Utopische Kraft der Nostalgie
Nostalgie gilt als sentimental und rückwärtsgewandt. Dabei schöpfen Menschen aus der Rückschau oft gute Ideen für die Zukunft, sagt Nostalgie-Forscher Tobias Becker. © imago / fStop Images / Malte Müller
Ein Blick zurück nach vorn
29:26 Minuten
Nostalgie ist verdächtig. Dass jemand ein schöngefärbtes Bild der Vergangenheit zeichne, sei ein beliebter Vorwurf im politischen Streit, sagt der Historiker Tobias Becker. Dabei berge der Blick zurück durchaus utopisches Potenzial.
„Früher war mehr Lametta.“ Der bekannte Ausspruch aus einem Weihnachtssketch von Loriot, treffe den Kern der nostalgischen Weltsicht, sagt der Historiker Tobias Becker vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
Zugleich zeige die zum geflügelten Wort gewordene Klage auch die Probleme des Konzepts Nostalgie, zu dem Becker ausgiebig geforscht hat. Die Feststellung, dass sinngemäß früher alles besser war, bleibe ausgesprochen vage. Wann genau soll dieses „Früher“ gewesen sein?
Kontrapunkt zum Fortschritts-Optimismus
Loriots Sketsch entstand in den Siebzigerjahren. Nostalgie hatte damals Konjunktur, so Becker. Einerseits prägte eine Retrowelle Kultur und Alltag: Rock 'n' Roll, Nierentisch und Petticoat erfuhren ein Revival.
Andererseits erschien die Zukunft vielen Menschen düster: Ölkrise, Umweltzerstörung, Angst vor der nuklearen Selbstvernichtung – es gab viele Gründe, sich zurückzusehnen nach der Geborgenheit vermeintlich besserer Zeiten. Hat Nostalgie also besonders Konjunktur, wenn von der Zukunft nichts Gutes zu erwarten ist?
Dieser Eindruck halte einer genaueren Betrachtung nicht stand, sagt Becker. Zu allen Zeiten hätten Menschen die Vorstellung gehabt, dass in einer mythischen Vorzeit bessere Verhältnisse herrschten. Schon die Antike habe auf ein „Goldenes Zeitalter“ zurückgeblickt.
Die Kritik an der Nostalgie allerdings sei ein modernes Phänomen. Denn der Fortschrittsoptimismus, der in der Folge der Französischen Revolution und der Industrialisierung zu einer treibenden Kraft der westlichen Gesellschaften wurde, habe im nostalgischen Blick zurück seinen Kontrapunkt gefunden.
Konservative und linke Nostalgie
Spätestens in den Sechziger-- und Siebzigerjahren formierte sich eine dezidierte Nostalgiekritik, sagt Becker. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und angesichts zunehmender Ausbeutung der natürlichen Ressourcen sei der Fortschrittsoptimismus eingebrochen.
Weil ihnen die Argumente ausgingen, um ihn zu verteidigen, verfielen Intellektuelle darauf, die angebliche Vergangenheitsseligkeit ihrer Kritiker anzugreifen, so Becker: eine Ausweichstrategie, „weil man nicht genau sagt, wo man selbst steht, sondern das Rückblicken der anderen attackiert.“
Der Vorwurf, auf die Vergangenheit fixiert zu sein und diese zu verklären, ziele meist auf konservative politische Kräfte, sagt Becker. Nichtsdestotrotz gebe es auch so etwas wie linke Nostalgie. Gerade die Siebzigerjahre seien ein wichtiger Bezugspunkt etwa für ökologische Bewegungen und eine Partei wie die Grünen, deren Ursprung in dieser Zeit liegt.
Inspiration für Zukunftsentwürfe
Wer Nostalgie grundsätzlich als rückwärtsgewandt abtut, unterschlage ihr kritisches, kreatives, der Zukunft durchaus zugewandtes Potenzial, betont Becker. Wer eine lebenswerte Zukunft entwerfen möchte, könne sich schließlich wertvolle Inspirationen aus der Vergangenheit holen.
Nicht umsonst würden sich etwa Umweltschützer produktiv auf einen Umgang mit der Natur vor der Industrialisierung der Landwirtschaft beziehen. Stadtplaner könnten davon profitieren, wenn sie historisch vor das Diktat der autofreundlichen Stadt zurückblickten.
„Darin entspricht die Nostalgie gewissermaßen der Utopie, dass man eine andere, eine alternative Welt konstruiert, die man herbeiführen will.“
(fka)