Valeria Luiselli: "Archiv der verlorenen Kinder"

Ein politischer Roman, der unterhält

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Buchcover zu Valeria Luisellis Roman "Archiv der verlorenen Kinder".
Verbindet Reise- und Fluchtgeschichten: Valeria Luisellis Roman "Archiv der verlorenen Kinder". © Antje Kunstmann
Von Gregor Dotzauer |
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In ihrer Road Novel "Archiv der verlorenen Kinder" verknüpft Valeria Luiselli die Reise einer US-amerikanischen Familie an die mexikanische Grenze mit den Geschichten geflüchteter Kinder, die genau in die entgegengesetzte Richtung unterwegs sind.
Noch nie haben die beiden Amerikas misstrauischer aufeinander gestarrt. Das Flüchtlingsdrama an der 3144 Kilometer langen Grenze zwischen Mexiko und den USA findet kein Ende und Donald Trumps Wahlversprechen, die bestehenden Sperren mit einer durchgehenden Mauer unüberwindlich zu machen, hat die Konflikte erst recht angeheizt.
Valeria Luisellis "Archiv der verlorenen Kinder" gibt dem Ganzen nun ein romanhaftes Gesicht, wobei fiktionale und dokumentarische Elemente einander durchdringen. Vom Aufbau her ist das Buch als große erzählerische Gegenbewegung angelegt.

Eine kaleidoskopartig zersplitterte Geschichte

Während von New York aus eine vierköpfige US-amerikanische Patchwork-Familie mit dem Auto in Richtung Arizona an die mexikanische Grenze aufbricht, streben Tausende von Kindern, vornehmlich auf Güterzügen, in die umgekehrte Richtung.
Die Mutter, aus deren Perspektive zunächst erzählt wird, hat eine fünfjährige Tochter in die Ehe mitgebracht, der Vater einen zehnjährigen Sohn. Die Eltern, zwischen denen es mehr und mehr kriselt, verdienen ihr Geld als Klangkünstler. Er will im Cochise County ein "Echo-Register" zur aussterbenden Kultur der Apachen anlegen, sie Stimmen von Flüchtlingskindern sammeln.
Schub gibt der in kurze Abschnitte unter wechselnden Stichworten kaleidoskopartig zersplitterten Geschichte die konkrete Suche nach zwei Schwestern aus Guatemala. Sie betreiben später auch die Stiefgeschwister: Heimlich machen sie sich davon und ziehen in den Echo Canyon in New Mexico los, wo sie die Verschollenen vermuten.

Erzählerisch komplex, autofiktional, intertextuell

In diese Road Novel schiebt sich ein Roman im Roman. Die "Elegien für verlorene Kinder" einer fiktiven Ella Camposanto imaginieren die Odyssee der Migranten mit suggestiver Kraft. Und das ist nur ein Teil der erzählerischen Komplexität. Zum einen trägt "Archiv der verlorenen Kinder" stark autofiktionale Züge: Luiselli hat die Reise an die Grenze zusammen mit ihrem Ex-Mann, dem Schriftsteller Álvaro Enrigue, 2014 selbst unternommen. Zum anderen verfährt der Roman hochgradig intertextuell und selbstbezüglich: Er verarbeitet mal mehr, mal weniger offen Zitate bewunderter Autoren und Autorinnen: Die entsprechenden Bücher reisen in sieben sorgsam katalogisierten Kisten mit der Familie durch die Lande.
Landkarten, Zeitungsausschnitte, Mortalitätsberichte zu Migranten: All dies arrangiert Luiselli zusammen mit angeblich von den Stiefgeschwistern aufgenommenen Polaroids zu einem gattungsüberschreitenden Konglomerat, dessen gewagtester Zug ein abrupter Perspektivenwechsel auf halber Strecke ist. Statt der Mutter erzählt auf einmal der zehnjährige Sohn. Details wiederholen sich und erscheinen plötzlich in einem anderen Licht: Der für das Buch wichtige Begriff des Echos erhält so einen tieferen Sinn.

Mit Experimentier- und Unterhaltungswille

Trotz dieser ehrgeizigen Strategien lässt sich Valeria Luisellis dritter, erstmals auf Englisch geschriebener und von Brigitte Jakobeit elegant übersetzter Roman erstaunlich leicht lesen. An den Schwergewichten gemessen, die er zwischen Joseph Conrad, Ezra Pound, Juan Rulfo und Roberto Bolaño ins Spiel bringt, wirkt er geradezu gefährlich leicht. Denn sprachlich erreicht Luiselli nur selten die Dichte ihrer literarischen Schmuggelware - und jubelt dem Zehnjährigen obendrein seinem Alter äußerst unangemessene, weil erwachsene Wörter und Gedanken unter.
Als politischer Roman, der aus seiner Haltung kein Hehl macht, ohne ihr propagandistisch Vorschub zu leisten, verbindet "Archiv der verlorenen Kinder" jedoch Experiment und Unterhaltungswillen auf eine Weise, wie man sie in dieser Gegenwärtigkeit nur selten findet.

Valeria Luiselli: "Archiv der verlorenen Kinder"
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Kunstmann Verlag, München 2019
432 Seiten, 25 Euro

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