Utopien in der Musik

"Durch Nacht zum Licht"

Die Beethoven-Statue auf dem Bonner Münsterplatz in der Geburtsstadt des Komponisten
Beethoven-Statue auf dem Bonner Münsterplatz: Die Fünfte als Inbegriff der musikalischen Utopie © picture alliance / dpa
Von Carolin Naujocks |
Ernst Bloch verstand Musik als "Spiegel des Utopischen". Utopie ist neu, wesentlich anders, emanzipatorisch und kritisch auf die Gegenwart gerichtet. Sie zeigt sich auch in der Art, wie Musik gedacht und gemacht wird.
"Durch Nacht zum Licht", Beethovens 5. Sinfonie: Der Inbegriff musikalischer Utopie. Beethovens Vision galt der Emanzipation des bürgerlichen Subjekts. Bekanntlich keine einfache Geschichte: Fasziniert von der französischen Revolution hatte er seine dritte noch Bonaparte widmen wollen. Das war, bevor dieser sich die Kaiserkrone aufsetze. Sie ging dann als "Eroica" in die Musikgeschichte ein: Beethoven brauchte keinen König mehr.

Musik als Seismograph fürs gesellschaftliche Sein

Musik, sagt Ernst Bloch, verhält sich "seismographisch" zum gesellschaftlichen Sein. Dass er Musik als "den Spiegel des Utopischen" schlechthin verstand, hat nicht nur mit ihrem prozesshaften, auf etwas Kommendes verweisenden Aspekt zu tun, der eng mit dem antizipierenden Wesen des Menschen verbunden ist. Es geht auch um ein Überschreiten, gerichtet auf Verhältnisse, die noch werden – auf den Menschen, der noch wird.
Utopien gibt es aus verschiedener Perspektive: Eine entspringt der Technikeuphorie, die sich seit der industriellen Revolution über den Wissenschafts- und Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts in die Cyberwelt verlängert.
Elektronik und Syntheziser haben völlig neuartiges Klangmaterial zur Verfügung gestellt. Als Universalwerkzeug befeuert der Computer die Machbarkeitsphantasie. Utopisch erscheint dann gleichbedeutend mit synthetisch. Neu soll der Sound sein, aber ist es auch die Musik?
Alle utopischen Entwürfe sind ein Stück weit subversiv. Ihnen liegt die Erfahrung zugrunde, dass die Verhältnisse nicht so sind, wie sie sein könnten.
Musikalisch zeigen sie sich nicht nur inhaltlich und dort, wo sich soziale Verhältnisse widerspiegeln, sie finden sich auch als kollektive Erfahrungen in der Art und Weise wider, wie Musik gedacht und gemacht wird.

Aus den eigenen Grenzen heraustreten

Utopisches Denken ist eines, das aus seinen eigenen Grenzen heraustritt - indem es sie reflektiert. Es geht darum, Denkweisen, die die technische Entwicklung unseres Jahrhunderts hervorgebracht hat, auf eben dieser historischen und philosophischen Höhe wirksam werden zu lassen: durch Selbstreflexion.
Oft wird das Utopische nur auf der Ausdrucksebene gesucht, mit Mitteln, die selbst noch konventionell sind. Dabei ist Musik mehr als nur Spiegel menschlichen Ausdrucks.
Am Ende geht es überhaupt nicht mehr um Ausdruck in der Musik, "sondern die Musik selber [steht] als Ausdruck zur Diskussion". "Konkrete Utopie" sagt Bloch und meint den Prozess der Verwirklichung, in dem die näheren Bestimmungen des Zukünftigen tastend und experimentierend hervorgebracht werden: als utopische Aspekte beim Erfinden, Spielen und Hören von Musik.
Was Musik seismografisch widerspiegelt, "bewegt sich immer zwischen den Polen Utopie und Ideologie". Wenn Musik die bestehende Ordnung ästhetisch reproduziert, erzeugt sie nur das illusionistische Bild einer heilen Gegenwelt. Auch die Arbeit am Sound ist dann nicht mehr als das Übermalen einer vergilbten Tapete.

Unbestimmte Ahnung als Vorbote

Dabei ginge es um die ästhetische Fokussierung eines Erwartungshorizonts.
Insofern kann Utopie musikalisch keine bestimmte expressive Signatur haben. Utopie ist neu, wesentlich anders, emanzipatorisch und kritisch auf die Gegenwart gerichtet.
Es gibt auch historische Musik, die utopisch ist; die ihren Relevanz nicht verloren hat, weil ihr ein Wahrheitsgehalt innewohnt, den die Verhältnisse nicht eingelöst haben.
Stefan George zitierend entlässt Arnold Schönberg seine Musik aus den Bestimmungen durch die Konvention: "Ich fühle Luft von anderem Planeten. Ich löse mich in Tönen kreisend, webend, dem großen Atmen wunschlos mich ergebend."
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
Ausschnitt aus "Paradies"© Bild: Imago
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