Jodi Picoult: Kleine große Schritte
Aus dem Englischen von Elfriede Peschel
C. Bertelsmann, München 2017
592 Seiten, 20 Euro
"Überall im Land entstehen Hassgruppen"
In ihrem neuen Roman "Kleine große Schritte" seziert Jodi Picoult den amerikanischen Alltagsrassismus aus der Sicht einer schwarzen Krankenschwester – eine große Herausforderung, gerade für sie als weiße Frau. Die US-Bestseller-Autorin ruft dazu auf, eigene Privilegien zu reflektieren.
Joachim Scholl: Die Schriftstellerin Jodi Picoult ist gerade mal 50 Jahre alt und hat bereits 23 Romane verfasst. Allein die letzten acht standen alle auf Platz eins der "New York Times"-Bestenliste, in 35 Sprachen erscheinen Jodi Picoults Bücher, die Gesamtauflage beträgt 45 Millionen Exemplare. Und jetzt gibt es den neusten Roman auch auf Deutsch, "Kleine große Schritte" heißt er, das Thema: Rassismus. Willkommen in der "Lesart" in Deutschlandfunk Kultur, Jodi Picoult, welcome!
Jodi Picoult: Thank you for having me!
Was es mit sich bringt, weiß zu sein
Scholl: Die "Washington Post" spricht von Ihrem wichtigsten Buch, Mrs. Picoult. Sie selbst schreiben im Nachwort, dieser Roman würde immer aus allen anderen herausstechen, weil er Ihre Selbstwahrnehmung völlig verändert hätte. Auf welche Weise ist das geschehen?
Picoult: Das ist ein Buch über Rassismus und darüber, wie Rassismus nicht nur aus Vorurteilen besteht und wie diese Vorurteile zusammen mit Macht wirken und dass Rassismus systemisch ist. Ich habe mich auch als weiße Frau gefragt, wie es denn um mich steht, und ich habe mich natürlich überhaupt nicht als rassistisch gesehen. Ich habe auch nicht gedacht, dass ich irgendwelche Vorurteile hätte. Aber ich könnte dieses Buch über Rassismus nicht schreiben, wenn ich nicht auch bei mir selber ein bisschen tiefer graben würde und meine eigenen, vielleicht doch vorhandenen Vorurteile ein bisschen näher betrachte.
Bei der Recherche ist mir aufgefallen, was es bedeutet, als weißer Mensch geboren worden zu sein. Wir erkennen diese Privilegien nicht unbedingt, wir sehen sie vielleicht als Glück oder als die Frucht unserer harten Arbeit. Aber die Tatsache, dass wir die Leiter hochklettern, und so schnell und so gut und so leicht wir das machen, eben weil wir eine weiße Hautfarbe haben, wird oft ignoriert. Die Tatsache, dass wir als Weiße selber einen Rückenwind haben, der uns das Aufsteigen in der Gesellschaft erleichtert, ist viel schwerer zu akzeptieren.
Die Herausforderung, sich in einen Rassisten hineinzuversetzen
Scholl: Sie erzählen in Ihrem Buch die Geschichte der kranken Krankenschwester und Hebamme Ruth Brooks, einer Heldin, die Sie zuvor in einer Kurzgeschichte schon eingeführt hatten. Jetzt steht Ruth im Roman vor Gericht, weil ein Baby gestorben ist – das Kind eines weißen Rassisten und beinharten Neonazis, der zuvor gesagt hat, mein Baby wird von dieser Schwarzen nicht angerührt. Sie, Jodi Picoult, schlüpfen nun in beide Rollen, in beide Köpfe, von Ruth und von Turk Bauer, so heißt dieser white Supremacist. Was war eigentlich schwerer für Sie: als weiße und bekennende Liberale diesen Nazi darzustellen oder die schwarze Ruth?
Picoult: Da muss ich eine Antwort in zwei Teilen geben. Erst mal muss ich vorwegschicken, dass es emotional viel schwieriger war, die Rolle von Turk Bauer anzunehmen. Aber kommen wir noch mal zu Ruth zurück: Ich hätte nicht als weiße Frau über sie schreiben können, ohne vorher mit zahlreichen schwarzen Frauen gesprochen zu haben. Ich habe viele Frauen interviewt, mit ihnen geredet, mir ihre Geschichten angehört, ihre Erfolge, ihre Schwierigkeiten, all das. Und im Zuge dieser Gespräche kam eine junge Frau mit einem Baby auf der Hüfte zu mir – das war ein Tag, nachdem wieder ein unbewaffneter Schwarzer von der Polizei erschossen worden war – und fragte mich völlig verzweifelt und aufgeregt: Wie soll ich denn mit meinem Sohn leben, wie soll mein Sohn hier am Leben bleiben, wie bringe ich ihm bei, nicht schwarz zu sein, was soll ich machen? Und als Mutter auf so etwas zu reagieren, wie macht man das? Das war ziemlich schwierig. Und diese Frauen haben dann auch alles gelesen, was ich mit der Stimme von Ruth geschrieben habe, um das so passend wie möglich erscheinen zu lassen. Und ohne ihre Hilfe wäre ich auch nicht in der Lage gewesen, die Stimme einer schwarzen Erzählerin anzunehmen.
Auf der anderen Seite war es wirklich viel schwieriger, aus dem Kopf eines Rassisten zu schreiben. Emotional habe ich mich natürlich viel näher an Ruth gefühlt als an Turk Bauer. Alles, was Turk Bauer sozusagen an Gedanken widergibt oder was ihm passiert ist, ist ähnlich passiert oder habe ich gehört von zwei white Supremacists, zwei Nazis oder ehemaligen Nazis aus den USA, die ein Leben in Hass geführt haben und sich dann davon abgewendet haben und mir darüber berichtet haben, wie es war. Aber ich muss sagen, dass … Ich habe jetzt 24 Bücher geschrieben und das war jetzt das erste Mal bei diesem Buch, dass ich nach dem Schreiben von Absätzen, die aus der Perspektive von Turk Bauer erzählt wurden, das Gefühl hatte, duschen zu müssen, weil ich mich so schmutzig gefühlt habe.
Scholl: Sie haben Ihren Romantitel einem Wort von Martin Luther King entlehnt, der einmal gesagt hat: Wenn ich schon nichts Großes bewirken kann, kann ich doch auf großartige Weise kleine Schritte machen. Und um den Titel jetzt mal wörtlich zu nehmen, Jodi Picoult: Angesichts der gegenwärtigen Situation in den USA, die sich doch zugespitzt hat mit den Ereignissen von Polizeigewalt gegen Schwarze, den Riots, den Krawallen, die sich daran entzündeten, was wären denn solche kleinen großen Schritte, die man jetzt tun müsste? Sehen Sie Ihr Buch als einen solchen kleinen großen Schritt?
Picoult: So eine gute Frage! Eine tolle Sache beim Lesen von Romanen über Rassismus ist, dass es so ein subtiler und netter Weg ist, über dieses Thema zu sprechen anzufangen. Nicht so direkt: Lass uns über Rassismus reden! Das kann ja schnell mal etwas plump wirken oder übel genommen werden. Aber wenn wir uns über die Person der Ruth in diesem Buch unterhalten, dann entsteht plötzlich eine ganz organische Diskussion über ein wirklich schwieriges Thema.
Sensibilisierung für Rassismus
Und wenn so ein Roman als Sprungbrett in diese Diskussion über Rassismus benutzt werden kann, dann bin ich natürlich als Autorin froh darüber, diese Chance ergriffen zu haben. Und als weiße Menschen gibt es viele Möglichkeiten, Schritte gegen Rassismus anzusetzen, einzusetzen. Zum Beispiel, indem wir uns den Unterschied klar machen zwischen gleich und gleichwertig, beziehungsweise fair. Das heißt, wenn ein Lehrer zum Beispiel einen blinden Schüler hat, wird er ihm nicht den gleichen Test geben wie einem sehenden, der gedruckt ist, sondern er wird ihm einen in Braille-Schrift geben, sodass er das dann besser lesen kann. Es kommt auch darauf an, wie sind die Leute aufgewachsen, in welcher Lebenssituation sind sie, was ist ihre Kultur und so weiter. Das sorgt dafür, dass jeder einen verschiedenen Weg geht, aber es geht darum, dass wir auf einem Level ankommen, wo alle die gleichen Chancen haben, mit denen sie arbeiten und lernen können.
In diesem Sinne gebe ich gerne den Menschen die Hausaufgabe, herauszufinden, wer Garrett Morgan ist. Das ist der Erfinder der Verkehrsampel, ein Schwarzer, was viele nicht wissen. Und so geht es natürlich vielen Schwarzen jeden Tag, dass sie denken, sie sind umgeben von Erfindungen, die ausschließlich von Weißen gemacht wurden, aber das ist natürlich nicht der Fall. Und was wir auch machen können als Weiße, ist, mit Menschen zu reden, die die gleiche Hautfarbe wie wir haben, zum Beispiel wie sie mit Rassismus umgehen, wo er sich verstecken kann, und Fragen stellen, die vielleicht nicht jeden Tag gestellt werden.
Wenn man zum Beispiel in einem Board Meeting ist, in einem Treffen in der Firma oder so was, und die Runde besteht wieder mal ausschließlich fast nur aus weißen Männern, dann guckt man sich um und sagt: Wie wäre es, wenn Jane da hinten, die einzige schwarze Frau, auch mal was sagen würde? Oder wenn man in sein eigenes Bücherregal schaut, dann guckt man: Lese ich eigentlich nur weiße Autoren oder wie sieht das aus? Und natürlich geht es nicht nur darum, dass man dann einen Reichtum der Literatur verpasst, den man noch nicht kennt, sondern dass man sich auch überlegt, vielleicht für jeden weißen Autor, den ich lese, auch mal ein Buch eines schwarzen Autoren zu lesen.
Trump macht "Teilung und Hass zur Normalität"
Scholl: Das sind schöne Ziele. Mit Ihrem Präsidenten, Mrs. Picoult, haben Sie aber einen Mann an der Spitze eines ganzen Landes, den man glaube ich ja schon als jemanden bezeichnen kann, der, glaube ich, Ihre kleinen Schritte nicht besonders begeistert nachvollzieht. Eher hat man ja das Gefühl, er gießt noch Öl ins Feuer, auch gerade wenn es um Rassenfragen geht. Im Netz kann man immer noch die flammende Rede hören und sehen, die Sie, Frau Picoult, auf dem Women’s March in Washington gehalten haben direkt nach der Amtseinführung. Sind Sie immer noch so sauer?
Picoult: Natürlich bin ich noch sauer und es ist mir peinlich, Amerikanerin zu sein, und ich entschuldige mich überall dafür. Aber was mich am wütendsten macht, ist, dass dieser Präsident dafür sorgt, dass Teilung und Hass zur Normalität geworden sind. Natürlich gibt es Dinge, über die man vielleicht nicht jeden Tag reden möchte und die gerne mal unter den Teppich gekehrt werden, aber mir ist es viel lieber, zusammenzuarbeiten, um diesen Hass zu vernichten oder zu verkleinern. Und was derzeit passiert, ist, dass überall im Land Hassgruppen entstehen, die sehr lautstark agieren, die aktiv sind, die sogar an Unis rekrutieren und so weiter. Das betrifft ja nicht nur die USA, auch in Polen sind ja gerade erst 60.000 Leute marschiert als weiße, nationalistische Demonstration.
Dieser Hass richtet sich ja gegen alles, was anders ist. Das können Afroamerikaner sein, das können Immigranten sein, das können Muslime sein, was auch immer. Alle können betroffen sein. Und wir kennen die Gefahren dieses Hasses ja aus der Geschichte, die sind uns ja bekannt. Und das ist, wie immer, ein Hass, der aus Angst entsteht, einer Angst vor etwas anderem, vor etwas Unterschiedlichem. Und ich denke, der beste Weg, diese Angst zu besiegen, ist, wenn man nicht mehr auf die Unterschiede blickt, sondern die Gemeinsamkeiten und die Ähnlichkeiten betrachtet.
Steven Spielbergs Firma verfilmt den Roman
Scholl: Wie man hört, wird "Kleine große Schritte" auch verfilmt, Mrs. Picoult, mit der grandiosen Viola Davis als Ruth und Julia Roberts vermutlich als die Anwältin, die als dritte Kraft in diesem Roman hinzutritt. Haben Sie damit etwas zu tun, sind Sie beteiligt? Da stellt sich natürlich die Frage, wer spielt wo Turk Bauer.
Picoult: Ja, das kann man nur hoffen. Und ich denke schon, dass Amblin Entertainment, also die Firma von Stephen Spielberg, das auch auf eine ganz gute Weise hinkriegen wird. Ich meine, mit diesem Cast ist das eigentlich keine Frage. Viola Davis, also … Ich hätte mir keine Bessere wünschen können für die Rolle, in der Tat finde ich sie perfekt und es haben auch schon vorher etliche Fans geschrieben, dass sie, wenn sie über Ruth lesen, Viola Davis in dieser Rolle sehen würden. Und dann kann ich nur antworten: Ja, Glück gehabt, genau sie wird sie spielen!
Natürlich ist es so, dass mehr Menschen Filme sehen als Bücher lesen und dass auch viele an Bücher herangeführt werden durch Filme. Und wichtig ist natürlich, dass man so ein Projekt würdevoll angeht und mit einer bestimmten Verantwortung, sodass es auch richtig dargestellt wird. Aber ich denke, das wird so laufen, und ich hoffe, viele werden diesen Film sehen und über das Thema nachdenken.
Die nächste Hillary Clinton?
Scholl: Wissen Sie, ich muss gestehen, Mrs. Picoult, dass ich gedacht habe, als ich Ihren Roman dann beendet hatte, dachte ich: So eine Frau, das müsste die nächste Hillary Clinton werden, so eine Frau sollte für die Präsidentschaft kandidieren! Ist wahrscheinlich ein absurder Gedanke, oder?
Picoult: Ich befürchte, das kommt meinem Veröffentlichungsplan in die Quere!
Scholl: Thank you, Jodi Picoult, schön, dass Sie bei uns waren!
Picoult: Thank you so much for having me!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Live-Übersetzung des Gesprächs leistete Marei Ahmia.