Verena Bentele war von 1995 bis 2011 Mitglied der Nationalmannschaft im Skilanglauf und Biathlon. Sie gewann bei ihrer Teilnahme an vier Paralympischen Spielen, drei Weltmeisterschaften und zwei Europameisterschaften zwölf Goldmedaillen. 2011 schloss sie ihr Magisterstudium der Neueren Deutschen Literatur mit den Nebenfächern Sprachwissenschaften und Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München ab. Zudem machte sie eine Ausbildung zum Systemischen Coach. Seit 2011 arbeitete sie als freiberufliche Referentin im Bereich Personaltraining und -entwicklung. Von Januar 2014 bis Mitte 2018 war sie Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Anschließend übernahm die das Amt der Präsidentin des größten deutschen Sozialverbandes, VdK.
"Jedes Kind hat gute Startbedingungen verdient"
29:26 Minuten
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm. Trotz familienpolitischer Maßnahmen und jährlich 200 Milliarden Euro ändert sich daran nur zögerlich etwas. Es fehlt der große Wurf, kritisiert Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK.
Die beiden jüngsten Maßnahmenpakete, das Starke-Familien-Gesetz und das Bildungs- und Teilhabe-Gesetz seien "ein guter Schritt in die richtige Richtung", findet Verena Bentele. Aber eigentlich gehöre die gesamte Familienförderung "vom Kopf auf die Füße gestellt".
Viele wirklich Arme hätten etwa von Kindergelderhöhungen nichts, weil sie mit ihrer Arbeitslosenunterstützung verrechnet würden. Und Baukindergeld geht an dieser Bevölkerungsgruppe vollständig vorbei. So gelte trotz der beiden neuen Gesetzespakete, die Anfang August in Kraft getreten sind, im Kern weiter: "Das ist Mittelschichtsfamilienpolitik", so die VdK-Präsidentin.
"Kein Kind darf abgehängt werden"
Um die Förderung von Kindern unbürokratisch, leicht zugänglich und ohne Stigmatisierung zu ermöglichen, müssten zum einen Weichen im Bildungssystem und zum anderen bei der Betreuungsinfrastruktur gestellt werden. Aber es müsse zudem eine Kindergrundsicherung geben. Jedes Kind habe ein Anrecht auf die individuelle Sicherung seines soziokulturellen Existenzminimums, das ihm auch Teilhabe erlaube. Für die Finanzierung könnten und sollten "Reiche mehr einbezogen" werden. Das könnte beispielsweise in Form der Wiedereinführung der Vermögensteuer geschehen oder durch die Erhöhung von Steuern auf Kapital und große Erbschaften. Man könne, so Bentele, nicht zulassen, dass in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander gehe.
Die Idee, Erstklässler erst nach einem erfolgreichen Sprachtest einzuschulen, kritisierte Verena Bentele scharf. Es sei "völlig albern" zu fordern, dass Kinder wegen fehlender Deutschkenntnisse zurückgestellt werden sollten. Dies führe zu "neuer Stigmatisierung" und verstärke die Neigung im deutschen Bildungssystem, schnell und früh "auszusortieren". Vielmehr müsse spätestens mit Eintritt in den Kindergarten bei Defiziten konsequent, individuell gefördert werden - nicht nur bei mangelnder Sprachkompetenz.
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Frau Bentele, rund 200 Milliarden Euro gibt die öffentliche Hand jährlich für weit mehr als hundert verschiedene Leistungen zur Unterstützung von Familien aus. Zu diesen Leistungen gehören auch das sogenannte Starke-Familien-Gesetz und auch die Neuerungen beim Bildungs- und Teilhabegesetz, die in der vergangenen Woche in Kraft getreten sind.
Die finanzielle und die geldwerte Unterstützung für Haushalte mit Kindern wird mit diesen beiden Gesetzespaketen nochmal ausgeweitet und auch angehoben. Da kann man doch eigentlich nur sagen: Ein Hoch auf die Bundesregierung! Oder?
Verena Bentele: Ja, man kann natürlich schon sagen, dass es ein guter Schritt in die richtige Richtung ist, wenn Familien besser gefördert werden. Das ist erstmal für uns als VdK auch eine ganz wichtige Sache, weil wir natürlich wissen, wenn wir beispielsweise Rentenpolitik machen, wenn wir uns um Bereiche wie Gesundheitsversorgung und -förderung kümmern, ist es immer eine Sache, die bei den Kindern, bei den Familien, natürlich beginnt. Wir wissen beispielsweise, wer später eine gute Rente haben will, braucht erstmal eine gute Möglichkeit für Bildung und Ausbildung, braucht eine gute Möglichkeit auch für Teilhabe an Sport, an Freizeitaktivitäten, braucht eben einfach wirklich gute Startbedingungen, um dann gut ins Leben zu starten.
Deswegen finden wir erstmal Familienförderung einen ganz wichtigen Punkt und sagen auch, das sind schon Schritte in die richtige Richtung, dass mit dem Starke-Familien-Gesetz – übrigens ein sehr schöner Name, da weiß man dann gleich, woran man ist – tatsächlich schon auch richtige Schritte gegangen werden.
Förderung greift vor allem bei Familien mit Geld
Deutschlandfunk Kultur: Ihre Kollegen vom Paritätischen Gesamtverband sagen beispielsweise, dass es genau das nicht leistet, dass es die Familien nicht zielgerecht stärkt, dass dieses Gesetzespaket gefloppt hat, dass es eine peinliche Veranstaltung ist, dass es kleinliche Verbesserungen sind. Und auch die Grünen sprechen von "Schmalspurlösung". Diese Haltung teilen Sie also nicht?
Bentele: Na ja, ich sage: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn ich sagen würde: Es ist ein Super-Gesetz, wäre es schon was anderes. Ich finde erstmal gut, dass der Fokus auf Familienförderung ist. Fangen wir doch mal klein an.
Ansonsten, sehe ich schon, müsste man eigentlich die Familienförderung – nein, das "eigentlich" streichen wir mal wieder - man müsste die Familienförderung vom Kopf auf die Füße stellen, weil in Deutschland die Familienförderung sehr darauf abzielt, dass eigentlich Familien mit viel Geld und mit mehr Geld Unterstützung bekommen.
Wenn man sich nur mal anschaut, so was wie der Steuerfreibetrag für Kinder hilft vor allem Menschen, die viel Steuern zahlen, also die viel Geld haben. Auch das Kindergeld hilft natürlich den Menschen, die nicht beispielsweise Grundsicherungsleistung beantragen müssen. In der Grundsicherung wird das Kindergeld wieder angerechnet. Sprich: Den wirklich armen Familien helfen diese Leistungen wirklich gar nix.
Wenn man den großen Wurf wagen wollte, müssten beispielsweise so was wie Bildungsangebote, auch wie Sportangebote, wie gute Ernährung für Kinder, gerade aus ärmeren Familien, alles auch finanziert sein, dass eben nicht die Eltern sagen, wir sparen an diesen Dingen. Oder die Eltern können einfach gar nichts mehr sparen, weil sie gar nichts haben. Dann können die Kinder beispielsweise nicht am Sportprogramm nach der Schule teilnehmen und können kein Musikinstrument lernen, sich nicht gesund ernähren und beispielsweise mal nachmittags noch in irgendeinen Kurs gehen und eine andere Sprache lernen.
Für jeden Schulausflug einen neuen Antrag stellen
Deutschlandfunk Kultur: Wir wollen noch intensiver darüber diskutieren, was man alles besser, viel besser machen könnte. Lassen Sie uns im Moment noch anschauen, was mit diesen beiden Gesetzespaketen passiert. Bei dem Teilhabegesetz geht es darum, dass mehr Geld für Schulbedarf von Kindern und für die Freizeitgestaltung ausgegeben wird, dass Nachhilfe auch übernommen wird, wenn nicht schon Versetzungsgefahr besteht, dass Schulausflüge bezahlt werden, Klassenreisen, dass es beim Schulessen keine Selbstbeteiligung mehr gibt und der Öffentliche Nahverkehr für Leistungsempfänger frei wird. Stärkt das die Richtigen?
Bentele: Das würde ich schon hoffen, dass das natürlich bei den Richtigen ankommt. Das Problem, das ich vielmehr sehe, ist, dass viele dieser Familien, die es wirklich brauchen, von den Leistungen vielleicht gar nichts wissen und dass man natürlich ständig Anträge stellen muss. Das ist schon eine Stigmatisierung für viele Menschen und hoch komplex. Das ist für viele Familien eine ziemlich schwierige und unangenehme Situation, wenn sie ständig für jeden Schulausflug und für alles einen Antrag stellen müssen. Das ist auch ein großer Kritikpunkt, den wir als VdK an dem Teilhabepaket und Starke-Familiengesetz haben, dass die Beantragung sehr kompliziert ist. Das ist für die Kinder nicht wahnsinnig fair, wenn die Eltern erstmal extrem gefordert sind und sich auch richtig gut auskennen müssen in unserem Sozialstaat.
Deutschlandfunk Kultur: Der Zugang zur Leistung ist in der Tat ein Problem, wobei ich nicht weiß, ob es an der möglichen Sorge vor Stigmatisierung liegt. Jedenfalls hat das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik eine Umfrage unter Leistungsberechtigten gemacht. Die haben gesagt: "Nein, das ist nicht das Thema." Richtig ist aber, dass beispielsweise der Teilhabebetrag, also für Musikunterricht oder für Sportvereine nur von 15 Prozent derjenigen abgerufen wird, die eine Berechtigung hätten. Wie kriegt man die Leistung besser zu denen?
Bentele: In solchen Umfragen sagt sicher keiner, "ich habe Angst vor Stigmatisierung". Eigentlich ist es auch egal. Wenn man sieht, dass eben nur 15 Prozent der Leistungsberechtigten die Leistung abrufen, dann kann man klar nach den Ursachen fahnden und kann sagen: Okay, vielleicht ist es den Eltern gar nicht so bewusst, was man damit Gutes tun kann. Oder es ist ihnen vielleicht auch nicht so wichtig. Oder es ist ihnen zu kompliziert, die Anträge zu stellen.
Es ist ein Riesenproblem, weil für die Kinder der Start ihres Lebens stattfindet, wenn sie klein sind, wenn sie am Lernen sind, wenn sie offen sind für Neues. Dann ist der Moment, wo wir auch als Gesellschaft sagen müssen: Da können wir am meisten jungen Menschen mitgeben und können sie am meisten prägen und unterstützen.
Politik der Gießkanne vermeiden
Deutschlandfunk Kultur: Die Schwierigkeit bei "zielgenau" ist immer, dass man tatsächlich auch wissen muss, wem man, wieviel, unter welchen Umständen hilft. Das macht es bürokratisch. Das ist auch ein Kritikpunkt beispielsweise an dem Bildungs- und Teilhabepaket, dass schon allein 20 bis 30 Prozent der Gelder in Bürokratiekosten fließen.
Nur wenn man nicht mehr schaut, wer hat welche Bedürfnisse, welche Ansprüche, sondern allen die gleichen Leistungen geben würde, dann fällt zwar Stigmatisierung weg, dann fällt Bürokratie weg, aber dann haben wir auch die große Gießkanne.
Bentele: Ja, deswegen muss man natürlich schon ein System finden, in dem das ein bisschen vereinfacht wird. Eine Möglichkeit wäre natürlich, es wirklich auch übers Bildungssystem zu lösen, dass wir beispielsweise sagen: durch Ganztagsbildungsangebote in denen auch Sportprogramme stattfinden, auch um Musikinstrumente zu lernen - all diese Dinge eben auch vielleicht ein Stück weit eingebunden sind, dann könnte man damit schon sehr viel gut machen. Natürlich trifft man damit auch – in Anführungsstrichen – Kinder, die vielleicht nicht bedürftig sind, aber das wäre wirklich eine faire Lösung, dass man eben viel im Bildungssystem regelt.
Deutschlandfunk Kultur: Inwieweit könnte man alleine durch die Verlängerung von Bewilligungszeiträumen - also für welchen Zeitraum eine bestimmte Leistung bewilligt wird - die Sache schon mal entbürokratisieren. Wenn man eine zuständige Stelle hätte, wo sich all die Leistungen bündeln ließen oder das Ganze online machen würde - also den Zugang zu den Anträgen vereinfachen, deutlicher machen, sichtbarer machen und den Zeitraum, für den man etwas beantragt, verlängern?
Bentele: Genau. Eine unserer wichtigsten Forderungen ist, dass die Leistungen, wie man immer so schön sagt, aus einer Hand kommen, also von einer Stelle, die für alle Leistungen zuständig ist; dass man eben nicht zum Jugendamt, zum Sozialamt gehen muss, dass man noch gucken muss, was brauche ich für die Bildung, was brauche ich für den Sport, was brauche ich für Kleidung. Das sind heute so viele unterschiedliche Stellen, zu denen man gehen muss. Das ist sicherlich eine große Überforderung für viele Familien. Viele, da bin ich immer noch der Überzeugung, wissen auch nicht wirklich, was es alles gibt. Die Kommunikation, was es alles für Möglichkeiten gibt, ist sicherlich auch noch ausbaufähig.
Jobcenter ist nicht die richtige Stelle
Deutschlandfunk Kultur: Wo sollte man die Leistungen bündeln? "Beim Arbeitsamt", sagt Ihr Kollege vom Paritätischen Gesamtverband Ulrich Schneider, "wäre die falsche Stelle, weil Kinder keine kleinen Arbeitslosen sind".
Bentele: Nein, Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen. So ist am Ende vielleicht gar nicht so wichtig, wie es passiert, aber die richtige Behörde wäre für mich beispielsweise ein Jugendamt. Das hat auch eine andere Konnotation als das Sozialamt. Ich meine, die Arbeitsagentur, die Jobcenter, das da zu bündeln, halte ich auch nicht so richtig für sinnvoll, weil Teilhabeleistungen, in dem Sinne wie Kinder das brauchen, ist jetzt nichts, was im Leistungsbegriff der Arbeitsagentur implementiert ist.
Deutschlandfunk Kultur: Das Verrückte erscheint mir, dass die Bundesregierung selbst schon fast davon ausgeht, dass nur ein Teil die Leistungen, die ihnen zustehen, in Anspruch nehmen wird. Wenn man zum Beispiel diesen Kinderzuschlag nimmt, der jetzt erhöht wurde, und auch die Gruppe der Berechtigten erweitert wurde, dann nehmen den zurzeit rund 30 Prozent in Anspruch. Seit dem 1. August können mehr Eltern und auch einen höheren Betrag abrufen, und zwar immer dann, wenn das Familieneinkommen so gering ist, dass es da einen Kinderzuschlag gibt.
35 Prozent, sagt die Bundesregierung, werden diesen veränderten Kinderzuschlag in Anspruch nehmen. Das ist immer noch nicht viel mehr als ein Drittel.
Bentele: Das zeigt auch ein bisschen die Krux von dem System. Man müsste doch gucken, wie man allen, die prinzipiell leistungsberechtigt sind, diesen Zugang auch ermöglicht. Wenn man das wirklich Ernst meint, dann müsste man sagen, gut, dann ist es auch die Verantwortung nicht nur der Einzelnen, sich zu informieren, was kriege ich, sondern dann kann man auch sagen: Da muss man direkt, schon wenn jemand Sozialleistungen beantragt und damit anspruchsberechtigt wird, auch sofort sagen: "Gut, im Übrigen haben Sie mit Ihren zwei Kindern noch den Anspruch auf den Zuschlag. Wir bewilligen Ihnen den, ohne dass Sie dafür jetzt noch einen Antrag stellen." Das würde die Bürokratiekosten senken, weil das eine automatische Leistung wäre, die bewilligt würde. Außerdem würde es auch davon entbinden, dass alle einzeln über so was wie den Familienzuschlag informiert werden müssen.
Die Personen, die das betrifft, haben ganz andere Herausforderungen. Die sind nicht jeden Morgen involviert, um zu gucken, was hat sich im Leistungskatalog geändert.
Alleinerziehende zielgenau vor Armut schützen
Deutschlandfunk Kultur: Würden Sie sagen, das Wichtigere ist gar nicht, dass dieser Zuschlag bei erwerbstätigen Eltern, deren Einkommen nicht ausreicht, steigt von 170 auf 185 Euro, sondern dass er so gestaltet wird, dass er eben auch für Alleinerziehende greift?
Bentele: Genau. Das ist schon ein ganz großer Punkt. Wir haben neulich wieder auch die neue Armutsstatistik bekommen. Da ist schon die Gruppe der Alleinerziehenden eine der hauptarmutsgefährdeten. Daher ist das für mich wirklich ein ganz wesentlicher Punkt, dass man den Personenkreis zielgenauer unterstützt, um auch die Armutsgefährdung runter zu kriegen.
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt eine Studie zur Einkommensungleichheit von Familien. Die ist in der letzten Woche veröffentlicht worden, mit Daten des Statistischen Bundesamtes. Aus denen geht hervor, dass die Kluft zwischen Armen und Reichen all den familienpolitischen Maßnahmen zum Trotz und sozialen Leistungen zum Trotz wächst. Werden die Armen ärmer?
Bentele: Auf jeden Fall werden die Armen ärmer. Armut wird meintes Erachtens wirklich auch immer mehr das größte Thema, das Problem der Zukunft oder – wie wir es als Sozialverband VdK sagen würden – dann auch die Umverteilung, also wie auch Menschen, die wenig haben, mehr an unserem Wohlstand, an unserer guten wirtschaftlichen Situation, in der wir immer noch sind, auch teilhaben können.
Da ist schon ein wesentlicher Punkt: Wenn beispielsweise die Kinderbetreuung in Deutschland immer noch so teuer ist und nicht überall verfügbar ist, bedeutet das für viele Familien, das sein Elternteil eben nicht voll oder überhaupt arbeiten gehen kann. Das ist sicherlich auch ein kulturelles Thema, aber es ist vor allem ein Thema in den Strukturen der Betreuung.
Arme Kinder sind immer noch arm
Deutschlandfunk Kultur: Das Institut der deutschen Wirtschaft sagt, dass diese Zahlen zum einen veraltet sind, auf denen das Statistische Bundesamt aufbaut. Das ist auch so, denn die jüngsten Zahlen sind von 2013. Das Institut der deutschen Wirtschaft sagt zudem, es sei eben nicht so, dass diese Schere weiter aufgeht, ganz im Gegenteil. Das habe etwas damit zu tun, dass wir inzwischen einen Mindestlohn haben und dass auch gerade die untersten Löhne überproportional gestiegen sind, im Vergleich zu denen der Durchschnittsverdiener und dass die materiellen Entbehrungen von Kindern und Jugendlichen zurückgegangen seien und sogar nachgerade auf dem Tiefstand wären.
Bentele: Ich würde schon davon ausgehen - weil das unsere Beratungspraxis zeigt - dass die armen Kinder tatsächlich immer noch arm sind. Meines Erachtens ist schon der Punkt, dass wir trotz Mindestlohn und trotz guter Beschäftigungszahlen immer noch schauen müssen, wie wir auch wirklich kein Kind abhängen. Jedes Kind hat einfach verdient, gute Startbedingungen zu haben.
Dass die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, ist schon ein ganz deutlicher Punkt. In Deutschland gibt es immer mehr Millionäre und Milliardäre und im Gegensatz dazu auch immer mehr Menschen, die wirklich wahnsinnig wenig haben, weil zwar natürlich die Löhne gestiegen sind und auch der Mindestlohn da ein bisschen vorsorgt, aber die Lebenshaltungskosten oder beispielsweise die Mietkosten sind irre hoch. Das bedeutet für viele Menschen, dass da, wo es Arbeit gibt, das Leben einfach auch sauteuer ist.
Deutschlandfunk Kultur: Eine Kritik, die auch von den Linken und den Grünen an der Familienpolitik der Bundesregierung kommt: Die sei Mittelschichtspolitik – sechs Milliarden für Baukindergeld und die Kindergelderhöhung in dieser Legislaturperiode, aber eben nur 1,3 Milliarden für die Maßnahmen aus dem Gesetzespaket mit dem schönen Namen Starke-Familien-Gesetzespaket. Ist das Mittelschichtsfamilienpolitik, die im Großen und Ganzen gemacht wird?
Bentele: Ja, würde ich schon sagen. Das ist eine Mittelschichtsfamilienpolitik. Wer baut ein Haus? Das sind eher nicht die Familien, die wenig Geld haben. Das Thema Kindergeld ist auch eine schöne Sache. Von der Kindergelderhöhung haben die Familien im Hartz-4-Bezug überhaupt nichts. Deswegen, wer wirklich mal die Kinder unterstützen möchte, die wirklich dringend Bedarf haben, der müsste beispielsweise eine eigene Kindergrundsicherung einführen.
Das fordern nicht nur wir als VdK Deutschland, das fordern auch andere, dass es eben für Kinder wirklich auch spezielle Leistungen gibt, wo dann die Familien selbst entscheiden können, was sie damit machen – ob sie es eher für Sport ausgeben oder für Musikunterricht oder vielleicht auch dafür, mal irgendwo ins Ausland zu fahren, mal einen Urlaub zu machen, um zu verstehen, warum man beispielsweise Englisch lernen sollte in der Schule. Das sind alles Dinge, die mir ganz wichtig sind, dass Kinder aus wirklich armen Familien von den meisten Erhöhungen, die hier gerade stattfinden, wie Kindergelderhöhung, überhaupt nichts haben.
Geringere Mehrwertsteuer auf Windeln statt auf Katzenfutter
Deutschlandfunk Kultur: Bleiben wir erstmal noch unterhalb so eines Paradigmenwechsels. Was wäre das tatsächlich, wenn man die ganzen Einzelmaßnahmen damit unter diesem Dach zusammenfassen würde. Aber es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten, zum Beispiel folgende Idee: Was halten Sie von der, dass man die Mehrwertsteuer auf kinderspezifische Produkte senkt? Statt reduzierten sieben Prozent auf, was weiß ich, Rennpferde, Hotelübernachtungen, Wachteleier und Katzenfutter, lieber auf Babynahrung und Windeln und Kinderschuhe, die bisher mit 19 Prozent belastet sind.
Bentele: Darüber kann man sicherlich sprechen. Ich habe in meinem Umfeld gerade Drillinge. Was das kostet, für Drillinge beispielsweise Windeln anzuschaffen, das ist richtig teuer. Gerade wenn Familien sich auch dafür entscheiden, wirklich Kinder zu haben, auch mehr Kinder vielleicht zu haben, finde ich, ist es wirklich eine Sache, die man als Staat auch unterstützen sollte, entweder, indem man tatsächlich über steuerpolitische Instrumente an die Sache rangeht oder indem man halt auch da wieder sagt: Gut, man sorgt dafür, dass Familien, die wirklich Unterstützung brauchen, noch mal ein bisschen Zuschlag für diese kinderspezifischen Geschichten kriegen. Da sind wir am Ende wieder bei der Kindergrundsicherung, die so was eben auch abdecken würde.
Deutschlandfunk Kultur: Wir sind immer wieder bei der Frage: Gezielt und damit kompliziert oder Gießkanne? Berlin beispielsweise hat den großen Plan, die familienfreundlichste Stadt nicht nur Deutschlands, sondern der Welt zu werden. Ein Schritt dahin ist zum 1. August gegangen worden. Alle 360.000 Berliner Schüler dürfen seit voriger Woche die BVG, also die öffentlichen Nahverkehrsmittel kostenlos nutzen. Alle bekommen von der ersten bis zur sechsten Klasse kostenloses Schulessen und alle ersten und zweiten Klassen kostenlose Hortplätze. Das ist einfach. Das ist nachvollziehbar. Das ist unbürokratisch, aber es ist Gießkanne.
Bentele: Ja, aber das fördert in dem Fall natürlich auch eine Gleichberechtigung. Es ist schon ein bisschen Gießkanne, aber wenn wir zum Beispiel wissen - gerade so was wie Schulessen - dass das dann eben für viele, die vielleicht bisher wissen, na ja, ich verdiene vielleicht ein ganz klein wenig zu viel, werde deshalb keine Unterstützung fürs Schulessen kriegen, dass genau solche Kinder von diesen Eltern erwischt man mit so einem Prinzip schon. Gerade ein kostenloses Schulessen finde ich eine richtig sinnvolle Sache, dass Kinder mindestens einmal nach dem anstrengenden Schulvormittag was Gescheites zu essen kriegen.
Und die kostenlose Kinderbetreuung ist schon, finde ich, ein Prinzip, das sich lohnt, weil dann auch die Eltern entscheiden müssen, zahle ich jetzt lieber was für den Hortplatz oder entscheide ich mich vielleicht arbeiten zu gehen, haben diese Entscheidung natürlich nicht mehr. Sonst wissen wir doch alle, dass die Rechnerei los geht: Ist es jetzt billiger einen Hortplatz zu bezahlen oder ist es billiger, wenn ich zuhause bleibe und auf die Kinder aufpasse, die betreue und eben nicht arbeiten gehen kann.
Was man auch sagen muss: Die Eltern der Kinder, die mehr Geld haben, zahlen natürlich auch mehr Steuern. Das ist auch eine Sache. Deswegen kann man auch sagen, dass man natürlich auch für die Kinder dann das Schulmittagessen zur Verfügung stellt.
Den Neigungen gerecht werden
Deutschlandfunk Kultur: Die große Frage ist immer: Will man sich eher auf Sachleistungen und auf infrastrukturelle Maßnahmen konzentrieren oder auf Geldleistungen? Ist das für Sie ein Entweder-oder?
Bentele: Nein, es ist sicherlich kein Entweder-oder. Es gibt ja für beides ein Für und Wider. Und es gibt vor allem auch für beides eine Berechtigung. Die Sachleistungen können eine gute Sache sein, wie zum Beispiel beim Schulmittagessen. Das ist sicherlich sinnvoll zu sagen, man stellt das Essen zur Verfügung und macht es nicht so, dass man dafür irgendwelche Gelder ausschüttet.
Bei anderen Themen ist es ein bisschen schwieriger. Das sehen wir immer wieder. Wenn wir nur Sachleistungen bewilligen würden, dann schränkt das natürlich die handelnden Personen sehr in ihrer Freiheit ein. Wenn wir jedem Kind ermöglichen wollen als Sachleistung, dass es irgendwie ein Musikinstrument bekommt und jedes Kind kriegt die Blockflöte - ich sage es mal etwas pauschal - dann gibt es sicherlich viele Kinder, die sagen: "Ich wollte noch nie Blockflöte lernen."
Ich fand das super, Blockflöte zu spielen, ich als Verena, aber das findet nicht jeder toll. Deswegen ist es natürlich eine Sache, wo wir sagen, da muss es halt auch eine Freiheit geben. Kinder sind individuell, wie alle Menschen. Die haben unterschiedliche Neigungen und haben unterschiedliche Talente. Denen muss man natürlich auch Rechnung tragen.
Gute Rahmenbedingungen sind wichtig
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt diejenigen Stimmen, die sagen: Sachleistungen, Geldleistungen - das ist das eine, beides vielleicht nicht verzichtbar. Aber letztendlich geht es darum, dass man strukturelle und infrastrukturelle Maßnahmen tatsächlich durchführt. Wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, wenn es um gut bezahlte Arbeit geht, wenn es um Ganztagsbetreuung geht, die dann auch flexiblere Öffnungszeiten haben muss, wenn es um bezahlbare Mieten geht. Dann sind wir bei den ganz großen Brocken.
Bentele: Genau, die Kinderbetreuung ist sicherlich ein Riesenproblem für viele, auch gerade für viele Alleinerziehende, die arbeiten, berufstätig sein wollen und auch müssen, warum sie dann auch sagen, "gut, dann kann ich halt vielleicht nur 20 Stunden arbeiten und habe damit natürlich auch deutlich weniger Geld zur Verfügung". Wenn wir keine Kita haben, die morgens um 7 Uhr schon aufmacht oder auch mal abends bis um 9 Uhr auf hat, wenn jemand vielleicht auch in einem Job arbeitet, wo man länger bleiben muss und nicht um 3 Uhr gehen kann, dann ist das nämlich genau die Punkt.
Das Wichtigste ist sicherlich, nicht zu überlegen, wie kann man mit Gießkanne Geld verteilen, wie kann man Sach- und Geldleistungen bewilligen, sondern, wie kann man den Familien wirklich helfen, indem sie andere Rahmenbedingungen haben, indem sie zum Beispiel finanzierbaren Wohnraum haben, indem sie beispielsweise auch eine gute Möglichkeit haben, eine Berufstätigkeit zu finden, die anständig bezahlt ist. Das sind alles Themen, wo ich auch meine, das wäre die eigentlich die am allerbesten funktionierende Förderung.
Alles andere kann immer nur eine Lösung sein für die Kinder, für die halt jetzt im Moment die Systeme noch nicht funktionieren, noch nicht greifen. Weil, die Kinder sind jetzt Kinder. Die können wir jetzt prägen. Da können wir auch jetzt dafür sorgen, dass sie eine gute Bildungsbiographie haben und dann selbst auch einen guten Einstieg in ihr Berufsleben und ihr soziales Leben schaffen.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn Bildung so ungeheuer wichtig ist, und das weiß man, dass mindere Bildungsabschlüsse die Chancen am Arbeitsmarkt verringern …
Bentele: Oder gar kein Abschluss. Viele Kinder haben gar keinen Abschluss. Das ist ein Drama in einem reichen Land wie Deutschland. Bildung sollte wirklich ein verfügbares Gut sein. Das hat doch nichts mit Gießkanne zu tun, sondern es sollte wirklich für jeden verfügbar sein – egal, aus welcher Einkommensschicht man kommt und egal, was die Eltern für eine Bildung haben.
Kinder müssen gefördert werden
Deutschlandfunk Kultur: Und erhöht es die Bildungschancen, wenn man Sprachtests beim Schuleingang einführt, wie gerade aktuell diskutiert wird?
Bentele: Ich bitte Sie. Das ist völlig albern. Wenn man so was fordert, dass die Kinder dann zurückgestellt werden - also wieder ein Ausschlussprinzip. So eine Stigmatisierung macht ein Bildungssystem extrem kaputt. Das hat schon immer "wunderbar" funktioniert, wenn man gesagt, "ja, die Kinder haben eine Behinderung. Die Kinder können nicht richtig sprechen, die muss man erstmal aussortieren. Die muss man erstmal irgendwo abstellen." Das ist meines Erachtens der absolut falsche Weg. Man muss sie fördern. Man muss sie auch da fördern, wo eben alle anderen sind und nicht sie aussortieren und ihnen sagen: "Du genügst unseren Anforderungen nicht."
Deutschlandfunk Kultur: Na ja, vielleicht nicht aussortieren, aber sie herausfinden, wer Schwierigkeiten hat, und dann eben entsprechend bis zum Schuleingang fördern.
Bentele: Ja klar, aber das kann nicht damit auffangen, dass man bis zum Schuleingang nix macht. Dann sieht man irgendwann: Ach, das läuft hier irgendwie schlecht, wir stellen dich mal zurück und fangen dann an, Sprachunterricht zu machen. Wer das ernsthaft möchte, der muss das von Anfang an beginnen. Der muss in der Kita schauen, wo sind Kinder, die Herausforderungen haben mit der Sprache, und denen deutlich früher Angebote machen, die eben in der Kita stattfinden, im Kindergarten, die auch vielleicht eben in der Freizeitbetreuung stattfinden.
Und in der Schule ist es für mich genau das Gleiche: In Bildung zu investieren, also mehr Lehrer und Personen, die Sprachförderung machen, einzustellen, das ist sicherlich eine Investition, die sich total lohnt. Aber, wie gesagt, da unser Bildungssystem sehr aufs Sortieren beschränkt ist, dass man dann auch immer gucken muss, in welche Schule schaffst du es eigentlich, bleibst du auf der Gesamtschule oder kommst du aufs tolle Gymnasium - das ist auch was, glaube ich, wo wir sehr viel kaputtmachen können, indem Kinder sehr schnell in eine Kategorie gepackt werden, in die sie eben passen, ob sie "klug" genug sind oder eben nicht. Erstmal ist es wirklich viel wichtiger, den Kindern in unserem Bildungssystem eine gute Förderung zu geben, auch eine individuelle, auch was Sprachförderung angeht, aber auch was die Förderung anderer Kompetenzen angeht.
Kinder haben Rechte
Deutschlandfunk Kultur: Wir haben das Stichwort Kindergrundsicherung schon ein paarmal gestreift. Es geht um mehr als tatsächlich nur Existenzsicherung im Sinne von Nahrung, Schulbesuch, Dach über dem Kopf. Es geht um ein soziokulturelles Existenzminimum, was auch Teilhabe möglich macht. Von wie viel reden wir denn hier?
Bentele: Ich finde es immer schwierig, mit Zahlen um sich zu werfen, weil natürlich sagen dann auch gleich wieder viele Leute: "Na ja, das ist jetzt hier mit der Gießkanne Geld verteilen." Aber ich würde das Pferd mal andersrum aufzäumen, nicht so sehr vom Geldbetrag her, sondern eher davon: Was muss eigentlich dafür alles gewährleistet sein? Klar ist, Kinder haben beispielsweise Recht auf ein Zimmer, in dem sie sich gerne aufhalten, haben ein Recht darauf, vernünftiges Essen zu kriegen, auch mal gesundes Essen zu kriegen. Kinder haben ein Recht darauf, Klamotten zu habe, haben ein Recht darauf, Sportverein, Musikschule und andere Teilhabemöglichkeiten zu besuchen oder auch mal zu einem Kindergeburtstag zu gehen.
Wer weiß - das muss man jetzt auch nicht gut finden - dass heute Kindergeburtstag immer bedeutet: Du musst auch ein Geschenk mitbringen, du muss irgendwie, was weiß ich, noch einen Eintritt bezahlen. So ist es nun mal heute, wissen wir eben auch aus der Praxis, dass viele Kinder natürlich allein dadurch ausgeschlossen werden, indem sie sich das einfach nicht leisten können, mal einen Eintritt ins Schwimmbad zu bezahlen, um mit den Klassenkameraden nachmittags ins Schwimmbad zu gehen oder sich vielleicht nicht das Geburtstagsgeschenk für fünf Euro für den Klassenkameraden leisten können.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn Sie sich nicht auf einen Betrag festlegen wollen, es kursieren Beträge grob zwischen 500 und 635 Euro bei den verschiedenen Modellen. Aber das Modell als solches, das ist schon interessant und auch wichtig. Denn es gibt die Möglichkeit, entweder zu sagen, alle Kinder immer denselben Betrag, oder es gibt die Möglichkeit zu sagen, der Betrag, der ausgezahlt wird als Kindergrundsicherung, ist abhängig vom Einkommen der Eltern. Und dann haben wir wieder das schon vorab diskutierte Problem. Dann muss man bedarfsorientiert herausfinden, wie viel den Einzelnen zusteht. Dann wird es bürokratisch und schwierig. Aber tut man das nicht, wird es ungerecht.
Bentele: Genau, tut man es nicht, wird es ungerecht. Wobei man hier schon sagen muss, wenn man dann wieder das nur für die Kinder ausschütten würde, deren Eltern im Hartz-4-Bezug sind, hätte man wieder das Problem, dass es da natürlich wieder Einkommensobergrenzen gibt. Dann gibt es wieder die Eltern, die doch Geld verdienen, die ein Stück weit oberhalb der Grundsicherung verdienen und für die das dann schon finanziell ein deutlicher Nachteil wäre.
Deswegen, einen radikalen Schnitt zu machen, das geht in dem Thema sicherlich nicht, dass man sagt, die einen kriegen es. Wenn die Eltern eben im Hartz-4-Bezug sind und Grundsicherungsleistung beantragen, die kriegen dann die Kindergrundsicherung. Alle anderen kriegen das normale Kindergeld. Das wäre sicherlich nicht gerecht, weil das natürlich wirklich ein harter Cut wäre, der gerade für die Eltern, die eben zu geringen Löhnen vielleicht nur Teilzeit arbeiten können, dann schon eine extreme Benachteiligung wäre.
Eltern brauchen ein besseres Leben
Deutschlandfunk Kultur: Wäre es eine Idee zu sagen, man besteuert den? Ich weiß, dass das rechtlich ein bisschen kompliziert ist, wenn man eine soziale Leistung besteuert, hätte aber den Charme, dass diejenigen, die wenig Einkommen haben oder gar kein eigenes Einkommen haben, entsprechend keine Steuern zahlen würden, und diejenigen, die viel verdienen, die mittleren Verdiener oder Höchstverdiener, auch einen entsprechend hohen Abzug von dieser Summe bekämen.
Bentele: Vielleicht müsste man gar nicht unbedingt die Sozialleistung besteuern. Aber man könnte vielleicht sagen: Für die, die wirklich besser verdienen, die im Moment am meisten profitieren von einem hohen steuerlichen Kinderfreibetrag, dass der eben im Gegenzug dafür abgesenkt wird. Dafür gibt es aber die finanzielle Leistung Kindergrundsicherung. Das wäre auch, finde ich, ein mögliches Modell.
Deutschlandfunk Kultur: Der Armutsforscher Butterwegge hält diese Idee von der Kindergrundsicherung für eine völlig falsch. Er sagt, man muss die Familie fördern, also die Eltern. Denn die Kinder sind arm, weil die Eltern arm sind. Er sagt auch, man müsse auf alle Fälle die Reichen stärker in die Pflicht nehmen. Seine Idee: den Solidaritätsumschlag nicht abschaffen, sondern umwidmen. Das wären immerhin fast 20 Milliarden Euro im Jahr. Wie sehen Sie das?
Bentele: Das könnte man sicherlich machen. Ich meine, der Soli wird immer gerne genommen. Der wird vor allem auch ständig für unterschiedlichste Sachen ausgegeben. Aber prinzipiell ist natürlich klar: Bei all diesen Überlegungen, auch mit Kindergrundsicherung, dass die allerbeste Förderung immer noch ist, wenn wir überhaupt keine Kindergrundsicherung brauchen, weil die Eltern ein besseres Leben haben. Deswegen, die Butterwegge-Idee ist sicherlich dann reizvoll, wenn man es schafft, auch alle Menschen in Arbeit zu bringen, dafür zu sorgen, dass alle auch Kinderbetreuungsmöglichkeiten haben und Bildungschancen.
Die Realität ist im Moment halt eine andere. Deswegen ist so etwas wie eine Kindergrundsicherung eine Zwischenlösung, über die man sich unterhalten kann, solange es immer noch Eltern gibt, die nicht aus ihrer Armutsspirale rauskommen. Deswegen würde ich nicht sagen, dass es prinzipiell eine schlechte Idee ist, mit einer Kindergrundsicherung zu arbeiten, sondern dass man sich eher fragen muss, wie man das eine tut und das andere nicht lässt.
Für Grundsicherung Vermögen und Erbschaften besteuern
Deutschlandfunk Kultur: Das könnte man beispielsweise aus den Geldern über den Soli finanzieren. Oder es gibt auch andere Ideen: Vermögenssteuer wieder einführen, Erbschaften stärker besteuern, Kapitalertragssteuer.
Bentele: Genau. Wir gucken uns das andere Ende des Lebens an, weil auch die Zahl der armutsgefährdeten oder jetzt schon in Armut lebenden Rentnerinnen und Rentner immer mehr steigt. Da sagen wir auch: Wer beispielsweise wirklich die Grundrente einführen möchte - und wir wollen die auf jeden Fall auch ohne Bedürftigkeitsprüfung -, der muss natürlich auch schauen, woher das Geld dafür kommt. Da sagen wir, eine verfassungskonforme Vermögenssteuer und die Besteuerung hoher Erbschaften sind schon Sachen, die extrem gerecht sind, weil wir da sehen: Wer mehr hat, muss sich natürlich auch an dem System beteiligen und hatte auch viel davon profitiert, dass beispielsweise Menschen in Firmen gearbeitet haben, die dann vielleicht am Ende wenig Geld haben.
Deutschlandfunk Kultur: Auf alle Fälle ist es so, das Potenzial von Kindern und Jugendlichen besser auszuschöpfen, als es bisher geschieht, ist im Eigeninteresse der Gesellschaft. Sind andere Länder da weiter als Deutschland, wenn es gilt, in diesem Sinne zu handeln?
Bentele: Also, ich würde das schon so sehen. Gerade in Skandinavien, das ist immer ein gutes Beispiel. Dort läuft beispielsweise die Kinderbetreuung wirklich besser mit Ganztagsschulen und Unterstützungsmöglichkeiten. Ich glaube, da kann man schon sehr viele Unterschiede auffangen.
Neue Hubschrauber manchem wichtiger als Geld für Bildung
Deutschlandfunk Kultur: Aber warum, wenn man das doch alles weiß, - Bildung führt zu jeder Zeit wirklich jeder im Munde - wenn man das alles weiß, warum passiert es dann nicht?
Bentele: Ja, weil die politische Konkurrenz riesig ist und sich natürlich auch andere wunderbar durchsetzen, wenn es darum geht, was brauchen wir für neue Autobahnen oder was brauchen wir für neue Ausgaben für nicht funktionierende Hubschrauber in der Bundeswehr. Dann ist Bildung immer ein Thema unter vielen. Das ist ein Punkt.
Und man kann sich auch drüber streiten, wie sinnvoll der Bildungsföderalismus ist, also dass jedes Bundesland zuständig ist für Bildung. Da hängt viel davon ab, wie viel kann sich ein Bundesland für die Bildungsausgaben leisten. Auch darüber muss man sprechen. Das Kooperationsverbot wurde schon ein bisschen gelockert. Aber inwieweit das heute auch noch zeitgemäß ist, dass jedes Bundesland da einfach so eine hohe Entscheidungskompetenz hat und damit wirklich die Bildungsverläufe und Biographien vieler Menschen beeinflusst?