Was der Fall Gisèle Pelicot verändert
Die Urteile im Vergewaltigungsprozess Pelicot sind gesprochen. Der Fall könnte die Debatte über sexualisierte Gewalt aber darüber hinaus prägen. Der Prozess verdeutlichte ihre Normalität, die Scham vieler Opfer und die Verantwortung der Männer.
Der Vergewaltigungsprozess um Gisèle Pelicot hat in den vergangenen Monaten immense Aufmerksamkeit erregt, auch international: Über zehn Jahre hinweg wurde sie regelmäßig von ihrem damaligen Ehemann mit schwersten Angstlösern und Schmerzmitteln betäubt und im Internet anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten. Der Hauptangeklagte Dominique Pelicot wurde vom Gericht schuldig gesprochen und zur Höchststrafe von 20 Jahren Haft verurteilt. Alle 50 Mitangeklagten wurden ebenfalls schuldig gesprochen und zu Gefängnisstrafen zwischen drei und 15 Jahren verurteilt. Damit blieben die Richter hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurück. Die drei Kinder Pelicots kritisierten die Urteile als zu milde.
Gisèle Pelicot selbst sagte im Anschluss, dass sie die Entscheidungen respektiere. "Ich habe heute Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft in die Hand zu nehmen, in der jeder, Frau und Mann, in Harmonie, mit Respekt und in gegenseitigem Verständnis leben kann", sagte Pelicot zu Prozessende im Gericht. Sie hoffe, dass die Debatten, die während der Verhandlung geführt wurden, die Gesellschaft ändern können.
Der Prozess in Avignon in Südfrankreich fand nicht - wie bei solchen Verfahren üblich - hinter verschlossenen Türen statt. Die inzwischen 72-jährige Pelicot hatte das Gericht darum gebeten, den Prozess öffentlich stattfinden zu lassen und darum gekämpft, dass auch Fotos und Videos gezeigt werden, die ihr Ex-Mann von den Taten gemacht hat.
Die Staatsanwaltschaft hatte die Argumente der Angeklagten zurückgewiesen, die auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert hatten und stellte klar, dass es keine „normale, versehentliche oder unfreiwillige Vergewaltigung“ gebe. Mit seinem Urteil schmetterte das Gericht auch das Plädoyer der Anwältin von Dominique Pelicot ab. Sie hatte argumentiert, dass sein perverses Verhalten auf frühere traumatische Erlebnisse wie sexuellen Missbrauch in seiner Jugend und einen tyrannischen Vater zurückzuführen sei.
Pelicots Taten wurden zufällig entdeckt, nachdem er im September 2020 verhaftet wurde, weil er Frauen in einem Supermarkt unter ihrer Kleidung gefilmt hatte. Die Ermittlungsbeamten beschlagnahmten daraufhin Handys und Laptop von Dominique Pelicot. Dort fanden sie mehr als 20.000 Video- und Fotoaufnahmen, die er von den Vergewaltigungen seiner Frau durch ihn selbst und andere gemacht hatte.
Der Fall Pelicot hat zu einer intensiven Diskussion über sexualisierte Gewalt gegen Frauen geführt. Die Ungeheuerlichkeiten der Taten durch Fremde, die über Jahre stattfindenden Vergewaltigungen durch ihren eigenen Ehemann und der Mut, den Gisèle Pelicot für diesen Prozess aufgebracht hat, zeigen mehrere Aspekte sexualisierter Gewalt deutlich auf.
Inhalt
Gisèle Pelicot und die Scham nach sexualisierter Gewalt
Immer wenn Gisèle Pelicot das Gerichtsgebäude in den vergangenen Monaten betrat, ertönte Applaus - ein Ritual. Manchmal warteten rund 100 Personen auf sie, um ihre Unterstützung zu zeigen - vor allem andere Frauen. Der Prozess bewegte viele, auch weil Gisèle Pelicot öffentlich machte, was ihr angetan wurde, ihr Gesicht zeigt, sich als Opfer nicht versteckt. "Die Scham muss die Seite wechseln", hatte sie zu Prozessbeginn erklärt.
In ihrer letzten Aussage vor den Plädoyers am 19. November übte sie scharfe Kritik an den Aussagen mehrerer Angeklagter. "Das ist der Prozess der Feigheit", sagte sie, nachdem auch die letzten Mitangeklagten vor dem Strafgericht von Vaucluse sowie die beiden Söhne des Ehepaars angehört wurden. Sie habe im Prozess Dinge gehört, die inakzeptabel seien, die man nicht zu hören ertrage. Pelicot verwies dabei auf Angeklagte, die angaben, wie fremdgesteuert gewesen zu sein oder selbst womöglich unter Drogen gesetzt worden zu sein.
"Es ist für mich sehr schwierig, wenn gesagt wird, dass es praktisch eine Banalität ist, Madame Pelicot vergewaltigt zu haben", sagte Pelicot vor Gericht. Sie frage sich, wann die Angeklagten entschieden hätten, das Vorgehen nicht anzuzeigen. Die Gesellschaft sei patriarchal und müsse dies erkennen. "Wir banalisieren Vergewaltigungen", kritisierte die 72-Jährige.
Die Historikerin Heike Specht, Autorin des Buchs "Die Ersten ihre Art: Frauen verändern die Welt", nennt Pelicot "eine Heldin". Specht ist beeindruckt von ihrer Haltung und unterstreicht, dass Pelicot mit einem System breche: "Nicht sie muss sich schämen. Sondern die Männer müssen sich schämen", sagt Specht. "Wir haben einfach diese 5.000 Jahre Patriarchat auf dem Buckel, wo Frauen geshamet wurden dafür, dass ihnen Schlimmstes angetan wurde."
Pelicot sei aus der Opferrolle herausgetreten und habe ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass die Betroffenen sich nicht schämen müssen. Dafür könne man ihr nicht genug danken, findet Specht.
Für Emilia Roig, Autorin der Bücher "Das Ende der Ehe" und "Lieben", ist Gisèle Pelicot "eine feministische Ikone". Ihre mutige Haltung sei noch nicht weit verbreitet in der Gesellschaft. Doch stets den Fokus darauf zu setzen, wie mutig Pelicot sei, ist nach Einschätzung von Roig nicht unbedingt hilfreich: "Jedes Mal, wenn wir sagen, sie ist mutig, geben wir ein Signal, dass die Norm bleiben sollte, eben nicht darüber zu sprechen." Überlebende von sexueller Gewalt sollten aber nicht mutig sein müssen, um darüber zu reden, was ihnen widerfahren ist.
Die Normalität von Vergewaltigung und Missbrauch
Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist weit verbreitet. Nach Angaben des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ist in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Etwa jede vierte Frau erfährt körperliche oder sexualisierte Gewalt durch einen aktuellen oder früheren Partner. Zum Opfer schwerer sexualisierter Gewalt wird dem BMFSFJ zu Folge jede siebte Frau.
Die weite Verbreitung sexualisierter Gewalt, gerade auch innerhalb intimer Beziehungen, wird durch den Fall Pelicot überaus plastisch. Angesichts der Anzahl und Unterschiedlichkeit der Tatverdächtigen lässt sie sich nicht verdrängen oder externalisieren. Der Fall widerspricht der Annahme, dass sexualisierte Gewalt vor allem in anderen gesellschaftlichen Milieus als dem eigenen oder durch den sogenannten "Fremden im Park" verübt werde.
Zum einen, weil der Haupttäter der ehemalige Ehemann des Opfers ist. "Diesen Schock dieser Frau muss man sich mal vorstellen: dass sie mit einem Mann zusammenlebt, der über Jahre so etwas gemacht hat", sagt die Autorin und Historikerin Heike Specht.
Zum anderen, weil die übrigen verurteilten Männer einen Querschnitt der Gesellschaft bilden: Sie sind Fernfahrer, IT-Fachmänner, Schreiner, jung und alt, gebildet und ungebildet. Manche haben Familie, andere nicht. Ein "Herr Jedermann" sei angeklagt, sagte die ARD-Korrespondentin Julia Borutta, die den Prozess beobachtete und betonte, dass die Täter nicht vom anderen Ende Frankreichs nach Mazan zu Dominique und Gisèle Pelicot nach Hause gekommen seien: "Das sind alles Männer, die im Umkreis von wenigen Kilometern rekrutiert wurden." Dies deute darauf hin, dass es ein großes Interesse an solchen Angeboten im Internet gebe, wie sie Dominique Pelicot eingestellt habe.
"Das ist kein Einzelfall, kein monströser Akt, der individualisiert werden kann", betont auch die französische Autorin Emilia Roig: Es könne nicht ausschließlich Dominique Pelicot als Monster dargestellt werden.
Sie findet am Fall Pelicot auch die "scheinbare Normalität dieser Ehe" interessant, die in den ersten Berichten über das Verfahren beschrieben worden sei. Dabei gehe aus den Erzählungen der Tochter der Pelicots hervor, dass die Beziehung durchdrungen war von Machtverhältnissen und Missbrauch, vor allem psychologischer Art. Diese Form der Gewalt werde in heterosexuellen Ehen normalisiert, sagt Roig. "Eine gewisse Form von patriarchaler Gewalt gibt es in ganz, ganz vielen Familien - und dennoch wird es nicht gesehen."
Die Verantwortung und das Schweigen der Männer
Die große Gemeinsamkeit der Schuldigen im Fall Pelicot ist ihr Geschlecht: Es waren Männer, die eine sedierte Frau mutmaßlich vergewaltigt haben. Doch es scheint, als interessiere das in erster Linie Frauen.
Der Kölner Rapper LGoony kritisierte Mitte September in einem viel geliketen Posting auf Instagram, dass es vor allem Frauen seien, die über Verbrechen wie dieses diskutieren. Er betonte, dass Frauen sich vollkommen zurecht immer öfter darüber beschwerten, dass sich Männer an dem Diskurs nicht beteiligten.
Später führte er seine Gedanken dazu weiter aus: Seiner Erfahrung nach fühlten sich Männer zu Unrecht nicht angesprochen vom Thema Gewalt gegen Frauen. "Der Diskurs geht uns alle an, vor allen Dingen auch Männer", unterstreicht der Rapper. "Eigentlich sollte es so sein, dass mehr Männer was dazu sagen. Weil die Täter fast immer männlich sind. Deswegen ist es wohl hauptsächlich ein männliches Problem.”
In der weitgehenden Sprachlosigkeit von Männern gegenüber Verbrechen wie denen an Gisèle Pelicot zeigt sich nach Einschätzung der Journalistin Shila Behjat, wie wenig weit wir gekommen seien im Kampf gegen männliche Gewalt an Frauen. Behjat hat das Buch "Söhne großziehen als Feministin" geschrieben. Es gehe nicht nur um die Männer, die gewalttätig werden gegenüber Frauen, sagt die Journalistin. Sondern auch um die Männer, die das tolerieren, die nicht dagegen aufstehen und nichts dagegen sagen.
"Ich glaube, wir sind bei diesem Thema erst weitergekommen, wenn Männer tatsächlich in diese Verantwortung gehen", glaubt Behjat.
jfr, jk