Jäger der aussterbenden Sprachen
Daniel Kaufman ist Linguist in New York City und forscht seit vielen Jahren zu bedrohten Sprachen. In seinem Archiv finden sich viele Mundarten, die mittlerweile als ausgestorben gelten. Und wahrscheinlich kein Ort dieser Welt eignet sich besser für seine Forschungen als ausgerechnet New York.
Wen die Sprache der 102-jährige Grizelda Kristina an einen Dialekt aus dem Mittelalter erinnert, liegt ganz richtig. In einem Interview berichtete die alte Dame 2011 über ihre Schulzeit in Livland, einer historischen Landschaft im Baltikum, wo heute Estland und Lettland liegen. Mittlerweile ist Grizelda Kristina tot und auch ihre Sprache Livisch gilt seit 2013 als ausgestorben. Die seltene Aufnahme stammt vom New Yorker Linguisten Daniel Kaufman.
"Ich war der letzte, der ein Gespräch mit dieser Frau aufgenommen hat, gemeinsam mit einer lettisch-kanadischen Filmemacherin. Livisch ist eine Sprache, die lange von der finnischen Minderheit in Lettland beherrscht wurde. Diese Frau starb aber nicht dort, sondern in Toronto."
Von 6000 Sprachen auf der Welt ist jede zweite vom Aussterben bedroht. Daniel Kaufman kämpft gegen das Vergessen. Der 40-jährige Professor sitzt hinter dem mit Akten und Papieren überladenen Schreibtisch seines Büros am Queens College. Seit sechs Jahren spürt er gefährdete Sprachen aus aller Welt auf. Nicht in abgelegenen Dörfern im Baltikum, in Afrika oder Südamerika, sondern in den multikulturellen Metropolen der USA und Kanadas. Alleine in New York werden 800 Sprachen gezählt. Die Dichte dürfte wohl nirgends höher sein.
Keine dominierende Kultur
"Ich bin in New York aufgewachsen und war immer von Mehrsprachigkeit umgeben. Zu Hause sprach ich mit meinen Eltern Hebräisch und Englisch. Meine Mitschüler wurden mit ganz anderen Sprachen groß. Das war immer etwas, was ich mit New York verbunden habe: Es gibt keine dominierende Sprache oder Kultur. Das unterscheidet New York auch von anderen multikulturellen Metropolen."
Kaufmann wächst in Greenwich Village auf, damals eher das multi-kulturelle Viertel in Manhattan mit vielen Cafés, Bars, Restaurants und experimentellen Theatern. Seine Leidenschaft für Sprachen und Kulturen macht er nach der Schule zum Beruf: Er studiert Linguistik, promoviert über südostasiatische Sprachen. Er reist für seine Recherchen bis nach Indonesien und auf die Philippinen.
"Nachdem ich meine Doktorarbeit abgeschlossen hatte, bin ich nach New York zurückgekehrt. Da ist mir aufgefallen, dass hier eine große Zahl indigener Mexikaner lebte. Sie waren schwer zu finden, aber sie waren da. In Mexiko gibt es hunderte Sprachen, viele sind vom Aussterben bedroht."
2010 gründet Kaufman die Endangered Language Alliance, die Gesellschaft für gefährdete Sprachen. Er will die Menschen in ihrer Muttersprache erzählen lassen, ihre Lieder und Geschichten aufnehmen und übersetzen. Wie aber findet er die Sprecher seltener Dialekte? Kaufmans alte Nachbarschaft Greenwich Village gehört mittlerweile zu den teuersten Gegenden New Yorks. Kulturelle Minderheiten wurden an den Stadtrand gedrängt – zum Beispiel nach Jackson Heights im Bezirk Queens.
"Wir haben Freiwillige die Roosevelt Avenue in Jackson Heights runtergeschickt. Sie sollten Leute auf der Straße ansprechen und fragen, woher sie stammen, welche Sprachen sie sprechen. So haben wir Teilnehmer für unsere Projekte gefunden."
Raum für das Lernen der Muttersprache bieten
Die Roosevelt Avenue ist der kulturelle Schmelztiegel von Jackson Heights. Unter der Hochbahn, von der rostfarbener Lack abblättert, reihen sich mexikanische Fast-Food-Läden und chinesische Nagelstudios, malaysische Halal-Fleischer und philippinische Reisebüros dicht aneinander.
Gesprochen wird auf der Roosevelt Avenue mehr Spanisch als Englisch, aber auch ein Gemisch aus asiatischen Dialekten.
Nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten befürchtet Daniel Kaufman, dass in den USA die Sprachenvielfalt abnimmt. Nach Trumps aggressivem Wahlkampf gegen Minderheiten im Land wie Moslems oder Hispanics könnten viele Einwohner versuchen, ihre Herkunft zu verbergen. Um das Sprachensterben aufzuhalten, müsste das Gegenteil geschehen. Kinder brauchen Raum, um in ihrer Muttersprache zu lernen, sagt Kaufman.
"Das erfordert einen Umbau des Schulsystems in den Communitys. Kinder aus kulturellen Minderheiten brauchen eigene Schulen und eine besondere Förderung. Das passiert auch schon, zum Beispiel bei den indigenen Einwohnern auf Hawaii oder bei den Mauri in Neuseeland. Diese Modelle taugen aber nur in den Herkunftsländern. Dort muss die Arbeit gemacht werden. In New York versuchen wir zwar, gefährdete Sprachen in Kursen zu unterrichten. Aber lässt sich so eine Sprache schützen? Nein. Das glaube ich nicht."