US-Amerikaner Ben Lerner zu seinem neuen Roman

"Ich hoffe, dass Amerika seine Talsohle erreicht hat"

29:48 Minuten
Porträt von Ben Lerner
In "Die Topeka Schule" erzählt Ben Lerner von den Krisen der privaten und der öffentlichen Rede und den Sprechweisen des weißen Amerika. © Getty Images / Ulf Andersen
Von Thomas David |
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Mit einem Gedicht lasse sich Trump zwar nicht aus dem Amt werfen, meint Ben Lerner. Doch könne Literatur zumindest dem Niedergang der Sprache entgegenwirken. In seinem Roman "Die Topeka Schule" geht er den Ursachen für die Krise der USA nach.
Zu Beginn von "Die Topeka Schule", dem neuen Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Ben Lerner, treiben Adam Gordon und seine Freundin Amber in einem Boot über einen See - am Rande der Universitätsstadt Lawrence im Bundesstaat Kansas gelegen.
Adam Gordon ist im Herbst 1997 18 Jahre alt und sieht als bester Debattenredner der Topeka High School einem Meisterschaftsturnier und dem Studienbeginn an einem Ostküsten-College entgegen.
Während des Bootsausflugs hält er eine seiner weitschweifigen Reden – einen endlosen, ins Dunkel der Nacht gesprochenen Monolog. Er merkt nicht, wie die hinter ihm sitzende Amber gelangweilt aus dem Boot gleitet und leise zu dem am Ufer des Sees gelegenen Haus ihrer Eltern schwimmt.

Die Krise einer weißen Elite

In "Die Topeka Schule" erzählt Ben Lerner von den Krisen der privaten und der öffentlichen Rede und den Sprechweisen des weißen Amerika. Es geht um eine selbstgerechte, männliche Arroganz, mit der über die Köpfe des Gegenübers hinweggeredet wird - ohne zu bemerken, dass sich das Publikum längst aus dem Zimmer geschlichen hat.
Lerner erzählt von der Identitätskrise einer weißen Elite und von den tradierten Ritualen einer mittlerweile als toxisch empfundenen Männlichkeit, die er in "Die Topeka Schule" bis in die 90er-Jahre zurückverfolgt.
Er sagt: "Soweit es mich betrifft, geht es beim Schreiben nicht darum, einen aktuellen Roman oder ein aktuelles Gedicht zu verfassen. Nichts, das explizit von Covid oder Trump handelt." Manchmal zeige sich in der Literatur die politische Gegenwart gerade dann, wenn sie sich in der Erkundung von Dingen niederschlägt, die weniger aktuell zu sein scheinen. "Das ist eine Herausforderung, der ich mich in 'Die Topeka Schule' in Bezug auf die Trump-Ära gestellt habe."

Literatur ist langsamer als ein Tweet

Im August 2020 erzählte der 1979 in Topeka, Kansas, geborene Ben Lerner per Skype von der Arbeit an diesem Roman, der in Teilen die Vorgeschichte der politischen Gegenwart erzählt, sich aber nicht auf ein politisches Statement über Trump reduzieren lässt:
"Einerseits muss sich die Literatur mit Gegenwart auseinandersetzen, aber andererseits will man sie nicht auf das reduzieren, was unser 24-Stunden-Nachrichtenzyklus für relevant erklärt. Man will, dass Literatur langsamer ist als ein Tweet."
Lerner hat drei Gedichtbände veröffentlicht. 2011 erschien dann sein Roman "Abschied von Atocha", in dem sich sein literarisches Alter Ego, der Lyriker Adam Gordon, als Stipendiat in Spanien aufhält und in Madrid die islamistischen Bombenanschläge miterlebt, bei denen im März 2004 mehr als 190 Menschen starben.
Lerner ist außerdem der Autor des New-York-Romans "22:04", in dem der Ich-Erzähler Ben, ein mit seinem Romandebüt bekannt gewordener Lyriker, durch den Alltag treibt und über die Zerbrechlichkeit des Lebens nachdenkt. Und er ist einer der renommiertesten Vertreter der "Autofiktion".

Auch ein Roman ist Teil des Marktes

Zadie Smith erzählt in einem Gespräch über dieses Buch: "In Ben Lerners Roman, der in weiten Teilen autobiografisch ist, gibt es einen ziemlich mutigen Abschnitt, in dem er beschreibt, wie ihm seine Agentin beim Mittagessen sagt, dass er einen Vorschuss von 250.000 Dollar erhalten wird, um diesen Roman zu schreiben." So etwas in einem Roman zu erwähnen, sei ungewöhnlich und dürfte ihm nicht viel Sympathie eingebracht haben", so Smith. "Aber er sieht die Absurdität dieses kommerziellen Tauschs, die er im Roman dann mit einer Geschichte über beschädigte, von der Versicherung abgeschriebene und für 'wertlos' erklärte Kunstwerke verbindet." Sie habe den Eindruck, er wolle auf diese Weise jungen Künstlern sagen, dass Methoden existierten, die es einem ermöglichen, den kommerziellen Aspekt zu unterlaufen, selbst wenn die eigene Kunst Teil des Marktes ist.

Wahn und Wirklichkeit eines Sommers

Bei einem früheren Besuch erzählte Ben Lerner, dass er sich eigentlich eher als Lyriker verstehe: "Aber was mich am Roman reizte, war der Gedanke, dass ich dabei alles, was mich beschäftigt, zusammenbringen kann. Lyrik ist für mich aber noch immer das Zentrum, und ich habe noch keinen Roman geschrieben, der nicht von Lyrik handelt oder selbst wie ein Gedicht strukturiert ist."
Im Sommer 2020 hielt sich Lerner mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern in Kansas bei seinen Eltern auf. Per Skype erzählte er von Wahn und Wirklichkeit eines durch die Corona-Pandemie, die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt und den Präsidentschaftswahlkampf erschütterten Landes:
"Die von Trump beförderte Regression führt dazu, dass kaum noch eine gemeinsame Realität und ein Sinn für soziale Verantwortung existieren. Landesweit ist die Lage also desaströs, während man in New York dem Ende des Shutdown entgegensieht und den wilden Ritt fürchtet, der uns im Herbst bevorsteht. Insbesondere, weil Trump angekündigt hat, die Wahl stehlen zu wollen." Und er erzählt von der Identitätskrise des "weißen Amerika", die er in seinem Roman bis in die 90-Jahre zurückverfolgt, von rassistischen Ideologien, Gewalt und Verschwörungstheorien. Und vom "Schnellsen", einer Debattiertechnik unter Schülern der weißen Mittelschicht.

Das "Schnellsen" - eine verrückte Debattiertechnik

"Beim 'Schnellsen', dieser verrückten und faszinierenden Debattiertechnik, bei der die Schüler so schnell sprechen, dass das Gesagte seinen Sinn verliert, geht es ausschließlich darum, schneller zu sein als das andere Team", so Lerner.
Dabei löst sich die Rede durch Tempo und Intensität so auf, dass sie inhaltlich bedeutungslos wird, wie Lerner erklärt:
"In meinem Roman ist das 'Schnellsen' aber auch eine Metapher für die Trump-Ära," sagt Lerner. "Und die Art, wie Information unter Trump funktioniert. Eine Sache, die schon vor Trump anfing, für den Trumpismus aber grundlegend ist, ist, dass Trump und seine Kumpanen begriffen haben, dass ein einziger Skandal ein politisches Problem darstellt, tausend Skandale pro Tag die Leute aber überwältigen und handlungsunfähig machen."

Bankrott politischer Rhetorik

Das "Schnellsen" habe etwas Gutes und etwas Schlechtes. Es repräsentierte eine Art Dekadenz und einen Zusammenbruch, andererseits aber auch das Potential einer Erneuerung, meint der Autor:
"Aber wir müssen auch zugeben, dass sich jedes Mal, wenn Trump den Mund aufmacht und eine seiner absurden Vorstellungen und Lügen abliefert - sofern sie ein Niveau der Kohärenz erreichen, das eine Lüge überhaupt erst möglich macht -auch eine tiefgreifende Wahrheit offenbart." Dabei handele es sich um den Bankrott der etablierten politischen Rhetorik in Amerika. "Wir müssen begreifen, dass sich der Trumpismus zu großen Teilen der Tatsache verdankt, dass auch bereits die demokratischen und neoliberalen Politiker eine Sprache gesprochen haben, die sich von der Realität vollkommen abgelöst hatte."

"Wir brauchen eine neue Sprache"

Lerner hofft auf eine Art poetische Offenheit für einen neuen Diskurs. Was sonst kann man tun, wenn sich alle Sprechweisen des Mainstreams als unzulänglich erwiesen haben? Und ist sich dabei einig mit Alexander Kluge, mit dem ihn seit Jahren ein freundschaftlicher, künstlerischer Dialog verbindet. Kluge sagt dazu:
"Wir müssen also gewissermaßen Realität überhaupt erst ausgraben, und dazu müssen wir den überlieferten Sinn abstreifen, und dann ergibt sich, dass diese Dinge selber ihren Sinn haben."
Lerner sagt: "Wir brauchen eine neue Sprache." Der Autor glaubt an die Bedeutung von Literatur, wenn auch nicht daran, dass ein Gedicht Trump aus dem Amt werfen könne. "Aber es verhält sich wie bei den Anonymen Alkoholikern: Man muss erst am Boden liegen, bevor der Heilungsprozess einsetzen kann. Ich hoffe, dass Amerika seine Talsohle erreicht hat und dass auch Künstler in dem zukünftigen Heilungsprozess eine Rolle spielen und an der Entwicklung eines Gegennarrativs zum Suprematismus und Trumpismus mitarbeiten werden."
(dw)

Sprecherin: Manuel Harder, Joachim Schönfeld, Justin del Corte
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Dorothea Westphal

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