Der Präsident als lame duck
Seit der letzten "State of the Union"-Rede hat Präsident Obama wenig erreicht: Er ist in der Defensive, im November sind Kongresswahlen, und seine "State of the Union"-Rede in der kommenden Nacht ist wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, in diesem Jahr politische Akzente zu setzen.
Seit Wochen schon bereitet die PR-Maschine des Weißen Hauses die Öffentlichkeit auf die "State of the Union"-Botschaft des Präsidenten vor. Die wachsende Einkommensungleichheit und bessere wirtschaftliche Chancen für die Mittelschicht sollen im Zentrum der Rede stehen, so der Obama-Berater Dan Pfeiffer:
"Der Präsident wird einige Schritte erläutern, wie wir die wirtschaftlichen Chancen für die Amerikaner verbessern können. Die Erhöhung des Mindestlohns würde Millionen Amerikaner aus der Armut herausbringen. Bessere Aus- und Fortbildungsmaßnahmen – das sind alles Dinge, die in der Vergangenheit mit überparteilichen Mehrheiten verabschiedet wurden."
Doch wenn das vergangene Jahr eines gezeigt hat, dann ist es, dass der Präsident sich nicht auf überparteiliche Mehrheiten verlassen kann. Alle Projekte, die er in seiner letzten Rede zur Lage der Nation angekündigt hat, sind an der Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus gescheitert. Bessere Waffenkontrolle, Verlängerung des Arbeitslosengeldes und des Lebensmittelmarkenprogramms, Einwanderungsreform, Erhöhung des Mindestlohns – alles Fehlanzeige.
Die Demokraten versprechen sich besonders vom Kampf um einen höheren Mindestlohn Wählerstimmen bei den Zwischenwahlen im November. Das Problem betrifft mittlerweile Millionen von Arbeitnehmern, wie zum Beispiel Eduardo Shoy, der in einem Fast-Food-Restaurant in New York arbeitet.
"Wie soll man von 7,25 Dollar pro Stunde leben? Davon kann man noch nicht einmal die Miete bezahlen. Wenn man eine Familie hat, zwei Kinder, eine Frau, das geht einfach nicht. Man kann ja nicht unter einer Brücke wohnen."
Der 58-jährige Eduardo Shoy hat einen zweiten Job als Gabelstaplerfahrer, damit das Familieneinkommen reicht.
Frühkindliche Bildung entscheidet über Aufstiegschancen
Der Harvard-Professor Raj Chetty hat vor kurzem eine Studie über Einkommensungleichheit und soziale Aufstiegschancen veröffentlicht. Die gute Nachricht sei, dass sich entgegen der öffentlichen Wahrnehmung die Aufstiegschancen in den letzten Jahrzehnten trotz Globalisierung und Rationalisierung nicht verschlechtert hätten. Die schlechte Nachricht sei, dass die USA schlechter abschnitten als alle anderen westlichen Industriegesellschaften. Dem könne man abhelfen, so Raj Chetty:
"Die Schlüsselrolle dabei spielt die Schulausbildung, und zwar von einem relativ frühen Alter an. Guter Unterricht schon in der Grundschule erhöht die langfristigen Chancen der Kinder auf sozialen Aufstieg. Die Unterschiede entstehen in einem relativ jungen Alter, wenn die Jugendlichen 18 sind, dann sind diese Unterschiede schon voll ausgeprägt."
Präsident Obama hatte deshalb bereits vor einem Jahr eine flächendeckende Vorschulerziehung vorgeschlagen – auch dies eines seiner im Kongress versandeten Projekte.
Für Obama ist die "State of the Union"-Rede eine der wenigen, wenn nicht die einzige Gelegenheit in diesem Jahr, noch einmal die ungeteilte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu bekommen. Er kann zwar hier und dort mit präsidentiellen Direktiven, sogenannten Executive Orders, Akzente setzen. Doch für kraftvolle Vorhaben braucht er parlamentarische Mehrheiten. Doch die wird er vor den Zwischenwahlen im November kaum zusammenbekommen. Obamas Problem ist auch: Große Versprechen ohne anschließende Taten lassen den Präsidenten in der Öffentlichkeit immer mehr als macht- und kraftlos erscheinen.