni 2018:
Damals nimmt die Polizei Hozan Canê im Tourbus der prokurdischen HDP in Edirne in der Westtürkei fest. Die Kölnerin hat die Partei im Wahlpampf für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen unterstützt.
Würmer und Ratten kamen aus der Toilette
Hozan Canê geht es im Gefängnis gesundheitlich nicht gut. Heute erzählt die 50-Jährige über die Zeit in Edirne:
"In der Zelle gab es eine Toilette in einem Nebenraum. Der Deckel stand immer offen, weil das Klo kaputt war. Wenn wir morgens aufgestanden sind, war der Boden voller Ratten und Würmer, die aus der Toilette rauskamen."
Hozan Canê hat nur die deutsche Staatsbürgerschaft. Damit kann sich das deutsche Konsulat in Istanbul um ihren Fall kümmern:
"Ich wurde dann nach Istanbul ins Frauengefängnis Bakirköy gebracht, weil das näher am Konsulat war. Das haben sie dort vermittelt."
Aber auch in Bakirköy sind die Bedingungen hart, mit überfüllten Zellen und schlechtem Essen, sagt sie. Es gebe kaum Obst und Gemüse, dafür halbgare Kichererbsen und Bohnen. Im Gefängnis lernt sie Türkisch, dadurch habe sie Deutsch vergessen.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, Mitglied der verbotenen kurdischen PKK zu sein und für sie Propaganda zu betreiben. Beweise sind Fotos, auf denen die Kölnerin angeblich mit bewaffneten kurdischen Kämpfern zu sehen ist.
Ihre Tochter Gönül Örs setzt sich zu diesem Zeitpunkt noch von Deutschland aus für ihre Mutter ein, erklärt, die Fotos seien in Zusammenhang mit einem Film entstanden. Den habe ihre Mutter über das Leid der Jesiden gedreht und selbst mitgespielt.
Das Urteil für Hozan Canê: sechs Jahre und drei Monate Haft
Es dauert nur drei Prozesstage, bis im November 2018 das Urteil fällt: sechs Jahre und drei Monate Haft für Hozan Canê. Vom Vorwurf der Volksverhetzung und der Beleidigung des Staatsgründers Atatürk spricht sie das Gericht frei. Die PKK-Vorwürfe sieht es allerdings als erwiesen an. Anderthalb Jahre später kommt ein übergeordnetes Gericht zu einem anderen Schluss und hebt das Urteil auf. Hozan Canê bleibt trotzdem in Haft.
Ihre Tochter sitzt zu dem Zeitpunkt - im Mai 2020 - schon ein Jahr in der Türkei fest. Ihr wirft die türkische Staatanwaltschaft ebenfalls unter anderem vor, PKK-Mitglied zu sein. Sie soll 2012 bei einer kurdischen Protestaktion auf einem Ausflugsschiff mitgemacht haben – auf dem Rhein in Köln. Deutschland stellt die Ermittlungen gegen sie ein. Ihre türkische Anwältin Ayse Celik:
"Mit dem Vorfall auf dem Schiff hatte sie nichts zu tun, das steht ganz klar in der Akte. Es gab 18 deutsche Passagiere, keiner hat ausgesagt, dass sie auf dem Schiff war. Ich habe in Deutschland die Aussagen von allen gelesen. Gönül hatte mit dem Fall nichts zu tun."
Dass der Fall trotzdem bei den türkischen Behörden landet, dürfte auf einen Beamten beim Bundeskriminalamt zurückgehen. Laut Ayse Celik leitet er ihnen Namen von angeblichen türkischen Terroristen weiter, die für eine PKK-Aktion in Köln verantwortlich sein sollen. Aber auch die Türkei lässt den Fall laut Celik erstmal liegen:
"Als Gönül 2019 ihre Mutter im Gefängnis besuchen will, wird ihr gesagt, sie braucht dafür einen türkischen Personalausweis. Darum geht Gönül ins Kölner Konsulat. An dem Tag, an dem sie einen Antrag dafür stellt, wird Haftbefehl gegen sie erlassen."
Hausarrest mit Fußfessel für Gönül Örs
Im Gegensatz zu ihrer Mutter hat Örs die deutsche und die türkische Staatsangehörigkeit. Sie ahnt nichts von dem Haftbefehl, als sie kurz darauf in Istanbul landet.
Sie wird festgenommen, kommt aber schnell wieder frei, nur darf sie die Türkei nicht mehr verlassen und steht zeitweise unter Hausarrest. Eine elektronische Fußfessel schlingt sich um ihr Gelenk. Als ein Istanbuler Gericht vor einem Jahr entscheidet, sie darf sie abnehmen, ist sie einfach nur erleichtert:
"Ich hatte total Angst, dass ich von hier aus direkt ins Gefängnis gehe. Aber es ist okay. Ich bin damit erstmal zufrieden. Der nächste Prozess ist ja am 1. Oktober und da rechne ich mit der Freilassung."
Zu diesem Zeitpunkt haben sich Mutter und Tochter noch nicht in die Arme schließen können. Jetzt soll zumindest das endlich wahr werden:
"Ich darf sie besuchen. Ihr Prozess ist am 6. August. Ich glaube wir werden zusammen einfach nach Hause kommen. Das, was ich am Anfang gesagt hatte: ich hole Mama nach Hause. Hoffe ich."
"Das ist kein richtiges Leben"
Daraus wird nichts. Gönül Örs darf die Türkei weiterhin nicht verlassen, und Hozan Canê bleibt in Haft – bis Oktober vergangenen Jahres. Dann kommt sie frei, allerdings ebenfalls mit Ausreisesperre. Für Mutter und Tochter beginnt eine Odyssee:
"Das ist kein richtiges Leben. Überall bei den Familien, wo wir zu Besuch waren, konnten wir höchstens ein bis zwei Wochen bleiben. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage in der Türkei ging das für unsere Freunde nicht länger. Wir waren ja auch noch zu zweit."
Jetzt ist sie allein. Ende letzten Monats hebt ein Gericht in Istanbul die Ausreisesperre gegen ihre Tochter Gönül auf. Sie fliegt nach Hause nach Köln. Allerdings verurteilt dasselbe Gericht sie auch zu mehr als zehn Jahren Haft. Für ihre Anwältin unfassbar. Sie geht in Berufung:
"Und wenn es nötig ist und uns hier in der Türkei die Möglichkeiten ausgehen, werden wir vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ziehen."
Beobachter halten für Hozan Canê ein ähnlich widersprüchliches Urteil für möglich: hohe Haftstrafe, aber Ausreise. Für die 50-Jährige steht dann fest:
"Ich werde nie mehr in die Türkei kommen und ich werde die Türkei sogar von der Landkarte in meinem Kopf ausradieren. Sie haben uns hier zu viel Leid zugefügt."
"Die letzten zwei Jahre in der Türkei waren ein Leid, das wir mit viel Kraft und Geduld überstehen konnten", sagt ihre Tochter. "Ich habe immer noch Angst und ich habe natürlich immer noch Albträume darüber, dass es wieder passieren könnte. Obwohl ich mittlerweile seit einigen Tagen wieder zu Hause bin."
Es sei ein unbeschreibliches Gefühl, wieder von Deutschland und von ihrer Heimatstadt Köln aus sprechen zu können:
"Und an dieser Stelle möchte ich mich auch bei allen Unterstützern – alle Namen kann ich mir wirklich nicht merken, weil es einfach so vielen waren, die mich vom ganzen Herzen unterstützt haben – bedanken, weil ohne deren Unterstützung hätte ich die 25 Monate nicht überlebt."
"Diese Verhandlung war wirklich sehr skurril"
Das Urteil in Örs' Fall fällt das Gericht in Istanbul am 24. Juni. ZDF-Korrespondent Jörg Brase hat die Urteilsverkündung vor Ort beobachtet:
"Diese Verhandlung heute war wirklich sehr skurril. Der Richter hat die Verteidigung aufgefordert, ihr Plädoyer möglichst kurz zu halten. Danach hat er hastig ein Urteil verlesen, das schon in schriftlich ausgearbeiteter Form vorlag", berichtet Brase.
"Das sieht danach aus, dass da jemand wirklich dieses Verfahren schnell zu einem Ende bringen und Gönül Örs loswerden wollte. Ihr Fall hat ja eine gewisse Popularität erreicht. Es gab Medienberichterstattung. Es war auch Thema bei politischen Gesprächen. Das heißt, man wollte diesen Fall offensichtlich schnell abräumen.
Aber es sollte trotzdem eine Strafe geben, vielleicht als Zeichen an die politische Opposition im Ausland. Nach dem Motto: Ihr könnt euch in Deutschland zum Beispiel auf die Meinungsfreiheit berufen, ihr könnt protestieren, aber wir bekommen das mit und wir werden euch dafür hier zur Rechenschaft ziehen. Und man will offensichtlich, dass Regimegegner wie Denis Yücel, wie Meşale Tolu oder eben Gönül Örs die Türkei verlassen und auch nicht wiederkommen. Denn würde Gönül Örs irgendwann wieder in die Türkei zurückkehren, drohten ihr hier über zehn Jahre Haft."
Auf die Frage, ob sie je für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK gearbeitet oder Werbung gemacht hat - was ihr die türkische Justiz ja vorwirft - lacht Gönül Örs und sagt:
"Ich habe mich immer für Menschenrechte und für Menschen, denen es nicht gut gegangen ist, eingesetzt."
"Wenn meine Arbeit kriminalisiert wird, tut mir das weh"
Es sei dabei irrelevant gewesen, ob das Kurden, Deutsche, Türken oder Araber gewesen seien. Sie habe in Deutschland studiert, gehe seit über zehn Jahren ihrem Beruf als Sozialarbeiterin nach und arbeite eng mit den Jugendämtern zusammen.
"Und wer soll mir bitteschön das Recht nehmen, mich mit den Kurden in Verbindung zu bringen oder mich um die Menschen zu kümmern, die frisch aus dem Irak, dem Iran, Syrien oder der Türkei angereist sind, die Sprache nicht kennen und ich beherrsche die kurdische Sprache. Ich kann ihnen helfen.
Wenn meine Arbeit hier als Terrorismus angesehen oder kriminalisiert wird, tut mir das am meisten weh. Denn ich habe hier nur meine Arbeit gemacht. Und ich habe noch nie für eine verbotene Organisation gearbeitet."
Der türkischstämmige deutsche Schriftsteller Doğan Akhanlı, der selbst politischer Gefangener in der Türkei war, vermutet einen Grund für die Härte der Justiz auch in der kurdischen Abstammung der beiden Frauen:
"Seit der Gründung der türkischen Republik ist die kurdische Identität verleugnet. Als ich im Tekirdag-Hochsicherheitsgefängnis war, war ich dort fast der einzige türkischstämmige politische Gefangene. Da waren Hunderte junger Kurden. Man schickt die Kurden schnell ins Gefängnis. Die Hauptklienten der Gefangenschaft sind die Kurden."
Ein BKA-Beamter gibt Informationen an die Türkei weiter
Das habe ich am eigenen Leib erfahren, sagt Gönül Örs dazu. Sie könne verstehen, dass viele Menschen in Deutschland und in Europa dieses Thema hier nicht haben wollten. Aber:
"Das Problem ist einfach, Menschen wie ich – ich bin zwar nicht in Deutschland geboren, aber von klein auf hier aufgewachsen – ich habe mir hier ein Leben aufgebaut. Die kurdische Identität gehört zu mir genauso wie die deutsche. Menschen, die sich für eine solche Problematik einsetzen, dürfen nicht kriminalisiert werden. Und genau das passiert leider in der Türkei und auch wahrscheinlich fast überall auf der Welt."
Ihre Inhaftierung im Mai 2019 verdankt Örs einem Beamten im Bundeskriminalamt, der seine türkischen Kollegen über ihre angeblichen Verfehlungen in Köln informierte und ihnen Unterlagen zur Verfügung stellte.
"Ich weiß, was für eine Bedeutung Datenschutz in Deutschland und Europa hat", sagt Örs. "Und in diesem Fall wurde tatsächlich eine Straftat begangen, die mir zwei Jahre meines Lebens weggenommen hat."
Integrationswillige dürfen nicht kriminalisiert werden
Gönül Örs betont erneut, dass Menschen wie sie nicht kriminalisiert werden sollten. Es werde gern und viel über Integration gesprochen, von Menschen, die sich in die Gesellschaft einbringen sollten – unabhängig von Hautfarbe, Religion oder Ethnie.
Sie selbst sei dafür ein Beispiel. Sie lebe hier voll integriert, beherrsche die Sprache gut, habe einen Beruf erlernt und studiert. Demzufolge dürfe sie nicht kriminalisiert werden.
Nach dem häufig ergebnislosen Verhandlungsmarathon, den ihre Mutter und sie in der Türkei in der Zeit ihrer Gefangenschaft mitgemacht haben, wünscht Gönül Örs ihrer Mutter nun für den anstehenden Prozess "alles, alles Gute" und dass sie "endlich dieses Land verlassen darf".
Aber trotz aller Hoffnung gebe es auch Zweifel, denn Rechtsstaatlichkeit gebe es in der Türkei nicht, so ihr Fazit. Die Situation sei unberechenbar. Man könne nichts vorhersagen.
"Ich hoffe, dass ihr Albtraum beendet wird und dass sie nach Hause kann. Noch hoffen wir das."
(ik)