Ute Frevert: "Mächtige Gefühle: Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung – Deutsche Geschichte seit 1900"
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2020
496 Seiten, 28 Euro
Deutsche Geschichte zwischen Demut und Ekel
06:52 Minuten
In ihrem Buch "Mächtige Gefühle" begibt sich die Historikerin Ute Frevert auf die Spur von 20 Gefühlen, die den Lauf der deutschen Geschichte beeinflusst haben. Das ist dynamisch und kurzweilig, aber auch oberflächlich.
1952 zwang die DDR-Volkspolizei mutmaßliche Regimekritiker entlang der deutsch-deutschen Grenze auf Güterzüge und verfrachtete sie ins Landesinnere. "Aktion Ungeziefer" lautete die Zwangsumsiedlung.
In ihrem Buch "Mächtige Gefühle" nimmt Ute Frevert öffentlich zelebrierte Stimmungslagen in den Blick: Die Demut im Kniefall Willy Brandts, die Ehre im Leib des deutschen Soldaten, den Hass des Kommunisten auf den Kapitalismus und der Rechtsradikalen auf den Asylanten, die freiwillige und die von oben verordnete Solidarität.
Als wie fruchtbar sich dieser Blick erweist, zeigt das Beispiel des Ekels. Zwangsregime quer durch die Zeiten nutzten das instinktive Grundgefühl politisch aus, um einen Keil zwischen die allgemeine Bevölkerung und den politischen Gegner zu treiben. Unvergleichlich perfide taten das die Nationalsozialisten, als sie Hetzlawinen gegen Jüdinnen und Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Obdachlose lostraten. In dem an Schwarzweißabbildungen reichen Buch sind die alten Plakate zu sehen: im Schattenriss die Fiktion des "gierigen Juden", der in einem Akt der "Rassenschande" nach der verwirrt-unschuldigen blonden deutschen Frau greift.
Schnell durch Gefühlsminiaturen
Ute Freverts Gefühlsgeschichte bringt es mit sich, dass es zu vielen schnellen Schnitten zwischen Epochen und Systemen kommt. In jeder ihrer Gefühlsminiaturen schreitet sie erneut in Siebenmeilenstiefeln durch die deutsche Geschichte, was das Buch dynamisch und kurzweilig macht, allerdings auch mit einer gewissen Oberflächlichkeit einher geht.
Denn was – genau – sagt es über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Regimen aus, wenn auch die stalinistische Sowjetunion politisch missliebige Personen als "Parasiten" oder "Volksschädlinge" diffamierte? Oder wenn die offizielle Politik der Bundesrepublik Deutschland auf Ekel-Rhetorik weitgehend verzichtete? Das bleibt unterbelichtet. Interessant ist es dennoch, daran erinnert zu werden, dass auch das westliche Nachkriegsdeutschland den Ekel vor "schmutzigen Filmen" und "schmuddeligen Gammlern" kannte. Von Politikern der CSU mussten sich Linke zeitweise sogar als "Ratten und Schmeißfliegen" diskreditieren lassen. Zur "Zecke" im Wortschatz heutiger Nazis ist es da nicht weit.
Schluss mit Zuneigung
Mit der Betrachtung eines eher leisen Gefühls schließt das Buch. Während die öffentlich demonstrierte Sympathie zwischen Top-Politiker*innen unterschiedlicher Länder als wohlkalkulierte Signale interpretiert werden müssen – auf einem Foto lehnen Angela Merkel und Emmanuel Macron wie ein frisch verliebtes Paar ihre Köpfe aneinander – misst Ute Frevert der mühsamen errungenen zivilgesellschaftlichen Zuneigung, etwa im Rahmen von Städtepartnerschaften, eine hohe Bedeutung für einen stabilen Frieden zu.
Dieser Tage wurde auf der letzten Etappe der Brexit-Verhandlungen ausgerechnet das Erasmus-Austauschprogramm für Studierende zwischen Großbritannien und der Europäischen Union aufgegeben. Nach diesem Buch kann man ermessen, wieviel Kälte damit in die zukünftigen Beziehungen einziehen wird.