75 Jahre Grundgesetz

Eine Verfassung, die Emotionen auslöst

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Das Cover des Buchs "Verfassungsgefühle" von Ute Frevert stellt den Titel in roter Schrift vor hellblau geschwungenen Lamellen dar. Untertitel und Autorenname teilen sich den gleichen Hintergrund und sind in schwarzer Schrift gestaltet.
© Wallstein Verlag

Ute Frevert

Verfassungsgefühle. Die Deutschen und ihre StaatsgrundgesetzeWallstein Verlag, Göttingen 2024

248 Seiten

22,00 Euro

Von Michael Wolf |
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In ihrem neuen Buch „Verfassungsgefühle“ analysiert die Historikerin Ute Frevert die geschichtliche Entwicklung der nicht immer leichten emotionalen Beziehung der Deutschen zu ihren Verfassungen.
Verfassungen organisieren die Macht in einem Staat und definieren sein Verhältnis zu den Bürgern. Sie haben darüber hinaus jedoch auch eine emotionale Dimension. Der Historikerin Ute Frevert zufolge hängt ihre Akzeptanz und damit oftmals die des ganzen Staatsgefüges nicht zuletzt davon ab, welche Gefühle eine Verfassung in der Bevölkerung weckt.

Gerade Verfassungen, die auf "Verwirklichung" angelegt sind, brauchen emotionale Treiber. Wer seine Verfassung achtet, vielleicht sogar liebt, verhält sich politisch und gesellschaftlich anders als jene, die das nicht tun, in Worten ebenso wie in Taten. Aus diesem Grund ist es alles andere als trivial, nach Verfassungsgefühlen Ausschau zu halten und ihre Valenz zu prüfen.

Ute Frevert in „Verfassungsgefühle“

Politik lebt von Emotionen

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Frevert als Historikerin den Gefühlen widmet. Sie hat bereits über die Wandelbarkeit von Emotionen sowie über die sogenannte Gefühlspolitik Friedrichs des Großen geschrieben. In ihrem neuen Buch „Verfassungsgefühle“ ruft sie einmal mehr eine beeindruckende Fülle an Quellen auf, die von Stimmungen in der Bevölkerung Zeugnis ablegen. Anhand von Zeitungsartikeln, Reden, Tagebucheinträgen und privaten Briefen untersucht sie über eine Zeitspanne von mehr als 200 Jahren die emotionale Beziehung der Deutschen zu ihren Verfassungen.

Schriftlich niedergelegte Verfassungen, die die Machtteilung zwischen vormaligen Untertanen und Fürsten beurkunden und allgemeine Bürgerrechte absichern, werden seit dem späten 18. Jahrhundert Objekte des Begehrens, des leidenschaftlichen Wünschens und Wollens. Diejenigen, die für sie kämpfen, verbinden damit den Aufbruch zu individueller Freiheit und politischer Partizipation.

Ute Frevert in „Verfassungsgefühle“

Aufbruch und enttäuschte Hoffnungen

Wie viele Geschichten von großen Gefühlen beginnt auch diese auf einer Party. 1817 kamen etwa 500 Studenten beim Wartburgfest in Thüringen zusammen, um für die Einheit Deutschlands und garantierte Grundrechte zu demonstrieren. Ein riskantes Unterfangen. Die Fürsten suspendierten in der Folge Meinungs- und Pressefreiheit und verboten die studentischen Burschenschaften.
Wie Frevert luzide darstellt, wurden die Hoffnungen des Bürgertums auch in den kommenden Jahrzehnten Mal um Mal enttäuscht. Als Reichskanzler Otto von Bismarck dann im Jahr 1871 endlich eine Verfassung für das geeinte deutsche Kaiserreich vorlegte, war die konstitutionelle Euphorie schon längst verflogen. Stattdessen nahmen patriotische Leidenschaften überhand, wie die Autorin ausführt.

Straßen oder gar Kriegsschiffe nach der Verfassung zu benennen, überließ man (…) den Vereinigten Staaten. Stattdessen feierte das Kaiserreich, neben dem Sieg über Frankreich am Tag von Sedan, die Kaiserfamilie. Man gratulierte ihren Mitgliedern zum Geburtstag, schickte Glückwünsche bei Hochzeiten und Taufen, trauerte maßlos beim Ableben des ersten Kaisers.

Ute Frevert in „Verfassungsgefühle“

Begeisterung für die Verfassung hält sich in Grenzen

Auch die Verfassung der Weimarer Republik konnte kaum Begeisterung entfachen. Wie Frevert anhand von Umfrageergebnissen nachweist, interessierten sich die meisten Deutschen im Jahr 1919 nicht für die Arbeit der Nationalversammlung. Kurz nach dem verlorenen Krieg hätten sie andere Sorgen und Nöte gehabt.
Die Regierungen versuchten später, dem Volk die Verfassung mit Festen zu ihren Ehren näherzubringen, während man sie an den politischen Rändern als Symbol der verhassten Republik verächtlich machte. Als die Nazis an die Macht kamen, hielten sie es nicht einmal für nötig, die Verfassung durch eine neue zu ersetzen. Formell blieb sie bis 1945 in Kraft.

"Führer befiehl, wir folgen Dir" war im "Dritten Reich" nicht bloß eine Liedzeile, sondern Ausdruck einer propagandistisch verbreiteten und weithin akzeptierten emotionalen Beziehung, die jedes einzelne Mitglied der Volksgemeinschaft mit Hitler unterhielt. Dafür brauchte es keine gesatzten Regeln.

Ute Frevert in „Verfassungsgefühle“

Grundgesetz wird zum "atmenden" Dokument

Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg behandelt Frevert sehr erhellend mit Blick sowohl auf West- als auch auf Ostdeutschland. Emotional verankert seien die Verfassungen weder in der BRD noch in der DDR gewesen. Im Arbeiter- und Bauernstaat hätten sich negative wie positive Gefühle vor allem auf die Partei gerichtet.
In der Bundesrepublik achtete man derweil nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus ganz bewusst auf Nüchternheit. Nur zögerlich habe sich ab den Siebzigerjahren eine Art Wertschätzung verbreitet, die sich unter anderem an der steigenden Beliebtheit des Bundesverfassungsgerichts ablesen lasse.
Zeitgleich fand der vom Politikwissenschaftler Dolf Sternberger geprägte Begriff „Verfassungspatriotismus“ seinen Weg in den Diskurs. Ein Begriff, der seither immer wieder fällt, um das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Staat zu klären.

Die Auseinandersetzung darüber, was die Verfassung ermöglichte oder untersagte, erforderte eine Kenntnis des Textes und dessen historisch-kritische Einordnung. Damit wurde das Grundgesetz auch im Bewusstsein vieler Bürgerinnen und Bürger zu einem "atmenden" Dokument, das für ihre Lebensführung Bedeutung besaß und deshalb Wertschätzung erfuhr.

Ute Frevert in „Verfassungsgefühle“

Fazit: Grundgesetz muss gestärkt werden

Frevert gelingt mit ihrem inhaltlich anspruchsvollen, aber sprachlich erfreulich zugänglichen Buch eine konzise und immer wieder überraschende Darstellung ihres Themas. Zugleich stellt es auch den Versuch dar, aus der Geschichte Lehren zu ziehen.
In den letzten 50 Jahren hätten die Deutschen tatsächlich eine Zuneigung zum Grundgesetz entwickelt. Diese deutet sie als durchaus tragfähige Grundlage für eine stabile Beziehung zwischen Staat und Bürgern. Der Bestand der Verfassung selbst werde durch sie jedoch nicht garantiert, warnt Frevert, und weist darauf hin, dass auch die AfD sich immer wieder als Verteidigerin des Grundgesetzes inszeniert.
Die Autorin schließt daher mit einem überzeugenden Plädoyer dafür, sich nicht auf die warmen Gefühle der Deutschen zu verlassen, und die Sicherheit von Grundgesetz und Verfassungsgericht juristisch zu stärken.
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