Warum das Schlechte mehr fasziniert als das Gute
Es gibt kaum Fantasie in Bezug auf eine bessere Welt, eine düstere Zukunft können wir uns hingegen wunderbar vorstellen: Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho erklärt die Macht der Dystopie.
Korbinian Frenzel: Zukunft wird gedacht an vielen Orten, in den Think-Tanks der politischen Parteien, im Silicon Valley, überall da, wo künstliche Intelligenz entwickelt wird. Immer ist es eine bessere Zukunft, womöglich sogar eine Utopie. Und doch: Die Realität holt uns ein mit Toten und Verletzten, nicht nur in Syrien, sondern jetzt auch vor der eigenen Haustür, in Berlin. Und bevor die Fakten gesichert sind, spielt das Netz verrückt, wird postfaktisch von islamistischem Terror gesprochen, bevor das irgendjemand Offizielles tut. Ein Szenario ausgepinselt, das nicht einer Utopie gleicht, sondern ihrem Gegenteil: einer Dystopie. In Wien begrüße ich den Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Guten Morgen!
Thomas Macho: Ja, guten Morgen, Herr Frenzel!
Schlechte Nachrichten überwiegen
Frenzel: Herr Macho, wir waren ja eigentlich verabredet, um die Zukunft zu denken im Rahmen unserer Utopiewoche, Thomas Morus zu Ehren, und jetzt schon wieder so viel Gegenwart. Wie können wir denn überhaupt Zukunft denken, wenn wir von der Gegenwart ja wirklich im wahrsten Sinne des Wortes terrorisiert werden?
Macho: Ja, das ist die große Frage, die sich heute Morgen mit besonderer Dringlichkeit aufwirft. Wir sind umringt von Gegenwart und auch aus technischen und mediengeschichtlich relevanten Gründen, unentwegt konfrontiert mit Nachrichten, die eben, deshalb weil sie kommuniziert und vermittelt werden, meistens gar keine guten Nachrichten sind, sondern schlechte Nachrichten.
Man müsste mal eine Umfrage machen, wie viele schlechte Nachrichten etwa auf den sozialen Plattformen Facebook, Instagram und so weiter täglich erscheinen, und das zweite Problem – Sie haben es schon angesprochen – ergibt sich daraus, dass wir kaum jemals in der Lage sind, das, was wir als Nachrichten erhalten, überhaupt sinnvoll beurteilen und bewerten zu können. Im schlimmsten Fall wissen wir nicht einmal, ob es wahr ist, ob es Fake News sind, ob es etwas ist, was ein bestimmtes Licht auf die Gegenwart werfen soll oder eben auch wirft, und von daher ist die Situation im Moment tatsächlich eher dystopisch als utopisch.
Frenzel: Die Frage ist ja, wie es sich mit der Wirkungsmacht eben dieser schlechten Nachrichten verhält. Die schöne Vorstellung wäre, dass die Utopie – das ist, wonach man strebt –, ich habe den Eindruck, wenn man Reaktionen liest, wie die von Donald Trump, die gleich gekommen sind von anderen Populisten, dass die Dystopie, also die schlechteste aller möglichen Welten und die Erwartung darin, dass das das viel wirkungsmächtigere Denkmotiv ist.
Macho: Ja, im Moment ist das ganz zweifellos so, dass Dystopien, das heißt schlechte Welten, unser Bewusstsein sehr viel mehr beschäftigen und befassen als die Frage, wie könnte es besser werden. Es geht vielleicht nicht darum, dass wir ein bestimmtes Ziel, eine bestimmte Idee uns ausmalen können, die auf die Zukunft projiziert wird, sondern es geht darum, dass man eben diesen Wust von schlechten Nachrichten, die man, wie gesagt, noch nicht einmal exakt beurteilen kann, überhaupt verkraftet. Es gibt sowas wie einen present shock, hat das Douglas Rushkoff vor einigen genannt, einen Schock der Gegenwart, die sich über die Hoffnungen und über das schlechte Nachdenken, was denn besser werden könnte, quasi wie so ein grauer Schleier drüberlegt.
Faszination für das Böse
Frenzel: Ist die Gegenwart, die Angst vor dem Verlust, vielleicht so groß, weil wir uns gar nicht mehr vorstellen können, dass wir überhaupt noch eine bessere Welt erreichen können?
Macho: Ich glaube, dass wir uns durchaus immer wieder vorstellen können, eine bessere Welt und auch manchmal sogar die Wege, die man probieren könnte, in diese bessere Welt zu kommen, aber auf seltsame Weise sekundiert dem dystopischen Motiv natürlich auch eine Art von Faszination für das Böse, für das Üble.
Cesare Pavese, der große italienische Dichter und Schriftsteller, hat einmal eine Notiz in seinem Tagebuch geschrieben, es gebe einen seltsamen Kontrast: wir könnten uns alles Böse und Schlechte mit wunderbarer Fantasiekraft vorstellen, während wir im Alltag davon nur sehr wenig praktizieren, während umgekehrt wir im Alltag sehr oft gute Dinge tun, aber unsere Fantasie nicht mitnehmen. Es gibt sozusagen keine Fantasie in Bezug auf das Gute, und diese Diagnose ist zwar schon rund 60 Jahre alt, aber sie gewinnt heute erst richtig an Prägnanz, –
Frenzel: Warum …
Macho: – der Verlust der Fähigkeit, sich das Gute und das Bessere überhaupt noch zu imaginieren.
Frenzel: Woher kommt dieser Verlust?
Macho: Ich denke, dass er was zu tun hat mit einem Thema, Aufstieg eines, ich nenne das ein synchronistisches Bewusstsein, das heißt also, eine Art von Überforderung auch durch die Informationen, über das, was alles in der Welt zur selben Zeit passiert. Wir sind nicht mehr wirklich auf Erinnerung und Gedächtnis, aber eben auch nicht wirklich auf die Vorstellung möglicher Zukünfte eingelassen, sondern eben auf eine Weise befasst und beschäftigt mit dem, was gleichzeitig passiert, und dieses gleichzeitig Passierende ist obendrein noch ungewiss. Das ist im Moment unsere Situation, und sie wird unterstützt natürlich auch durch die Vielzahl von Fantasieprojektionen im Sinne von TV-Serien, Filmen, Romandarstellungen und so weiter, die ebenfalls auch im Namen der Fantasie eher das Schlechte als das Gute beschwören.
Wir leben in einer Glaubens- und Meinensgesellschaft
Frenzel: Wenn wir über die Fantasie sprechen, die Frage, warum sie offenbar nicht so gut funktioniert, zumindest nicht im guten Sinne, liegt das möglicherweise auch – ich benutze jetzt mal wieder dieses Begriffspaar faktisch, postfaktisch –, dass wir insgesamt zu sehr, zumindest von der Elitenperspektive her, so im Faktischen verhaftet sind, eine Angela Merkel, die nüchtern, aber eben auch ohne Esprit, Dinge verkauft, vom politischen Stil her, dass uns diese Begeisterung für das Denken jenseits des kleinen Rahmens, den wir kennen, verloren gegangen ist?
Macho: Das spielt sicher eine große Rolle, aber noch wichtiger ist natürlich, dass die Differenz zwischen dem Faktischen und dem Postfaktischen, der neuerdings so oft beschworen wird, eben auch daran scheitert, dass wir eben anders als immer behauptet wird, gar nicht in einer Wissensgesellschaft leben, sondern aufgrund der Informationen, die uns unentwegt erreichen, eher in einer Glaubens- oder Meinensgesellschaft, das heißt, nicht das, was wir wissen, entscheidet, sondern das, was wir nicht wissen, was wir uns ausmalen, was irgendwelche Freunde oder Bekannten eben in den sozialen Plattformen posten – das ist sehr seltsam geworden. Das heißt, postfaktisch heißt auch, dass wir in einer sehr diffusen Situation sind, in der wir einerseits sehr viel erfahren, andererseits aber eben keine Chance haben, das, was wir erfahren haben, irgendwie in Bezug auf seinen Wahrheitsgehalt zu bewerten.
Frenzel: Aber dieses Postfaktische bräuchten wir ja eigentlich auch, um positiv utopisch zu denken, dass wir uns lösen aus den engen Denkmustern und dass wir sagen, wir haben eine Meinung, eine Vorstellung, wie etwas sein sollte.
Macho: Das wäre wünschenswert, aber es passiert nicht. Es gibt ganz wenige Ansätze ((Unterbrechung)) Momente da eine Rolle spielen, aber diese Ansätze sind viel zu schwach, um gegen diese große Gewalt des Dystopischen überhaupt noch eine Rolle zu spielen, zumindest erscheint es mir heute Morgen so.
Frenzel: Thomas Macho, der Kulturwissenschaftler in Wien, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Macho: Herzlichen Dank, Herr Frenzel!
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