Afroamerikaner kritisieren "Black Lives Matter"
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Seit dem Mord an George Floyd demonstrieren tausende US-Amerikaner unterschiedlichster Herkunft unter dem Motto „Black Lives Matter“ gegen Rassismus. Einige afroamerikanische Intellektuelle stellen jedoch die Argumentation der Bewegung infrage.
John McWhorter ist sich bewusst, dass er ein Außenseiter ist in der derzeitigen Diskussion um Rassismus und Polizeigewalt. Der Linguistikprofessor an der Columbia University sagt, er habe das Gefühl, die ganze Welt verurteile den Mord an George Floyd als rein rassistische Tat. Das aber sei empirisch nicht nachweisbar.
Glenn Loury, Ökonomieprofessor an der Brown University stimmt zu: Auch wenn klar sei, dass die US-Polizei ein Problem mit Brutalität habe, müsse die Behauptung, sie habe es vor allem auf Schwarze abgesehen, hinterfragt werden. Doch, kritisieren beide, es sei im derzeitigen politischen Klima nicht einmal mehr erlaubt, diese Fragen zu stellen.
Akzeptierte Meinungen auf dem Prüfstand
Die beiden Professoren sind die prominentesten Stimmen einer kleinen Gruppe afroamerikanischer Gelehrter, die die "Black Lives Matter"-Bewegung kritisch hinterfragen. Loury und McWhorter haben einen gemeinsamen YouTube-Chat, in dem sie allgemein akzeptierte Meinungen provokativ auf den Prüfstand stellen.
Sie argumentieren gegen das Narrativ, Polizeigewalt sei rassistisch motiviert, mit Zahlen, die vor Kurzem von der "Washington Post" veröffentlicht wurden. Demnach haben Polizisten im vergangenen Jahr in den USA 1003 Menschen erschossen, die deutliche Mehrheit davon Weiße, nämlich 405. 250 Opfer waren Schwarz, 163 hispanisch, die übrigen anderer oder unbekannter Herkunft.
Das Video eines Weißen, der 2016 von Polizisten in Dallas auf ähnliche Weise wie George Floyd getötet wurde, kritisieren die Professoren, habe nicht annähernd die verdiente Aufmerksamkeit bekommen, weil es nicht ins Narrativ der Bewegung passe. Dass Schwarze verglichen mit ihrem Anteil an der Bevölkerung überdurchschnittlich häufig Opfer tödlicher Polizeigewalt sind, erklärt McWhorter mit anderen Ursachen, vor allem sozioökonomischen Bedingungen: 20 Prozent der Afroamerikaner leben in Armut, verglichen mit neun Prozent der Weißen in den USA.
Armut als Resultat von systemischem Rassismus
Diese Zahlen unabhängig von systemischem Rassismus in den USA zu diskutieren, halten die Gegner von Loury und McWhorter für unredlich. Armut unter Afroamerikanern sei wie höhere Kriminalitätsraten und geringere Bildung das Resultat jahrhundertelanger Ungerechtigkeit, sagt Xavier Ramey, Geschäftsführer von Justice Informed, einer Beratungsfirma für soziales Engagement:
"Die Geschichte von Desinvestition, also dem Abziehen von Mitteln aus Vierteln mit Schwarzer Bevölkerung, hat zu diesem Ergebnis geführt. Die US-Regierung und von ihr geschaffene Strukturen haben afroamerikanischen Besitz über Generationen hinweg zerstört, den Erwerb von Besitz erschwert und zu Streichungen von Investitionen in Schwarzen Gemeinden geführt."
Loury und McWhorter sprechen von Märtyrerkomplex
Die Kritiker der aktuellen Antirassismusbewegung sagen dagegen, dieses Argument mache allein die Vergangenheit für die gegenwärtige Lage verantwortlich. Afroamerikaner hätten es dagegen heute in der Hand, ihr Leben, ihre politische und wirtschaftliche Situation selbst zu bestimmen. Sie bezeichnen die Vorstellung, dass jeder Schwarze Mann mehrmals im Leben von Polizeigewalt betroffen sei, als eingebildete Bedrohung und sprechen von einem Märtyrerkomplex, der nicht das tatsächliche Leben der Mehrheit von Schwarzen in den USA widerspiegle.
Loury und McWhorter halten es für essenziell, dass ihre Meinung im aktuellen Diskurs vertreten ist. Sie sind Außenseiter in der "Black Lives Matter"-Diskussion, allein sind sie aber auch unter afroamerikanischen Kritikern nicht. Andere hinterfragen ebenfalls Motivation, Aufrichtigkeit und Argumentation von Demonstranten, Politikern, Unternehmern und Sportverbänden, deren Bewusstsein für Polizeigewalt und Rassismus in den USA scheinbar über Nacht geweckt wurde.
Die Fragen sind unbequem, aber es muss erlaubt sein, sie zu stellen.