"Ohne Utopie gibt es keinen Fortschritt"
Politik ist in den letzten Jahren immer pragmatischer und "alternativloser" geworden - getreu dem Satz von Helmut Schmidt: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Der CDU-Politiker Heiner Geißler widerspricht: Ohne Utopie kein Fortschritt!
Ute Welty: 500 Jahre ist es jetzt her, dass "Utopia" erschien, das Buch des englischen Politikers und Juristen Thomas Morus, das Buch, das eine andere und womöglich bessere Form des Zusammenlebens beschreibt. Und wie Thomas Morus ist auch Heiner Geißler Politiker und Jurist, er ist aber auch Philosoph, war Novize bei den Jesuiten, CDU-Generalsekretär, Bundesgesundheitsminister und erfolgreicher Schlichter zum Beispiel in Bezug auf Stuttgart 21. Ob in einer so reichen und ereignisreichen Biografie Platz für Utopien bleibt, das kann ich jetzt mit ihm selber besprechen, guten Morgen, Herr Geißler!
Heiner Geißler: Guten Morgen!
Welty: Auch wenn "Utopia" 500 Jahre alt ist, was an Aktualität und Modernität können Sie bei Thomas Morus herauslesen?
Geißler: Wahrscheinlich ist "Utopia" das wichtigste Werk der Aufklärung, die allerdings noch ein bisschen auf sich warten ließ nach seinem gewaltsamen Tod. Aber er hat mit seinen Vorstellungen die Grundlage für vieles gelegt, was heute selbstverständlich ist. Und wir brauchen auch heute Entwürfe für das Zusammenleben der Menschen. Und das kann man nur dadurch erreichen, so wie das Thomas Morus gemacht hat. Ich habe ja ein Buch geschrieben mit dem Titel "Ou Topos", das heißt ins Deutsche übersetzt, übertragen übersetzt: "ein Land, das es nicht gibt". Aber man müsste es richtigerweise übersetzen: "ein Land, das es noch nicht gibt, ein Land, das es geben müsste". Und es ist ganz klar, dass solche Vorstellungen heute notwendiger sind als in jeder anderen Zeit.
"Die Utopie des Evangeliums ist noch nicht realisiert"
Welty: Inwieweit kann eine Beschreibung der Zukunft aus der Vergangenheit helfen, die Probleme der Gegenwart zu lösen? Oder anders gefragt: Helfen Utopien auch in Zeiten, wenn Lkw in Menschen auf Weihnachtsmärkte hineinfahren?
Geißler: Ja, erst recht ist dann eine solche Entwicklung, geistige Entwicklung der gesamten Menschheit notwendig. Es gibt die Utopie des Evangeliums, die Utopie der Bergpredigt. Das alles ist noch nicht realisiert. Die Utopie einer neuen Weltwirtschafts- und -friedensordnung, die Befreiung der Frauen ist weltweit nicht realisiert und braucht natürlich einen Entwurf. Man kann eben sagen, auch eine Utopie einer Gesellschaft, in der die Frauen vollkommen gleichberechtigt sind, auch im Islam, die Utopie einer multikulturellen Gesellschaft. Man wird auch darüber reden müssen, über Orte, die es nicht mehr geben darf, zum Beispiel Nationalismus. Die Utopie einer rechtsstaatlichen Demokratie. Das ist zurzeit notwendig in Europa für Polen, aber auch für Ungarn. Und die Utopie der Toleranz, etwas, was bei Thomas Morus eine ganz große Rolle gespielt hat. Also, wir kommen ohne Vorstellungen, ohne Entwürfe einer besseren Welt nicht aus. Es gibt ohne Utopie keinen Fortschritt für die Menschen.
Welty: Bei dem, was Sie gerade gesagt haben, kann ich mir schon denken, wie Sie die nächste Frage beantworten werden, ich stelle sie aber trotzdem, weil ich sie so wichtig finde: Ist die Idee, sich mit Zukunft zu beschäftigen, auch die richtige, um denen entgegenzutreten, die eher rückwärtsgewandt und rechtspopulistisch argumentieren?
Geißler: Das habe ich ja gerade schon angedeutet: Wenn man über Utopien redet und, sagen wir mal, die Utopie richtig übersetzt, dass man sagt, ein Land oder Orte oder, ja, eine Gesellschaft, die es noch nicht gibt, aber geben müsste, dann muss ich gleichzeitig auch in der Lage sein, über Gesellschaften, über Orte, über Länder zu reden und deren Inhalte und Strukturen, die es nicht mehr geben darf, die es früher gegeben hat und die eben negative Modelle gewesen sind – und dazu gehört der Rechtspopulismus, der Nationalismus – … ich muss sagen, leider auch mithilfe der Medien jetzt wieder deutlicher zutage tritt … Der Rechtsradikalismus wird frech und es gibt zu wenig Leute, die dieser Entwicklung entgegentreten, und zwar auch als Persönlichkeiten, auch mit der richtigen Sprache.
"Da hat Helmut Schmidt großen Schaden angerichtet"
Welty: Gibt es zu wenig Menschen, die an Utopien festhalten?
Geißler: Ja, das würde ich auch sagen. Ich meine, wir haben ja einen berühmten Staatsmann, so kann man ja sagen, der Helmut Schmidt, der viel Gutes getan hat, keine Frage. Aber mit dem Satz: "Wer an Utopien glaubt in der Politik, den muss man zum Arzt schicken", oder so ähnlich hat er sich ausgedrückt, da hat er großen Schaden angerichtet. Auch nach dem Krieg zum Beispiel, die soziale Marktwirtschaft war natürlich zunächst mal eine utopische Vorstellung. Und trotzdem ist durch die Verbindung von Ethik, der katholischen Soziallehre, der evangelischen Sozialethik und dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule etwas entstanden, was die alte soziale Frage, nämlich die Arbeiterfrage gelöst hat, zumindest bei uns in Deutschland. Ohne solche Entwürfe und Konzepte gibt es keinen Fortschritt auf der Erde und deswegen braucht man ja auch für eine bessere Entwicklung gegen Bürgerkriege, gegen die Ausbeutung, Gegenentwürfe zum kapitalistischen Wirtschaftssystem eben Vorstellungen, die kann man auch als Utopien bezeichnen, die man aber anstreben muss. Ohne solche Konzepte kann man gar keine Politik machen.
Welty: Wenn wir uns noch eine kleine Utopie in Bezug auf den heutigen Heiligen Abend erlauben, welche Botschaft, welche Kraft ziehen Sie aus Weihnachten?
Geißler: Ja, das ist ganz sicher etwas, was den Menschen Hoffnung gibt. Aber ich glaube, dass der christliche Glaube nicht darin bestehen kann, dass man fromm ist, die Hände faltet und nach oben schaut und Posaune bläst und Lieder singt und den Leuten ein Sündenbewusstsein einhämmert, sondern dass das gemacht wird, was derjenige, der da geboren worden ist, sein ganzes Leben lang praktiziert hat, nämlich an der Seite der kleinen Leute zu stehen und vor allem eben nicht nur die Gottesliebe, sondern die Nächstenliebe gepredigt hat. Und wenn das die Kirchen mehr in den Vordergrund schieben würden und Caritas und Diakonie nicht so Unterabteilungen der Ordinariate, der Oberkirchenräte werden würden, sondern wieder die zentrale Botschaft des Evangeliums darstellen würden, dann wäre das eine große Hilfe.
Welty: Diesen Gedanken nehmen wir sehr gerne mit in die Feiertage und ich bedanke mich herzlich bei Heiner Geißler, dem Christ und Demokraten und Christdemokraten, für dieses Gespräch, das wir aufgezeichnet haben. Frohe Weihnachten Ihnen!
Geißler: Ja, frohe Weihnachten, danke schön!
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Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?