Ute Frevert: "Kapitalismus, Märkte und Moral"
Residenz Verlag, Wien/Salzburg 2019
151 Seiten, 20 Euro.
Moral als "kritische Antriebskraft"
06:40 Minuten
Für die Historikerin Ute Frevert ist der Kapitalismus viel moralischer, als es auf den ersten Blick scheint. Doch das Bild, das sie vom kapitalistischen Wirtschaften in ihrem neuen Buch zeichnet, gerät allzu harmonisch.
In Volker Brauns Büchlein "Flickwerk" findet sich eine Episode, die Ute Frevert ihrem Buch "Kapitalismus, Märkte und Moral" als Motto hätte voranstellen können. Sie handelt von einem Arbeitslosen, der auf Ebay "eine seiner Nieren" zum Verkauf anbietet, was ihm das Auktionshaus allerdings untersagt.
Braun resümiert: Der Narr hätte wissen müssen, dass es normal sei, wenn er seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt als Ganzes anbietet. Doch dürfe er seinen Körper nicht "stückweise" verkaufen.
Darf es für alles Märkte geben?
Mit der damit zusammenhängenden Frage, ob es einen moralischen Kapitalismus gibt, setzt sich die 1954 geborene Historikerin Ute Frevert – sie leitet seit 2008 den Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle" in Berlin – in ihrem neuen Buch auseinander. Kann sich ein Gesellschaftssystem, das auf Gewinnmaximierung aus ist und das auf rationalen Entscheidungen basiert, Gefühle und Moral leisten?
Zwar gibt es für alles Märkte, aber die entscheidende, Frevert interessierende Frage lautet, ob es für alles Märkte geben darf. Nein, meint die amerikanische Philosophin Debra Satz in ihrem Buch "Von Waren und Werten. Die Macht der Märkte und warum manche Dinge nicht zum Verkauf stehen sollten". Toxische Märkte etwa, wie beispielsweise der illegale Handel mit Menschen oder mit menschlichen Organen, müssten verboten werden, so Satz, da sie auf Not und Ungleichheit basieren.
Adam Smith und Karl Marx
Ganz so vehement äußert sich Ute Frevert in ihrem sich in sechs Kapitel gliedernden Buch nicht, wenn es um die Regulierung von Märkten geht. Sie nähert sich dem Thema historisch, blickt also überwiegend zurück in die Geschichte und beginnt folgerichtig im ersten Kapitel ihres Essays bei Adam Smith und Karl Marx, um sich im zweiten Kapitel mit der Armut zu befassen, die – ihrer Meinung nach – keine unmittelbare Folgeerscheinung des industriellen Aufschwungs in der Mitte des 19. Jahrhundert war.
Sie wendet sich im dritten Kapital dem Sozialstaat als einer Errungenschaft der Arbeiterbewegung zu, untersucht schließlich im vierten Kapitel die Vielzahl ganz unterschiedlicher Märkte und hinterfragt im fünften Kapitel den Umgang mit dem Geld, wobei es um Kredite, Wucher und Börsianer geht. Schließlich stellt sie im letzten Kapitel Überlegungen zur Macht der Konsumenten im 21. Jahrhundert an.
Frevert, die zu Beginn ihres Buches noch von Moral als der "kritischen Antriebskraft und Korrekturquelle des Kapitalismus" spricht, nimmt allerdings zu selten auf ihre Kernthese Bezug, ob es wirklich moralische Appelle waren, die den Kapitalismus zu Kurskorrekturen veranlassten. Sie ist vielmehr auf Vermittlung aus. Sie versucht deutlich zu machen, dass der Kapitalismus sehr viel moralischer ist, als es auf den ersten Blick scheint.
Enorme Lernfähigkeit
Mit Michel Foucaults Thesen von den Zwängen der Erwerbsarbeit und einer sich im frühen 19. Jahrhundert herausbildenden Disziplinierungsgesellschaft setzt sie sich nicht auseinander. Das kapitalistische Wirtschaftssystem habe in seiner Geschichte, so die Autorin, eine enorme Lernfähigkeit bewiesen, weshalb sie schlussfolgert, dass die "bürgerliche Arbeitsmoral" von den Unterschichten übernommen wird.
Freverts Bild vom "moralischen Kapitalismus" gerät damit allzu harmonisch. Sie vertraut darauf, dass sich dieses System auch zukünftig den anstehenden Herausforderungen stellen wird.
Kritik am System brauche es natürlich, aber mit solcher habe der Kapitalismus stets produktiv umzugehen gewusst. Angesichts der anstehenden Konflikte auf dem Sektor Arbeit und in der Klimadebatte ist dies ein sehr optimistisch klingender Ansatz.