Utopien heute

Der technologische Abgesang auf Utopia

Mädchen tippen in Berlin auf ihren Handys.
"Soziale Medien" sind nicht sozial, kritisiert Klaus Englert. © imago stock&people
Von Klaus Englert · 20.10.2016
Eine Utopie hatte einmal eine örtliche und eine zeitliche Dimension. Inzwischen sei sie vollends ins Technische abgewandert, hier würden nun Revolutionen in immer kürzeren Zeitspannen ausgerufen, kritisiert der Journalist Klaus Englert. Ihm fehlt ein übergeordneter gesellschaftlicher Bezug.
1516 veröffentlichte der englische Gelehrte Thomas Morus "Utopia". Das war ein Roman, der "von dem besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia" handelte. Seither hat sich uns ein bestimmtes Bild der Insel eingeprägt, das auf den Titelholzschnitt der Originalausgabe zurückgeht: Es zeigt eine kleine Insel, die blühende Handelsbeziehungen mit der Außenwelt unterhält.
Das im belgischen Leuven publizierte Werk blieb in der Folgezeit prägend für das Verständnis von Utopie. In den Zeiten Heinrich XIII. schilderte der Autor eine ideale Gesellschaft, geprägt von demokratischen Gleichheitsgrundsätzen, Gerechtigkeit und Gemeinschaftsbesitz. Bereits der Buchtitel gab einen Hinweis darauf, dass die Insel weit entfernt vom Königreich England sein musste. Seit Erscheinen von Morus' Werk gilt: Das Andere - der Bezug auf ein Jenseits des Ortes, gemäß des Griechischen u-topos, und auf eine andere Gesellschaft - blieb kennzeichnend für das utopische Denken.

Marxisten brachten eine zeitliche Dimension ins Spiel

Später, in den sozialrevolutionären Utopien des 18. und 19. Jahrhunderts, kommt die zeitliche Dimension hinzu: Der utopische Ort wird in die Zukunft verlegt. Karl Marx sprach vom "Reich der Freiheit", in dem die Menschen, befreit von den kapitalistischen Produktionszwängen, ihre Anlagen und Bedürfnisse allseits ausbilden könnten. Bis ins letzte Jahrhundert hinein waren die Neomarxisten davon überzeugt, die künftige Entwicklung der Technik würde die menschliche Lebenswelt und die Beziehungen zwischen den Menschen verbessern. Erst heute sehen wir, dass dieser Glaube an die Funktion von Technik im Dienste einer gerechteren Gesellschaft ein Irrglauben war.
Die digitalen Techniken haben jedes Utopische in sich aufgesogen, bis das Bedürfnis danach zum Anachronismus wurde. Denn das Navigieren in den digitalen Welten hat sich der Koordinaten des Raums - griechisch: topos - entledigt. Aber auch des Gesellschaftlichen. Deswegen ist die Rede von den "sozialen Medien" purer Euphemismus. Und so lautet denn auch das von den Konzernzentralen in Silicon Valley gestreute Mantra "Selbstoptimierung". Woraus allerdings resultiert, dass tausend "Freunde" nichts weiter sind als tausend "Egos", die niemals zu einer sozialen Gemeinschaft zusammenfinden werden. Wenngleich die "sozialen Medien" nicht davon ablassen, genau das den Nutzern erfolgreich zu suggerieren. Wie bei der inflationären Produktion von Selfies werfen diese Medien uns das eigene Bild zurück, in das wir - wie Narziss in der griechischen Mythologie - selbstverliebt starren.

Die Utopie ist ins Technische abgewandert

Die Utopie hat sich heute vollständig vom Sozialen abgelöst und ist ins Technische abgewandert. Dort spricht man konsequent nicht von Utopien, sondern von Revolutionen. Tatsächlich werden "Revolutionen", ein Schritt in neue digitale Welten, in immer kürzeren Zeitspannen ausgerufen. Morgen wird schon, obwohl man sich gerade ans Alte gewöhnt hat, das allerneueste iPhone als das technische non plus ultra verkündet. Konsumentenerwartungen scheinen sich auf quasi religiöse Phänomene zu richten.
Der Sozialphilosoph Ernst Bloch bemerkte einmal, "der Fortschrittsbegriff ist einer der teuersten und wichtigsten". Allerdings bedeute er nichts ohne "gesellschaftlichen Auftrag" und "Zielinhalt". Blochs Fortschritt war utopisch und zukunftsweisend. Dieses Begriffsverständnis ist mittlerweile völlig ausgedünnt. In den digitalen Medien erscheint Fortschritt allein als grenzenloses Surfen durch schwerelose Clouds. Es ist ein Fortschritt ohne Ort, Gesellschaft und sozial vermittelter Zukunft.

Heute eröffnet im belgischen Leuven eine große Thomas-Morus-Ausstellung. 500 Jahre ist es her, dass dort "Utopia", der berühmte Entwurf einer idealen Welt veröffentlicht wurde.

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