US-Neurosen in Breitwandformat

Von Christian Gampert · 31.10.2008
Der amerikanische Schauspieler und Dramatiker Tracy Letts, Mitglied der Chicagoer "Steppenwolf Theatre Company", gilt als jemand, der keinen Tabubruch auslässt. Gleichwohl - oder gerade deshalb? - sind seine an Tennessee Williams geschulten Stücke auch kommerziell erfolgreich. Sein Stück "August: Osage County" gibt es am am Nationaltheater Mannheim unter dem Titel "Eine Familie".
Die Schockwirkung, die die Stücke eines Tennessee Williams, Arthur Miller oder Edward Albee in den 1940er- bis 60er-Jahren in Amerika hatten, ist nicht mehr so leicht zu erreichen: Familiendramen und Ehetragödien gehören heute zum Standardrepertoire jeder Fernsehserie.

Tracy Letts ist an all den genannten Autoren geschult, vielleicht sogar zu sehr geschult - sein monströses Stück baut wie aus einem Modellbaukasten Versatzstücke des amerikanischen Psychorealismus zu einem großen, drei Generationen umfassenden Gemälde zusammen.

Der resignierte frühere Dichter und Hochschulprofessor Beverley Weston und seine Frau Violet halten es nur mit viel Drogen miteinander aus: Er ist dem Alkohol verfallen, sie ist tablettensüchtig und hat Mundhöhlenkrebs - ein Hinweis darauf, dass in Letts Stück zwar viel geredet wird, die Sprache als Verständigungsmittel aber längst abgedankt hat.

Der lebensmüde Beverley verschwindet spurlos; einige Tage später wird er als Wasserleiche aufgefunden. Die drei Töchter mitsamt Familien versammeln sich im Elternhaus; im bewährten Ritual der - bisweilen ins Komische kippenden - Trauerfeier werden die Traumata der Familie durchgenommen.

Regisseur Burkhard C. Kosminski hat sich auf das ausladende Epos aus dem amerikanischen Mittelwesten - die Provinz der Provinz! - liebevoll und detailgenau eingelassen; fast vier Stunden dauert die Aufführung und hat damit Schiwago-Format - aber er muss bei einer "Deutschsprachigen Erstaufführung" eben auch den ganzen Text spielen.

Und der Bühnenbildner Florian Etti baut für die Familienneurosen einen Mittelstands-Bungalow fast in Originalgröße: eine riesige Wohnfläche mit mehreren Schlafzimmern, Bücherregal, Küche, Fernsehecke, Terrasse. Das führt dazu, dass auch der Zuschauer sich in diesen Wohnräumen bald heimisch fühlt: Man kann sich in diesem Stück einrichten wie in einem Visconti-Film, einem Breitwandformat, und sich an den zahlreichen psychologischen Farbwirkungen ergötzen, die die Aufführung aus dem Text herausfiltert.

Auf einer zweiten Ebene wird hier natürlich der politische Zustand des gegenwärtigen Amerika thematisiert: führungslos, vaterlos taumelt es durch die Zeiten, die Aufbaugeneration hat abgedankt, die Generation der Töchter ist ohne Orientierung und hat nur verpfuschte Beziehungen zu bieten.

Barbara, die Älteste, wird gerade von ihrem Mann verlassen, der mit einer Studentin schläft. Blaustrumpf Ivy hat eine heimliche Liebschaft mit ihrem schüchternen Cousin, der in Wahrheit ihr Bruder ist, sie weiß es nur nicht. Karen, die Jüngste, hat sich einen dubiosen Lover geangelt, der nächtens Barbaras Tochter zu verführen sucht, einen (in Mannheim) ziemlich babyhaften Teenager.

Einziger Fixpunkt - in der Dramaturgie des Autors - ist eine bescheidene Indianerin, die Vater Beverley, noch vor seinem Selbstmord, als Haushaltshilfe engagiert hat: Sie kocht das Essen, säubert die Wohnung und ist am Ende mütterlicher Ruhepol für die terroristische, geldgeile Familien-Patriarchin Violet, die - nach Durcharbeitung aller Familiengeheimnisse - zusammenbricht: nicht mehr Big Daddy, sondern Big Mummy steht im Zentrum.

Letts setzt seine Hoffnung auf die indianischen Ureinwohner, die die zivilisationsgeschädigten Amerikaner auf den rechten Weg zurückbringen könnten. Die Mannheimer Inszenierung allerdings malt die Dekadenz dieser gescheiterten US-Provinzsippe unterhaltsam aus; Regisseur Kosminski nimmt den sexuellen Verwicklungen damit aber auch viel von ihrem Schrecken: Was fies und makaber sein könnte, ist bei ihm oft nur oberflächenkomisch.

Aber: Von "Endstation Sehnsucht" bis zur "Katze auf dem heißen Blechdach", von "Wer hat Angst vor Virginia Woolfe" bis "Eines langen Tages Reise in die Nacht" schimmern die Dramaturgien des gescheiterten amerikanischen Traums durch diese Inszenierung, die sich am Ende zu großem Schauspielertheater aufschwingt.

Ein Frauenstück: schwarze Weiber, aus der griechischen Tragödie in die US-Konsumgesellschaft verpflanzt. Besonders Irene Kugler als älteste Tochter bietet eine beeindruckende Studie verlebter, aggressiv trauernder Liebessehnsucht. Ragna Pitoll macht aus der intellektuellen Ivy eine notorisch Zukurzgekommene, und Gabriela Badura baut die Familienmutter Violet am Ende zur bösen Hexe auf.