"Die Holocaust-Frage ist natürlich eine zentrale Frage"
08:00 Minuten
Was wusste Papst Pius XII. über den Massenmord an den Juden? Forscher dürfen nun in das Archiv des Vatikans, um Licht in die Jahre 1939 bis 1958 zu bringen. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat schon am ersten Tag einen überraschenden Fund gemacht.
Nicole Dittmer: Eugenio Pacelli, vielen vermutlich besser bekannt als Papst Pius XII. Ein Papst, hinter dessen Amtszeit viele Fragezeichen stehen. Seit Jahrzehnten fragen sich katholische wie auch jüdische Historiker, welche Rolle er im Nationalsozialismus gespielt hat, ob er mehr hätte tun müssen und können. Darauf könnte es in naher Zukunft Antworten geben. Denn seit heute morgen acht Uhr hat der Vatikan seine Archive für die Jahre 1939 bis 58 geöffnet. Das war die Amtszeit des umstrittenen Papstes.
Und einer der Forscher, die dort jetzt auf Spurensuche gehen dürfen, ist der Kirchenhistoriker Hubert Wolf, der soeben nach einem langen Tag im Archiv in Rom wieder Tageslicht gesehen hat. Herr Wolf, was war das denn für einen Moment heute Morgen, als sich die Tore des Archivs für Sie und wenige andere geöffnet haben?
Und einer der Forscher, die dort jetzt auf Spurensuche gehen dürfen, ist der Kirchenhistoriker Hubert Wolf, der soeben nach einem langen Tag im Archiv in Rom wieder Tageslicht gesehen hat. Herr Wolf, was war das denn für einen Moment heute Morgen, als sich die Tore des Archivs für Sie und wenige andere geöffnet haben?
Hubert Wolf: Ich meine, dass man in ein Archiv geht und von Kamerateams begleitet wird, ist für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und mich auch nicht selbstverständlich. Wenn man dann so zum ersten Mal in neue Serien reinguckt und sich klarmacht, das sind 400.000 Schachteln mit bis zu tausend Blatt und man sich dann überlegt: Womit fangen wir jetzt an? Welche Serien schauen wir zuerst durch? Es war schon großartig. Das möchte man eigentlich häufiger mal am Leben haben.
Noch unklar, wie in der Kurie gearbeitet wurde
Dittmer: Wie hoffnungsfroh sind Sie denn nach diesem ersten Recherche-Tag?
Wolf: Es ist eine unendliche Masse. Wir müssen uns ganz vorsichtig herantasten und einfach erst mal verstehen, wie die Entscheidungsfindungsprozesse innerhalb der Kurie überhaupt laufen. Also, was passiert, wenn eine Information von außen reinkommt? Wer sieht die? Wer legt die dem Papst vor? Von wem lässt sich der Papst beraten?
Und da haben wir heute schon begonnen. Wir haben auch schon einen ganz schönen Treffer gemacht. Nämlich aus der Nuntiatur in Bern in der Schweiz, wo jüdische Menschen sich an den Nuntius wenden und ihn bitten – 1943 –, der Papst möge etwas für die Juden in den Konzentrationslagern und Vernichtungslagern tun.
Und da haben wir heute schon begonnen. Wir haben auch schon einen ganz schönen Treffer gemacht. Nämlich aus der Nuntiatur in Bern in der Schweiz, wo jüdische Menschen sich an den Nuntius wenden und ihn bitten – 1943 –, der Papst möge etwas für die Juden in den Konzentrationslagern und Vernichtungslagern tun.
Und was uns total überrascht hat, war, dass da drei Bilder dabei waren: schreckliche Fotografieren von ausgemergelten Menschen, die in so Massengräber hineingestoßen werden. Also, ein überraschender Befund. Das heißt, der Vatikan wusste sehr genau Bescheid, auf jeden Fall 1943. Ich vermute schon viel früher, und jetzt müsste man eben die Spur weiterverfolgen. Was passiert mit dieser aus der Schweiz kommenden Informationen innerhalb der Kurie? Wann kriegt der Papst die zur Kenntnis? Und was wird dann intern diskutiert?
"Ein bisschen wie Troja ausgraben"
Dittmer: Es ist ja schon so ein bisschen unglaublich, so ein überraschender Fund direkt am ersten Tag. Sie haben es angesprochen: Es sind Millionen Dokumente, die da jetzt einsehbar sind. Schwer vorstellbar, wie man auch nur den größten Teil davon systematisch sichten will. Wie genau gehen Sie und andere da jetzt vor?
Wolf: Wir sind jetzt erst mal sieben Leute. Wir haben jeden Tag die Chance, fünf Schachteln zu sehen. Wir haben große Erfahrungen aus den letzten 20 Jahren mit den einschlägigen Serien. Das heißt, wir machen jetzt in jeder Serie, die uns wichtig erscheint, so Probebohrungen. Das ist so ein bisschen wie Troja ausgraben.
Dittmer: Was heißt konkret Serie?
Wolf: Also nehmen wir mal an, die Schweizer Apostolische Nuntiatur, die hat 250 Schachteln. In diese schauen wir jetzt mal rein. Dann gibt es eine Serie, die heißt "Kommissariat für die Migration", da habe ich mich heute mit drei Schachteln beschäftigt, um zu verstehen, dass es da auch um diese Pässe geht, die Nazi-Verbrecher und andere bekommen haben, um nach Argentinien verschwinden zu können. Was weiß der Papst? Wen setzt er ein? Wie sind die Unterkomitees organisiert? Der Vatikan gibt ja selbst keine Pässe, da braucht man das Rote Kreuz. Und wie kriegt man dann vor allem ein Visum? Da braucht man wieder eine Regierung. Da sind wir jetzt dabei, die vier, fünf Serien, die es da gibt, systematisch durchzugucken und so erste Spuren aufzunehmen.
Dittmer: Das heißt, Sie arbeiten jeder für sich. Und dann gibt es einen regelmäßigen Austausch nach dem Recherchetag, um zu sehen, …
Wolf: Wir arbeiten gemeinsam. Das ist genau abgestimmt, das ist ein generalstabsmäßiger Plan. Den haben wir uns schon in Münster ausgedacht: Wer schaut welche Inventare an? Wer bestellt wann welche fünf Schachteln? Die werden dann alle in einem gemeinsamen Online-Portal hochgeladen, sodass jeder von uns sieht, was der andere gesehen hat.
Wir werden uns jnachher zusammensetzen und den ersten Tag Revue passieren lassen. Dann werden wir feststellen, welche hohen Erwartungen enttäuscht worden sind, in welchen Beständen, und wo wir eben sagen, da lohnt es sich vielleicht morgen nochmal eine stärkere Konzentration draufzusetzen. Und so werden wir das die nächsten drei Wochen erst mal jeden Tag machen, um dann wieder in Münster noch mal zwei Wochen Pause einzulegen und die Ergebnisse noch mal zu schütteln. Bevor wir dann wieder drei Wochen herkommen und wieder beginnen auszugraben. Und hoffentlich jeden Tag mit irgendwelchen Nuggets.
Dittmer: Welche offenen Fragen interessieren Sie persönlich am meisten?
Wolf: Also, die Holocaust-Frage ist natürlich eine zentrale Frage. Mich interessiert aber auch so was wie: Warum lehnt sich der Heilige Stuhl so eng an die USA an? Ist es nur die Frage des Antikommunismus? Warum empfängt Pius XII. nach dem Krieg ständig Adenauer, Schuman und de Gasperi? Ist es die Gründung der Europäischen Union?
Und meine literarischen Interessen geben natürlich in die Richtung: Warum setzen die eigentlich Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre 1948 auf den Index der verbotenen Bücher, sodass Katholiken deren Werke bei Strafe der Exkommunikation nicht lesen dürfen? Das interessiert mich jetzt einfach mal. Da möchte ich meine eigene Neugier mal befriedigen.