Michael Sandel: Moral und Politik
Ullstein Verlag, Berlin 2015
351 Seiten, 22,00 Euro
Leben in der Marktlogik
Sei es die Fortpflanzung, die Erziehung oder der Sport: Die Gesetze des Marktes formen immer mehr Bereiche unseres Lebens, warnt der Harvard-Philosoph Michael Sandel in seiner Essaysammlung über "Moral und Politik".
Wir "brauchen eine öffentliche Debatte über die Frage, wo Märkte dem Gemeinwohl dienen und wo sie nicht hingehören" - auf diesen kompakten Nenner bringt Michael Sandel sein Lebensthema: Gerechtigkeit. Verteilungsgerechtigkeit, so klingt es durch, ist nicht nur eine Frage des Einkommens und des materiellen Vermögens (mit ihren obszönen Ungleichverteilungen weltweit); es geht auch um das Vermögen der Teilhabe am Gemeinwohl und natürlich um die Teilhabe des Vermögens am common-wealth.
Das Gemeinwohl, das schon bei Hobbes als Sinn und Zweck des Gesellschaftsvertrags auftaucht, ist Sandels Leitmotiv in allen seinen Schriften.
Ausgangspunkt auch dieser Essaysammlung ist seine Verwunderung, dass Marktwert und Marktdenken zunehmend in Lebensbereiche vordringen, die zuvor von Normen beherrscht wurden, die nicht der Marktlogik folgen. Fortpflanzung und Kinderbetreuung, Gesundheit und Erziehung, Sport und Freizeit, Strafjustiz, Umweltschutz, Militärdienst, Wahlkämpfe, öffentliche Bereiche und Gemeindeleben". Das ist nicht die übliche Klage über die durchökonomisierte Gesellschaft, sondern zeigt Sandels Sorge um die Effizienz dieser Bereiche als Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft, in der das Profitpotenzial ihren Inhalt und Vollzug bestimmt.
Die Wertvorstellungen einer Gesellschaft thematisieren
Der Staat sei offiziell zur Neutralität gegenüber jeglichen Lebensformen verpflichtet, die die Rechte Anderer nicht antasten, heißt es gewöhnlich. Doch soll der Staat sich wirklich aus der Wertediskussion heraushalten - und kann er das überhaupt, wenn diese Werte eben seine eigenen Grundlagen definieren? Sandel glaubt das nicht: "Der Vorrang des Rechten vor dem Guten", also der Rückzug des Staates auf die Prozeduren des geltenden Rechts, zementiert den jeweiligen Status quo.
Die Wertvorstellungen einer Gesellschaft nicht zu thematisieren, ist also im Interesse jener, die gerade vom herrschenden Rechtssystem profitieren. Der Neoliberalismus zum Beispiel halte deshalb "daran fest, unsere umfassenden moralischen und religiösen Ideale für politische Zwecke auszuklammern und unsere politische Identität von unserer privaten zu trennen".
Wenn man also will, dass Marktgesetze immer mehr Lebensbereiche formen - auch eine Kanzlerin wünschte sich buchstäblich eine "marktkonforme Demokratie" - dann sind wir auf dem Weg zum Idealzustand des Neoliberalismus.
"Der zentrale Gedanke der Philosophie des Öffentlichen [hingegen] ... besteht in der Fähigkeit, unsere Ziele selbst zu wählen."
Nur hinge diese Fähigkeit auch vom Wissen der Bürger über all die realen Optionen ab. Der Staat aber solle sich hüten, "bei der moralischen Ausstattung seiner Bürger [z.B. in Bildungsprojekten] mit[zu]reden", hört man von Neoliberalen normalerweise. Dies sei ein illegitimer Eingriff in die selbstständigen Entscheidungen angeblich mündiger Bürger: Diese sollen zwar Wahlfreiheit haben, aber möglichst ohne Alternativen zum Status quo. "Gibt man [aber] das Streben nach staatsbürgerlicher Bildung auf, dann verabschiedet man das Projekt der Freiheit", schließt Sandel bündig.