Possenreißers Insel-Narretei
Alle 54 Städte auf der Insel "Utopia" sind gleich, alle Familien gleich groß, alle Bürger tragen die gleiche Uniform, niemand will etwas Besonderes oder Neues. Als bierernste Utopie macht das Buch von Thomas Morus wenig Freude − bekömmlich ist es am besten als subtile Satire.
Wer nachlesen möchte, wie es mit dem modernen Roman begann, darf sich auf den immer noch charmanten Don Quichotte von Miguel de Cervantes freuen.
Wer den Quellcode moderner Essayistik studieren will, findet in Michel de Montaignes Essays ein Lese- und Lebensbuch von teils erstaunlicher Frische.
Mit "Utopia" jedoch, dem modernen Erstling der unscharfen Gattung Utopie, sieht es anders aus:
Obwohl "Utopie" in fast allen Sprachen der Welt ein fester Begriff ist, hat das Werk des Tausendsassas Thomas Morus außerhalb von Fachkreisen für politische Philosophie wenig echte Fans − und zwar Erklärlicherweise.
Mit dem teils langatmigen Plauderton, der ans wichtigste Vorbild, nämlich Platons "Politeia" erinnert, könnte man sich ja noch arrangieren. Immerhin transportieren die Plaudereien humanistisches Zeitkolorit und Kritik an den Rechts- und Eigentumsverhältnissen im damaligen England.
Auch die verschachtelte Erzähl-Architektur, in der ein fiktiver Mitsegler des realen Entdeckers Amerigo Vespucci die Informationen über Utopia liefert, ist konstruktiv.
Zwischen Glück und Nirgendwo
So bleibt die Insel im Ungefähren zwischen "glücklicher Ort" irgendwo und "Nirgend-Ort" - eine Doppeldeutigkeit, für die Morus zwei altgriechische Wörter, die im Englischen gleichlauten, zu "utopia" verschmolzen hat.
Nein! Es sind die Verhältnisse auf Utopia selbst, die der Insel aus heutiger Sicht jede Attraktivität rauben.
Alle 54 Städte sind gleich, alle Familien gleich groß, alle Bürger tragen die gleiche Uniform; alle essen das gleiche, alle sind gleich genügsam, gleich strebsam und nach Feierabend gleich bildungsbeflissen; alle haben als Junge oder Alte, Frauen oder Männer, Vorsteher oder Sklaven ihren festen Platz in der starren patriarchalen Hierarchie; es gibt kein Privateigentum, keiner will etwas Besonderes, Neues oder Anderes. Und alle unterliegen der gleichen Bedrohung:
Wer außerhalb offizieller Versammlungen über Staatsangelegenheiten redet, verfällt der Todesstrafe, deren Unsinnigkeit noch eingangs des Buches laut beklagt wurde.
Keine Frage, vor 500 Jahren hatte die materiell recht auskömmliche Gleichschaltung auf Utopia in Abgrenzung zum Feudalismus anziehende Seiten − gerade für kleine Bauern. Überdies gab Morus dem Insulaner-Leben gewisse urchristliche und urkommunistische Züge ... Weshalb später einige Sozialisten "Utopia" sehr verehrten.
Total normiert und unfrei
Wer jedoch den modernen Liberalismus und Individualismus schätzt, wer der Marktwirtschaft mehr zutraut als der Planwirtschaft, wer Kreativität und Eigeninitiative anziehender findet als blinde Unterwerfung, der kann in Utopia nur eine Dystopie erkennen: das Schreckensbild einer total normierten, unfreien Gesellschaft ... Obwohl es sich formal um eine Republik handelt.
Nun streiten jedoch die Morus-Experten darüber, ob Utopia als Satire zu verstehen sei − auf Kopfgeburten wie Platons "Politeia" und auf die graue Gleichheits-Insel selbst.
Schließlich nennt Morus den Mann, der über Utopia berichtet, Raphael Hythlodeus, was so viel wie "Klugschwätzer" oder "Possenreißer" heißt.
Wenn man diese Interpretationswende mitmacht und den Insel-Narren Hythlodeus als eine Art donquichottesken Staatsfantasten begreift, dann beginnt Morus' "Utopia" anregend zu funkeln.
Und gar keine Frage: Eine subtile Spott-Dichtung liest sich natürlich viel lockerer als eine bierernste Utopie. Insofern doch: Lektüre-Empfehlung!
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?