"Sie misstrauen den Grundpfeilern der US-Demokratie"
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Der Einfluss von weißen Evangelikalen in den USA wächst. Auch durch Donald Trump, den sie in großer Zahl ins Amt gewählt haben. Sie machen etwa 25 Prozent der Bevölkerung aus und sind die Basis der Republikaner, so US-Historiker Neil Young.
Deutschlandfunk Kultur: "Christliche Kulturkrieger in den USA" – Das ist das Forschungsthema des US-Historikers Neil Young, der zum Aufstieg der religiösen Rechten auch ein Buch veröffentlicht hat: "We gather together". Außerdem ist Neil Young Host des Geschichtspodcasts "Past Present". Wie groß ist die Gruppe der Evangelikalen in den USA eigentlich und wie wichtig ihr politischer Einfluss einzuschätzen?
Young: Evangelikale machen schätzungsweise 25 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung aus. Sie gelten als größte religiöse Gruppe der USA. Und politisch sind sie seit etwa 40 Jahren die wohl wichtigste Basis der Republikaner. Damit ist ihr politischer Einfluss fast wichtiger als ihr Anteil an der Bevölkerung. Das zeigt, wie wichtig die politisch sind.
Deutschlandfunk Kultur: Wie ist die Gruppe organisiert und sind diese Organisationen alle auch politisch aktiv?
Young: In erster Linie sind Evangelikale ja religiös – sie sind also in Kirchen organisiert. Aber sie sind auch politisch aktiv: Seit etwa 40 Jahren gibt es eine Menge Organisationen, die in diese Richtung arbeiten. Historisch betrachtet, gab es etwa die "moral majority" in den 1980er-Jahren, dann die "christian coalition", eine wichtige Organisation der religiösen Rechten. Die gibt es nicht mehr. Aber es gibt noch "focus on the family" und allgemein konservative Organisationen, die eine evangelikale Klientel und deren Weltsicht bedienen. Religiöse Talk-Radios. Das alles dient dazu, evangelikale Politik zu organisieren. Auch Fox News gehört dazu. Das ist zwar kein explizit evangelikaler Sender, aber er teilt diese Weltsicht, und auch hier sind die Evangelikalen die wichtigste Zuschauergruppe. Und wichtige evangelikale Pastoren sind auch oft Gäste bei Fox News.
Deutschlandfunk Kultur: Wie würden Sie denn genau diese Weltsicht beschreiben, bzw. was ist denn das politische Ziel der religiösen Rechten?
Young: Es ist ganz wichtig zu betonen, dass wir hier von den weißen Evangelikalen sprechen. Nicht alle Evangelikalen in den USA sind konservativ. Wenn wir die Afroamerikaner und die Hispanics oder die asiatischen Evangelikalen betrachten, dann sieht das nämlich anders aus. Aber grundsätzlich war es so, dass die weißen Evangelikalen, als die in den frühen Achtzigern an die Macht kamen, "Charakter" zurück in die Politik bringen wollten. Leute mit traditionellen religiösen Werten. Die wollten, dass bestimmte Themen wieder gesetzt werden. Damals war das: das Schulgebet wieder einführen oder die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung aus den 1970ern zurückdrehen. Abreibung ist aber sicher das wichtigste politische Thema der letzten 40 Jahre. Das hat man auch bei der Wahl 2016 gesehen. Trump wurde angesehen als einer, der das Recht auf Abtreibung zurückdrehen würde. Das glaubten sie. Und da gehört auch das Versprechen dazu, konservative Richter zu nominieren. Und dann gab es auch ein Versprechen, weiße Evangelikale zurück an die Macht zu holen und ihre Themen zu berücksichtigen. Die hatten eben das Gefühl, dass das eine Weile nicht mehr das Fall gewesen war.
"Evangelikale waren enttäuscht von Reagan und George W. Bush"
Deutschlandfunk Kultur: In der amerikanischen Geschichte haben die Evangelikalen im 19. Jahrhundert stark an politischem Einfluss gewonnen – auch im Rahmen der Prohibitions-Bewegung, die dann Anfang des 20. Jahrhunderts ihre großen Erfolge hatte. Wie hat sich der politische Einfluss danach entwickelt?
Young: Die Meinungen unter Historikern in Bezug auf die Rolle der Evangelikalen im 20. Jahrhundert gehen auseinander. Es gibt die Meinung, dass die sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts von der Gesellschaft abgekehrt haben. Es gab diese Auseinandersetzung darum, ob die Darwinsche Wissenschaft an der Schule unterrichtet werden dürfe. Diese Auseinandersetzung haben die Evangelikalen kulturell verloren und die These ist, dass sie dann bis Ende der 70er-Jahre verschwunden sind, um mit Ronald Reagan dann wieder an Macht zu gewinnen. Andere Historiker – und zu denen zähle auch ich – sagen: Klar, die sind ab der Mitte des 20. Jahrhunderts aus der Öffentlichkeit verschwunden. Aber die haben angefangen sich anders zu organisieren. Haben zum Beispiel alternative Medienhäuser gegründet, über die sie letztendlich dann auch wieder zurückkehren konnten ins öffentliche Leben. Religiöse Radiosender haben in den 70ern mit dazu beigetragen, dass die Evangelikalen öffentlich wieder wahrgenommen wurden.
Deutschlandfunk Kultur: Aber die Strukturen wurden ja auch geschaffen, weil es eine große Enttäuschung der religiösen Rechten gab, was die Entwicklung der US-amerikanischen Politik anging.
Young: Erstmal war da ein Gefühl von Triumph mit dem Sieg Reagans in den frühen 80ern. Die Evangelikalen glaubten, er liefere politisch das, was ihre Themen sind: Abtreibungen verbieten, Schulgebete wieder einführen, Feminismus und Gay Rights zurückdrängen. Aber dann wurden die ziemlich enttäuscht, weil sie das Gefühl hatten, alles dreht sich nur um Steuerpolitik und nationale Sicherheit, und die sozialen Themen bleiben liegen. Das war eine große Enttäuschung in dieser Gruppe, die sich schon als wichtigste Basis der Republikaner, als Graswurzelbewegung der Partei wahrnimmt. Diese Enttäuschung sieht man auch in den Jahren George W. Bushs, obwohl der ja sogar einer von ihnen war. Aber auch da fühlten sie sich marginalisiert. Deswegen war Trump so attraktiv. Auch wenn er nicht so aussieht wie sie und nicht so redet wie sie. Sie glaubten seinen Versprechen, sie zurück an die Macht zu bringen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Das fanden sie attraktiv und so kam diese Hochzeit zustande.
Deutschlandfunk Kultur: Wie unterstützen die Evangelikalen diese Hochzeit denn moralisch? Donald Trump steht ja nicht gerade für die Werte dieser Gruppe.
Young: Das ist die größte Frage: Trump ist im Prinzip die Person, vor der weiße Evangelikale immer gewarnt haben. Ein Casinobesitzer mit einem sehr befleckten Lebenslauf, der ist das Gegenteil religiöser Fantasien. Da gab es auch interessante Untersuchungen zu den Wahlen, in denen es auch um den moralischen Charakter des Präsidenten ging. Die Frage war: Wie wichtig ist ein integrerer Charakter? 2012 war dieser Wert für weiße Evangelikale der wichtigste, da lag die Zustimmung bei etwa 80 Prozent. 2016 war es der unwichtigste Wert, da war die Zustimmung irgendwo in den 10er-Werten. Die Evangelikalen haben sich also weit entfernt von der Idee, der Charakter sei wichtig. Was man heute hört, ist "der ist keiner von uns – das ist nicht der Mensch, den wir als Pastor haben wollen, aber als Präsident brauchen wir einen Kämpfer". Da fragt man sich natürlich schon, was für eine Art Mensch die Evangelikalen in Zukunft bereit sind zu unterstützen.
"Wer Trump in Frage stellt, wird dämonisiert"
Deutschlandfunk Kultur: Verlieren die Evangelikalen so nicht gesellschaftlich an Glaubwürdigkeit? Sie haben ja schon die Afroamerikaner und die Hispanics unter den Evangelikalen erwähnt, sind das die Gruppen, die sich dagegen stellen? Es gibt ja auch eine kleine linke Gruppe unter den Evangelikalen.
Young: Es gab immer eine kleine Gruppe liberaler weißer Evangelikaler, die kritisch waren. Interessanter ist es aber, wenn man auf andere evangelikale Gruppen schaut. Die Afroamerikaner zum Beispiel waren immer den Demokraten nahe. Die Hispanics hingegen, die größte demografische Gruppe, sind interessant, weil die kulturell sehr konservativ sind. Aber der Rassismus von Trump, speziell wenn es um Migration geht, hat schon eine Menge dazu beigetragen, in dieser Gruppe Unterstützer zu verlieren. Die Hispanics liegen bei 50:50 in ihrer Unterstützung von Republikanern und Demokraten. Die Republikaner hätten viel mehr Zulauf, wenn jemand anders an der Macht wäre. Das ist interessant zu sehen, ob sich das noch mal dreht.
Deutschlandfunk Kultur: Es gab ja auch einige prominente Evangelikale, die Donald Trump öffentlich ihre Unterstützung entzogen haben? Hat das irgendeinen Effekt?
Young: Das ist interessant zu beobachten, weil es gab über die Jahre durchaus einen langsamen Rückzug von weißen Evangelikalen, die sich von Trump distanziert haben. Die rechtextremen Ausschreitungen in Charlottesville und Trumps Reaktionen darauf waren ein Drehpunkt. Auch, was die Nachforschungen von Robert Mueller zu Tage förderten, war ein Weckruf. Und die ewigen Tweets werden als Angriff auf den amerikanischen Anstand empfunden. Zumindest eine kleine Gruppe weißer Evangelikaler empfindet das als unangebracht. Die Antwort der Mehrheit der Evangelikalen auf diese Kritik ist dann aber: Diese Leute hätten wohl den Glauben verloren. Die Frage ist nur, von welchem Glauben da die Rede ist? Dem religiösen oder dem politischen? Aber da schließt man eben die Reihen und dämonisiert die, die Trump in Frage stellen.
Deutschlandfunk Kultur: Wie wird denn von den Evangelikalen die Coronakrise und Trumps Umgang damit betrachtet? Da hat er doch auch ein paar moralisch sehr fragwürdige Aussagen getroffen. Und auch das religiöse Leben leidet ja doch auch sehr stark unter dieser Krise – wie ist da die Meinung?
Young: Eines der interessantesten Erhebungsergebnisse war zuletzt, dass weiße Evangelikale Trump mehr vertrauen als den Centers for Disease Control. Das zeigt das große Misstrauen dieser Gruppe gegenüber Institutionen und Autoritäten in den USA. Da gibt es ein Auseinanderdriften von dem, was die Wissenschaft sagt, und dem, was Trump behauptet. Was auch aus konservativen Kreisen kam, war, dass die Wirtschaft wichtiger sei als Menschenleben, dass man eventuell die Großeltern opfern müsse. Das kam von einigen Gouverneuren, aber auch von religiösen Persönlichkeiten. Das ist natürlich erschütternd, das aus diesen Kreisen zu hören, die den Schutz menschlichen Lebens sonst immer vorn anstellen, wenn es z.B. um Abtreibung geht. Aber es zeigt, wie sehr sich die Pole verschoben haben, um jemanden wie Trump zu stützen, und wie viele religiöse Konservative mittlerweile den Grundpfeilern der amerikanischen Demokratie misstrauen. Und dazu gehören auch die Medien und die wissenschaftliche Expertise, die einst so wichtig waren für die Entwicklung dieses Landes. Das lässt nichts Gutes ahnen für die Zukunft und für die Art, wie dieses Land mit dem Coronavirus umgehen wird.