Nazikunst in einem US-Militärdepot

"Signatur: A. Hitler"

29:42 Minuten
Eine Frau in einem weißen Kittel steht in einer großen Halle, wo Kunstwerke stehen.
Die Kuratorin Sarah Forgey im Bunker auf dem Militärgelände Fort Belvoir, wo seit Ende des Zweiten Weltkrieges Nazi-Kunst lagert. © Carl G. Friedric
Von Susanna Petrin |
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In einem Bunker bei Washington lagern propagandistische Kunstwerke aus der Nazizeit. Die German War Art Collection wird seit Ende des Zweiten Weltkriegs dort aufbewahrt. Über die Herkunft der Gemälde und eine mögliche Rückgabe wird zunehmend debattiert.
40 Autominuten von Washington entfernt lagert eine skurrile Kunstsammlung, die die US-Streitkräfte 1945 sichergestellt hatten: die "German War Art Collection".
Sie riskierten ihr Leben, um Kunst zu retten: Die Monuments Men sind die Kulturhelden des Zweiten Weltkriegs: Eine Truppe uniformierter Kunstkenner aus den USA, die gegen Kriegsende Nazi-Raubkunst in Deutschland aufspürten, um sie ihren rechtmäßigen Besitzern in ganz Europa zurückzugeben – Museen, Kirchen und privaten, oft jüdischen, Sammlern. Sie behielten nichts für sich selbst.
George Clooney ließ die Monuments Men 2014 im gleichnamigen Film noch einmal aufleben. Ein typisches Hollywood-Epos, pathetisch wie seine Filmmusik, das die Kunstschutzsoldaten als selbstlose Helden feiert. Ihnen hat der Film ein Denkmal gesetzt. Die Amerikaner erinnern gerne an sie.
In Vergessenheit geraten ist dagegen ein anderer amerikanischer Kunstsuchtrupp, der fast zur selben Zeit an fast denselben Orten unterwegs war. Auch diese kärglich bewaffneten Kunsthistoriker suchten landesweit unter Lebensgefahr von den Nazis versteckte Kunst, doch eine ganz anders geartete: Nazi-Propagandakunst deutscher Künstler.

Kunst als Propaganda

Die Nazis nutzten Kunst zu Propagandazwecken. Bei der Eröffnung der zweiten deutschen Kunstausstellung in München sagte Hitler:
„Das Wichtigste aber ist die Tatsache, dass wir auch wie auf allen Gebieten unseres nationalen Lebens wieder einen soliden Boden bekommen haben. ... Das kulturelle Schaffen eines Volkes kann aber nur das Spiegelbild seiner inneren Werte sein. So wie diese Jahrhunderte benötigen, um sich zu entwickeln, folgt auch die Kultur gleichen Schrittes nach.
Diese herbeizuführen, ist aber nicht die Aufgabe des Stümpers, sondern das Vorrecht jener Gottbegnadeten, denen es gegeben ist, aus dem tiefsten Inneren dieses Volkes zu schöpfen und das Unausgesprochene oder das von der Umwelt bewusst nicht Gesehene zu erfühlen oder gar zu erkennen und es allgemein durch ihre Kunst sichtbar und verständlich zu machen.“
Die Alliierten erachteten deshalb sämtliche den Nationalsozialismus oder den Krieg verherrlichende Werke als gefährlich; es galt, sie zu beschlagnahmen, mitzunehmen und wegzusperren – moralisch sanktionierte Raubkunst. Der Anführer dieses Suchteams hieß Captain Gordon Waverly Gilkey.
„Captain Gilkey war mit dieser seltsamen, kleinen Mission beauftragt worden. Er war ein Reservist aus Oregon, hatte einen Kunsthintergrund und bekam die besondere Aufgabe, deutsche Kriegskunst aufzuspüren. Ihm wurde gesagt: Wir wissen, dass die Deutschen das haben, wahrscheinlich gibt`s mehr davon, als wir glauben. Also machte er sich auf eine Schatzjagd in Sherlock-Holmes-Manier, um das Zeug zu finden und zu inventarisieren. Er folgte all diesen Spuren, suchte unter Dielen und in kaputten Zügen.“
Als Detektiv auf Schatzjagd, so romantisch beschreibt Sarah Forgey Kapitän Gilkey. Sarah Forgey ist die Kuratorin der staatlichen amerikanischen Militärkunst-Sammlungen. Darin enthalten ist bis heute die „German War Art Collection“, jene Werke also, die Gordon Gilkey einst konfisziert hat.

Erste Rückgabe von Objekten in den 50ern

Gilkey betrieb seine Mission mit großem Eifer: Innerhalb von sechs Monaten rafften er und seine Leute 8722 Objekte in Deutschland zusammen – Gemälde, Zeichnungen, Skizzen und Statuen. 1947 wurden sie alle in die USA verschifft und gelangten in den Besitz der US-Armee. Das war schon damals etwas zu viel des Gsuten, wie auch Kuratorin Sarah Forgey einräumt.

Die Sammlung ist zum ersten Mal in den frühen 50er-Jahren überprüft worden. Der damit beauftragte Ausschuss identifizierte 1600 Werke, die nicht militärisch oder propagandistisch waren. Sie kamen zu dem Schluss, dass diese versehentlich konfisziert worden waren, versehentlich in die Staaten transferiert worden waren. Diese Werke wurden in den frühen 50ern zurück nach Deutschland geschickt.

Kuratorin Sarah Forgey

1986 haben die USA weitere 6255 Werke der Bundesrepublik Deutschland zurückgegeben. Die meisten davon lagern heute im Depot des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Der Restbestand, gemäß den USA eine kleine Kollektion zu Studienzwecken sowie der toxische Kern der Sammlung, ist bis heute im Besitz der USA – seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Diese Naziwerke lagern in einer Art Bunker auf dem Militärgelände Fort Belvoir, rund 40 Autominuten von Washington entfernt. Von der Welt vergessen. Fast.

Zu Besuch im Bunker

Ankunft im US-Armee-Zentrum für Militärgeschichte. Nach einigen bürokratischen Hürden, sogenannten Sicherheitsprüfungen, dürfen der Fotograf und ich diesen Ort betreten. Wie wir annehmen, als die ersten Journalisten aus dem deutschsprachigen Raum. Unsere Schritte hallen auf harten Steinböden, durch Metallstäbe an den Decken dringt Neonlicht. Ein langer, kahler Gang führt in ein klimakontrolliertes Kellermagazin.
Die meisten Kunstwerke hängen an ausziehbaren Metallgittern, Reihe an Reihe. Gleichsam wie Insassen in einem Gefängnis. In diesem sterilen Raum befindet sich also der finstere Kern der „German War Art Collection“ – der deutschen Kriegskunstsammlung: Die letzten, knapp 600 der einst rund 9000 Werke umfassenden US-Kollektion. Sie sind umgeben von zigtausend amerikanischen Kriegskunstwerken. Die German War Art Collection ist hier die einzige konfiszierte Kriegsware aus einem anderen Land. 
Gemälde hängen am Gittern in einem Militärbunker.
Weggeschlossen vor der Öffentlichkeit: Seit Jahrzehnten werden die Nazi-Gemälde in diesem Militärbunker in der Nähe von Washington aufbewahrt. © Carl G. Friedrich
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1940 nach dem deutschen Sieg über Frankreich in München:
In dieser weltgeschichtlichen Situation soll nun die große deutsche Kunstausstellung in München eröffnet werden. Wie passt Beides zusammen? Es geht jetzt um unser nationales Schicksal. … Unsere Soldaten haben in einem einmaligen Siegeszug die Feinde des Reiches niedergeworfen. … Das deutsche Volk ist in seiner Gesamtheit eine kämpfende Nation. Der totale Krieg ist Wirklichkeit. … Das Leben unseres Volkes ist ganz dem einzigen Gedanken des Krieges untergeordnet.
Was soll nun da, so könnte man fragen, die Eröffnung einer Kunstausstellung? Die Kunst, so meint man, ist lediglich eine Verschönerung des Lebens, nicht aber eine Lebensnotwendigkeit. … Wir Nationalsozialisten vertreten demgegenüber einen anderen Standpunkt. Der Nationalsozialismus als Idee und Weltanschauung erfasst das Leben unseres Volkes in seiner Gesamtheit. … So haben wir Nationalsozialisten auch die Kunst seit je in den Dienst unseres Volkes gestellt.“

Ein grausiges Ensemble von Nazi-Kunst

Die Kuratorin Sarah Forgey hat unseren Besuch vorbereitet. Sie hat einige Stücke hervorgeholt und zu einem grausigen Ensemble gruppiert: Hitler als teutonischer Ritter, Hitler als charismatischer Redner, Hitler als schwere, schwarze Büste. Hakenkreuze und heroische Gesten. Diese besonders augenfällig nationalsozialistischen Werke sollen uns auf einen Blick klarmachen, warum das amerikanische Militär diese deutsche Kunst seit rund 75 Jahren verwahrt. Sarah Forgey zeigt auf die Gemälde:
„Ich wollte Ihnen einige Stücke zeigen, die offenkundig propagandistisch sind, sodass Sie eine Vorstellung vom Propagandateil unserer Sammlung bekommen. Ich würde sagen, diese zwei sind vermutlich die beiden überdeutlichsten Propagandawerke. Dieses da heißt: ´Am Anfang war das Wort`, die ersten Worte aus dem Johannesevangelium. Auf dem anderem wird er mit einem germanischen Ritter verglichen. Also in dem da ist er Johannes der Täufer, der heilige Worte predigt. Es ist ein ganz schön gruseliges Werk.
Hitler als Heilsbringer in einem biblischen Sinn. Für die Amerikaner war nach 1945 klar: Solche Propagandakunst musste unter Verschluss.

Die Kategorien waren: Offene Propaganda, Porträts der Anführer, alles mit einer Swastika, alles, was aggressiven Militarismus zeigt oder den Nationalsozialismus glorifiziert – die Kollektion wurde auf diese Aspekte hin überprüft.

Sarah Forgey

Auf einem Metallgestell liegen vier Aquarelle. Gefällige, brave Bilder; detailgetreu, aber ohne jegliche Originalität. Sie könnten in einer dieser biederen Galerien amerikanischer Kleinstädte feilgeboten werden. Diese Aquarelle gehörten mit zu den langweiligsten Kunstwerken der Welt, wäre da nicht die Signatur des Malers: A. Hitler. Je länger man sie anschaut, desto unheimlicher würden sie einem, sagt Sarah Forgey:
„Die Hitler-Aquarelle sind sehr unheimlich. Je länger man sie anschaut, desto mehr kommen sie einem rüber als etwas, das ein Soziopath geschaffen hat. Es gibt kein Leben in diesen Bildern. Ich hätte gern, dass jemand, der zum Beispiel FBI-Profile erstellt, sich die mal mit verdeckter Unterschrift anschaut, ohne zu wissen, von wem die sind, und mir sagt: Was können Sie mir über die Person, die das gemalt hat, sagen?“

Hitler, der untalentierte Maler

Hitler konnte keine Menschen zeichnen. Das war angeblich der Hauptgrund, weshalb ihn die Wiener Kunstakademie abgelehnt hat, zwei Mal. Jeder, der diese Aquarelle zum ersten Mal sieht, sagt reflexartig dasselbe: Hätte Hitler doch nur etwas mehr Talent als Maler gehabt!
„Es stimmt einen nachdenklich, nicht wahr? Wie wäre die Geschichte anders verlaufen, wenn Hitler in die Kunstakademie aufgenommen worden wäre. Er hat sich zwei Mal dafür beworben. Oder wenn jemand, der mit ihm das Bewerbungsgespräch führte, gesagt hätte: Er ist nicht allzu gut, aber wir sollten ihn lieber trotzdem akzeptieren. Wer weiß, was er sonst tun wird.“
Hitlers Aquarelle sind viele Jahre vor dem Krieg entstanden und kamen nicht via Gordon Gilkeys Suchtrupp in die USA, sondern über die Sammlung von Hitlers Hoffotografen, Heinrich Hoffmann.

Der größte Teil der US-Sammlung besteht jedoch aus den vielen Hundert von Gilkey konfiszierten Bildern. Als rechtliche Grundlage, diese zu verwahren, dient den USA bis heute das Potsdamer Abkommen von 1945. Darin einigten sich die Siegermächte darauf, das Land zu entnazifizieren, also auch von sämtlichen Propagandaobjekten zu befreien.
Seither sind 77 Jahre vergangen. Im Netz gibt es weit schlimmeres Material für faschistoide Gruppen. Derweil Deutschland heute ein stabiles, demokratisches Land ist. Ich wollte bei dem Besuch in diesem Bunker, in diesem Gruselkabinett der Nazi-Propagandakunst, von Sarah Forgey wissen: Halten die USA diese Werke bis heute für gefährlich? Zu gefährlich, um sie Deutschland zurückzugeben?
„Die Sammlung ist seit den frühen 80er-Jahren nicht mehr überprüft worden. Aber ja, es wurde entschieden, dass die Welt noch nicht weit genug fortgeschritten sei und dass diese Werke weiterhin behalten werden müssen.“

Kunsthistoriker kritisiert Umgang mit NS-Kunst

Der US-amerikanische Kunsthistoriker und Universitäts-Professor Gregory Maertz hält diese Ängste für unglaubwürdig, ja lächerlich:
„Ihre Befürchtung, dass diese Werke die Nationalsozialistische Partei wieder aufleben lassen könnten, ist natürlich lächerlich. Deutschland, vor allem die 15 Jahre unter Merkel, war eine Art Anführer der freien Welt. Und der Löwenanteil dieser Werke ist ohnehin schon in Deutschland, im Deutschen Historischen Museum! Also die Idee, dass die Rückgabe dieser Werke die deutsche Demokratie gefährden könnten, das ist eine nicht ernst zu nehmende Ausrede.
Es entbehrt zudem nicht einer gewissen Ironie, dass die größte Bedrohung der amerikanischen Demokratie von den Geschehnissen am 6. Januar 2021 ausging. Und das waren keine Deutschen, es wurden auch keine Nazi-Bilder geschwenkt, als das Kapitol gestürmt wurde, sondern die amerikanische Flagge. Also deren angebliches Gefahrenpotenzial ist kein überzeugendes Argument, diese Werke weiterhin zu verwahren.“
Gregory Maertz hat es als Einziger in den USA gewagt, sich öffentlich kritisch mit dieser Sammlung auseinanderzusetzen. Er hat 20 Jahre lang die Provenienzen der Kunstwerke akribisch recherchiert; hat zahlreiche Archive durchsucht, hat Gordon Gilkey ein Jahr vor dessen Tod im Jahr 2001 interviewt, sowie dessen Nachlass eingesehen.
Maertz hat bei diesen Nachforschungen herausgefunden, dass Gordon Gilkey mindestens 100 Werke aus jener Staatsmission für sich selbst behalten hat, genauer: für das Kunstmuseum in seiner Heimat Portland, dessen Graphikkollektion er gründete und kuratierte. Maertz schreibt in seinem 2019 erschienen Buch „Nostalgia for the Future“:
„Ich habe die traurige Pflicht zu berichten, dass Gilkey, ein Volksheld für viele in seinem Heimatstaat Oregon, ein Kunstdieb war.“

Schwere Vorwürfe gegenüber Gordon Gilkey

Bei unserem Interview in Princeton bestätigte Gregory Maertz seine Vorwürfe:
„Gilkey tat genau das Gegenteil der Monuments Men: Er war de facto in ein offizielles Kunstraubprogramm involviert, im Namen der US-Armee. In dessen Verlauf verhalf er sich zu über 100 Kunstwerken; das konnte ich belegen. Ich beschreibe ihn als Fabulierer mit einem Hang zur Megalomanie. Stellen Sie sich vor, Sie hätten auf einem Stück Papier die Befugnis von General George Marshall, in Gebäude einzudringen und Gegenstände mitzunehmen.
Die Versuchung, Werke für sich selbst mitgehen zu lassen, muss furchtbar groß gewesen sein. Aber es ist faszinierend! Niemand hat sich je die Mühe gegeben, meine Behauptungen anzufechten oder eine Bestätigung zu suchen, weder das Kunstmuseum in Portland noch sonst wer. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es wahr ist.“
Ein älterer Mann sitzt in einem Büro in einem Sessel.
"Er nahm einfach alles mit, was dort war", sagt Gregory Maertz über Gordon Gilkey, der im Auftrag der US-Armee Nazi-Kunst in die USA brachte.© Carl G. Friedrich
Gregory Maertz kann glaubhaft nachweisen, dass Gilkey sich nicht einmal an die innerhalb des Potsdamer Abkommens definierten Regeln gehalten hat. Er habe Privatpersonen enteignet oder Werke von Künstlern direkt aus deren Ateliers beschlagnahmt. Nicht zuletzt habe Gilkey erst ein Jahr, nachdem die Deutschen sich ergeben hatten, überhaupt mit seiner Mission begonnen. Als das nach vollendeter Tat herauskam, hätten sich US-Armee-Anwälte sehr erschreckt. Denn das Vorgehen verstieß, wie Maertz schreibt:

Gilkey hat mir gegenüber freimütig zugegen, dass er in Künstlerateliers ging – jene, die den Krieg überstanden hatten – und kurzerhand komplett ausräumte. Er nahm einfach alles mit, was dort war.

Kunsthistoriker Gregory Maertz

Es sind schwere Vorwürfe, die Gregory Maertz äußert; er bezweifelt, dass das rechtliche Fundament dieser Sammlung je ganz sauber war. Die Werke seien wohl illegal in den USA. Doch dieser Vorwurf kratzt niemanden. Die offizielle Pressestelle der Armee, mit Kritikpunkten aus Maertz’ Buch konfrontiert, antwortet sehr allgemein, man handle auf Basis des Potsdamer Abkommens. Sarah Forgey sagt, sie habe das Buch über die Sammlung, für die sie zuständig ist, nicht gelesen:
„Ich bin mir vage einer solchen Behauptung bewusst. Ich weiß nicht, ob davon etwas im letzten US-Bericht steht. Ich habe nichts gesehen, was diese Behauptung untermauert. Aber, wie gesagt, ich habe dieses Buch nicht gelesen.“

Ist die Nazi-Kunst Beutekunst?

Niemand mag sich bei diesem Thema die Finger verbrennen, schlimmstenfalls in Verdacht geraten, die Nazis zu verteidigen. Es ist so klar, wer am Ende des Zweiten Weltkrieges wem moralisch weit überlegen war – und wer in großem Stil Kunstschätze geraubt hatte. Nazi-Deutschland hatte nicht nur den Krieg entfesselt, sondern auch Kunst geraubt, wo immer sich Gelegenheiten boten.
Zu Recht sorgen die Entdeckung und die Erforschung einer Bührle- oder Gurlitt-Sammlung weltweit für mediale Skandale. Die „German War Art Collection“ kann man mit diesen Sammlungen nicht vergleichen, trotzdem stellt sich die Frage: Wie sähe heute ein rechtmäßiger Umgang mit den Propaganda-Kunstwerken der Nazis aus, die die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg in ihre Obhut genommen haben? Professor Gregory Maertz meint:
„Niemand beeilte sich, die Eigentumsrechte der Erben jener Künstler zu verteidigen, die überlebt hatten. Es gab also keinen Anreiz, die Amerikaner auf ihren Fehler hinzuweisen."
Maertz vermutet, dass die wahren Motive für die Verwahrung dieser Sammlung durch die US-Armee anderswo liegen:
„Lassen Sie uns einen Moment darüber nachdenken: Wann haben die USA das letzte Mal einen Krieg gewonnen? Die USA haben unzweideutig jenen Krieg gegen das Dritte Reich, gegen die Wehrmacht, gewonnen. Und diese Kunstwerke fungieren als Kriegstrophäen jenes überzeugend gewonnenen Krieges. Danach kamen Korea: Patt. Vietnam: peinliche Niederlage. Irak und Afghanistan: peinliche Niederlagen.“

Wie kann eine Rückerstattung erfolgen?

Im Gegenzug erinnern diese Objekte die Armee an ihre letzten großen Momente in der Geschichte, an ihre Zerstörung der beeindruckenden Kriegsmaschinerie Nazideutschlands. Das ist also eine meiner Thesen: Diese Werke sind eine Erinnerung an diesen Moment, als die Armee noch überragend war.
"Maertz beschreibt es als Beutekunst. Das, finde ich, ist ein interessanter Aspekt, und da ist sicher auch was dran, weil diese Werke ja dem Deutschen Reich gehörten. Und man nimmt sie mit. Ich finde das Buch von Gregory Maerz gut recherchiert, und für mich ist das absolut nachvollziehbar. So kann man das ja sagen.“
Das sagt Sabine Beneke, Kuratorin am Deutschen Historischen Museum in Berlin und mit verantwortlich für die rund 8000 Werke aus der Zeit des Nationalsozialismus, die längst wieder von den USA an Deutschland zurückerstattet worden sind.
„Ich persönlich hätte gar kein Problem damit, dass das alles hier an einem Ort wäre. Ich kann das nicht lösen und nicht beantworten. Das ist eine politische Frage. Und sie kann auch nur politisch gelöst werden.“

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Für gefährlich erachtet Sabine Beneke die Kunst aus dem Dritten Reich nicht. Und sie sei in den letzten Jahren stets mit der nötigen Sorgfalt ausgestellt worden:
"Durch das Betrachten dieser Werke wird man jetzt nicht zum Nationalsozialisten oder zum Neonazi, das kann´s gar nicht sein. Das Interesse an dieser Kunst ist groß. Das ist ja auch groß, weil sie als mysteriös und versteckt gilt. Man kann eigentlich nur durch Aufklärung, das heißt, durch das Ausstellen, die ganze Sache etwas entmystifizieren und vielleicht auch differenzieren. Die Schwarz-Weiß-Malerei hilft in der Wissenschaft eigentlich fast nie. Es gibt nicht nur die eine oder die andere Seite, das Leben ist grau, und das war es auch in der Zeit.“
Ähnlich sieht es der niederländische Kunsthistoriker Almar Seinen.
„Wie kann ein Bild gefährlich sein? Es ist nur dann gefährlich, wenn man es hinter Schloss und Riegel sperrt. Wenn man es mysteriöser macht, als es ist. Wie bei diesen dummen Hitler-Zeichnungen dort. Sie hatten Angst, dass ein Blick darauf einen zum Nazi macht, oder dass man dadurch Hitler wieder verehrt oder so. Natürlich nicht! Das wird nicht passieren! Aber wenn man das zu einem Geheimnis hochstilisiert, diese Werke irgendwo in einem Keller einer Militärbasis verbirgt, dann wird daraus eine Art James-Bond-Fall: ´Huhu`, geheime Nazi-Kunst. Doch wenn man sich die Bilder mal anschaut, sind sie nur enttäuschend schlecht.“

In den Niederlanden wird Nazi-Kunst gezeigt

Almar Seinen hat schon 2019 in den Niederlanden eine Ausstellung über Nazi-Design kuratiert und plant nun eine weitere für das kommende Jahr, die größte, die es seit Ende des Zweiten Weltkriegs je gab. Er ist sicher:

Neonazis werden kein bisschen daran interessiert sein. Ich denke, sie sind zu dumm, um zu verstehen, was wir zu tun versuchen. Es gibt keine Swastikas zu sehen, keine Hitlergrüße. Sie würden nur enttäuscht von der Ausstellung, denn zu Hause haben sie Räume voller Swastikas, Adler, Naziuniformen und was weiß ich. Nichts davon wird bei uns zu sehen sein. Nur Landschaften, politische Blumen und nackte Frauen. Das ist alles. Also ich habe keine Angst. Ich habe nur Angst vor der Engstirnigkeit jener Kunsthistoriker, die ständig sagen: Das ist keine Kunst.

Kurator Almar Seinen

Die Hitler-Porträts und Swastikas, die wir in Fort Belvoir vorgesetzt bekommen haben, bilden in Wahrheit nur den kleinsten Teil der Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus. Sogar innerhalb des US-Depots ist der größte Teil der Werke weit harmloser. Doch darüber zu sprechen, dass diese Kunst nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern Teil einer Entwicklung ist, dass sie vielfältig ist und dass es darunter auch völlig harmlose oder sogar künstlerisch interessante Werke geben könnte, das rührt immer noch an ein Tabu – ein Tabu, das für den amerikanische Kunsthistoriker Gregory Maertz nicht mehr zeitgemäß ist.

Auch unter den Nazis gab es eine Kunstvielfalt

"Einer der Punkte, die ich ansprechen möchte, ist, dass die von Nazi-Deutschland produzierte Kunst viel vielfältiger und heterogener war, als die Objekte, welche die US-Armee besitzt, glauben machen. Man kann sie nicht einfach als repräsentativ für jene Kunst betrachten, die von der NS-Führung in Auftrag gegeben oder gefördert wurde. Die damalige Realität war vielfältiger, fluider.
Auf diese Vielfalt traut sich Gregory Maertz hinzuweisen. Die Kunst in der NS-Zeit im Dritten Reich reichte von Avantgarde und Modernismus über Surrealismus, Expressionismus, und Post-Impressionismus bis hin zum konservativen Stil, mit dem man Nazi-Kunst heute am ehesten assoziiert, so Maertz.
Es sei sogar vorgekommen, dass die Nazis Werke von jenen Künstlern präsentierten, die sie selbst zuvor als entartet taxiert hatten. Laut Gregory Maertz sind 64 Künstler, deren Werke 1937 in der Ausstellung „Entartete Kunst“ als schändlich erachtet wurden, später in den großen „Deutschen Kunstausstellungen“ der Nazis vertreten gewesen. Es kam sogar vor, dass Hitler ein surrealistisches Werk eines Künstlers gekauft hat: Edmund Steppes’ „Paladine des Pans“.
Sabine Beneke bestätigt:
"Es sind auch Künstler dabei in München gewesen auf der großen deutschen Kunstausstellung, die gleichzeitig auf der entarteten Kunstausstellung ausgestellt waren. Es gibt da Graubereiche. Es ist nicht nur die eine Seite und die andere. Das ist nicht alles so einfach und insofern auch ja mit Gut und Böse, die guten Künstler, die bösen Künstler, das funktioniert so nicht."
Eine Hitlerbüste und ein Gemälde stehen in einem Bunker.
Kritiker fordern, dass Nazi-Kunst wie diese für Forschung und für die Öffentlichkeit wieder zugänglich sein soll. © Carl G. Friedrich
Unter den höchsten Nazi-Führern gab es einige, die moderne Kunst mochten. Sie sammelten sie oder stellten sie sogar mehr oder weniger offen aus.
In den letzten zehn Jahren haben nur zwei US-Museen einige Werke der deutschen US-Kriegskollektion entliehen. Noch komplizierter und teurer ist es, wenn sich europäische Museen um Leihgaben daraus bemühen. Almar Seinen ist frustriert, weil er auf seinen Antrag, für seine geplante Ausstellung etwas aus dem US-Militärdepot auszuleihen, bisher keine Antwort erhalten hat.
Die Amerikaner argumentieren noch immer mit der möglichen Gefährdung der Werke. Allerdings waren es bisher vor allem die Amerikaner selbst, die sie beschädigt haben. Kratzer und Löcher zeugen davon, wie die Soldaten einst ihre Wut daran ausgelassen haben. Ein Bajonetthieb unter Hitlers Auge lässt den Diktator auf Hubert Lanzingers Bild "Bannenträger" scheinbar weinen:
"Und dies ist das Gemälde, das von einem amerikanischen Soldaten mit einem Bajonett durchbohrt worden ist, als es am Ende des Krieges entdeckt wurde. Wir haben das Bajonettloch bei der Konservierung des Gemäldes beibehalten, weil es Teil der Geschichte des Gemäldes ist“, sagt Sarah Forgey.
Restauriert wurde dagegen die Hitler-Büste aus Bronze von Emil Hub. Ursprünglich hätten die Soldaten ihr einige Fußtritte verpasst und Graffiti eingeritzt: „Fool“ – Idiot – und einen Phallus.
"Sie ist vom Sockel gestoßen worden, sie ist getreten worden. Die Restauratoren haben Trittspuren von Stiefeln und Graffiti darauf gefunden. Das Wort Narr und ein Phallus waren auf den Kopf geritzt worden.“

Freigabe für Forschung gefordert

Müssen diese Werke heute noch in einem Militärdepot unter Verschluss gehalten werden? Almar Seinen wünschte sich, dass die US-Kollektion wenigstens digital einsehbar wäre, damit Forscher, wie es heutzutage eigentlich Usus ist, mit ihr online arbeiten können. Am Deutschen Historischen Museum ist das via der Datenbank gdk-research möglich.
Der niederländische Kurator möchte alle Datenbanken dieser deutschen Kunst, auch die bisher nicht öffentliche von Fort Belvoir, zusammenführen, und damit die Erforschung der NS-Zeit vorantreiben.
Seine Schau werde die erste sein, in der Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus als Kunst ausgestellt wird, sagt Almar Seinen – nicht als Geschichte und auch nicht im Vergleich mit etwas anderem. „´Full frontal`“, betont er, „nur diese Kunst für sich.“ Er hofft, dass die "Ausstellung danach auch in die USA wandert. Es sei an der Zeit, auch diese Kunst – mit emotionaler Distanz – als Teil der Kunstgeschichte zu erforschen.

In jener Zeit müssen Hunderte, ja Tausende von Werken entstanden sein. Es gab etwa 4000 Kunstausstellungen, es gibt vier-, fünfhundert Kataloge von damals. Das Feld ist also völlig offen für Kunsthistoriker, die sich damit beschäftigen wollen. Wenn man jetzt anfängt, es zu erforschen – und wir haben versucht, es ein wenig zu öffnen –, dann können wir vielleicht einige Nuancen herausarbeiten. Ich will nichts schönreden. Aber wir müssen das Thema nuancieren, dann können wir anfangen, damit zu leben. Es liegt viel von diesem Zeug herum. Es ist da, also müssen wir damit umgehen lernen.

Kurator Almar Seinen

Es ist an der Zeit, dass seriöse Kunsthistoriker versuchen, diese Kunst auf eine andere Art und Weise zu betrachten. Sonst sind wir in 20 Jahren immer noch nicht weiter. Einzig darum geht es mir. Und natürlich nicht etwa darum, diese Kunst zu verherrlichen. Ich möchte die Kunstgeschichte in gewisser Weise aufbrechen.
Vielleicht wird Almar Seinens Ausstellung das Tabu brechen. Vielleicht wird es im größeren Stil möglich, Nazikunst wissenschaftlich zu untersuchen: distanziert und ohne Emotionen. Vielleicht dürfen eines Tages sogar die grausigsten Hitler-Bilder aus dem US-Bunker ans Tageslicht gelangen, für alle einsichtig. Zeugnisse einer Propaganda, die keine Wirkung mehr entfaltet.
„Mir ist wichtig, dass wir lernen, unverkrampft mit dieser Kunst umzugehen. Das Bedürfnis ist auch da, sich damit zu beschäftigen. Ich sehe, dass viele Kollegen, auch in Museen, auch an der Universität, großes Interesse haben und das auch möchten. Und ich hoffe sehr, dass durch Ausstellungen, die vielleicht auch das international etwas stärker einbinden, also diese Jahre stärker in internationale Kunstströmungen, Stile, Tendenzen einbinden, uns vielleicht auch eine etwas größere Erkenntnis bringen“, sagt Sabine Beneke vom Deutschen Historischen Museum in Berlin.

Gesprochen von: Monika Oschek, Joachim Schönfeld und Susanne Petrin
Ton: Christiane Neumann
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Winfried Sträter

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