Valerie Fritsch, "Herzklappen von Johnson & Johnson"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
175 Seiten, 22 Euro
Vererbte Traumata
06:57 Minuten
Ein Gendefekt sorgt dafür, dass Emil keine Schmerzen spürt. Deshalb muss er nachts eine Taucherbrille tragen, um die Augen zu schützen. Steckt dahinter die verschwiegene und verdrängte Kriegsschuld seines Urgroßvaters?
Der Begriff Familienroman bezeichnet nicht nur eine literarische Gattung, auch die Psychologie verwendet ihn. Sie beschreibt damit die Weitergabe von Ängsten, Traumata und Verhaltensmustern durch die Generationen. Kinder und Enkelkinder können an Erlebnissen leiden, die sich lange vor ihrer Geburt zugetragen haben, als wäre ihre Seele in einem vererbten Narrativ gefangen.
Vier Generationen im Bann verdrängter Schuld
Auf ebenso raffinierte wie souveräne Weise führt die österreichische Schriftstellerin Valerie Fritsch die beiden Bedeutungen des Begriffs zusammen. "Herzklappen von Johnson & Johnson" erzählt von vier Generationen, die im Bann einer verschwiegenen und verdrängten Schuld stehen. Sie geht auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück.
Äußerlich versehrt und innerlich zerrüttet kehrte der Großvater von Alma, der Hauptprotagonistin, aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in Kasachstan zurück. Nur in wenigen Momenten, nur betrunken gab er in Andeutungen preis, was er erlebt und was er verbrochen hat. Er war Opfer und Täter zugleich.
Als Soldat an der Ostfront hatte er Morde an Zivilisten, an Frauen und Kindern eines Dorfes begangen. Die entmenschlichende Abstumpfung, die ihn zu den Gräueltaten befähigte, liegt wie ein Bann über den Nachfahren und kehrt Jahrzehnte später in Gestalt eines Gendefekts bei seinem Urenkel wieder.
Emil, der kleine Sohn von Alma, empfindet keinerlei körperlichen Schmerz. Ob Knochenbrüche, blutende Wunden an Armen und Beinen, an der Herdplatte verbrannte Finger – nichts davon spürt der Junge. Er weiß und begreift nicht, was Schmerz sein soll.
Wenn er mit anderen Kindern im Freien spielt, muss er jede Stunde bei der Mutter erscheinen, um nachzusehen, ob er sich unbemerkt verletzt hat. Bevor er zu Bett geht, setzt Alma ihm eine Taucherbrille auf, damit er sich nicht im Schlaf an den Augen reibt und versehentlich die gesamte Augenhöhle auskratzt.
Poetik stilistischer und erzählerischer Verdichtung
Es sind solche Bilder, die dem Roman seine bezwingende, tief beunruhigende Wirkung und seine Brillanz verleihen. Bilder, denen man anmerkt, dass Valerie Fritsch nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch als Fotografin arbeitet. Sie verzichtet auf epische Ausführlichkeit, auf Dialoge, erschöpfende Charakterdarstellungen und anekdotische Szenen.
In eigensinniger Entfernung von dickleibigen Familienromanen, die sich auf dem Buchmarkt seit geraumer Zeit großer Beliebtheit erfreuen, entwickelt Valerie Fritsch ihre Poetik stilistischer und erzählerischer Verdichtung. Sie benötigt nicht mehr als 170 Prosaseiten, um das Mysterium der Schmerzunempfindlichkeit zu entwickeln, das aus dem Urenkel Emil ein Spiegelbild seines Urgroßvaters macht.
Vergegenwärtigung statt Versöhung
In ihrer Not sucht und findet Alma einen Weg, den Familienbann symbolisch zu brechen. Gemeinsam mit Emil und ihrem Mann unternimmt sie eine Reise an den Ort, wo das Trauma begann, zu dem ehemaligen Gefangenenlager in Kasachstan. Nicht Versöhnung, sondern Vergegenwärtigung ist das Thema dieses Romans, der durch literarische Intensität und sprachliche Präzision hervorsticht.