Auch wer durchaus Tiere isst, kann damit quasi-religiöse Erfahrungen verbinden. Hören Sie hier einen Beitrag über die spirituelle Dimension des Angelns:
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Orthodoxie am Küchentisch
08:31 Minuten
Ihre Passion ist es, Leiden zu verhindern: Veganer schwören allem ab, was aus Tieren zubereitet wird - selbst den Gummibärchen. Bei manchen nimmt der Veganismus geradezu religiöse Züge an, und sie spüren einen Missionsauftrag.
Ein Kochvideo auf der Website der "Vegan-Taste-Week". In einer Studioküche bereiten die Schauspielerin Esther Agricola und der vegane Koch Björn Moschinski einen Kartoffelsalat zu. Alle Zutaten sind rein pflanzlich, selbst die Mayonnaise kommt ohne Ei aus. Damit wollen die beiden zeigen: Essen ohne tierische Produkte ist weder langweilig noch entsagungsvoll. Es schmeckt!
Die Welt ein Stück besser machen
Veganismus ist auf dem Vormarsch. Für die einen ist es ein Lifestyle, der mehr Gesundheit verspricht, viele andere verbinden damit eine Lebensüberzeugung, die auf manch Außenstehenden wie religiöser Eifer wirken kann: Nämlich, durch bestimmte Lebenspraktiken einen Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten.
Tatjana von Berg hat sich diesem Weg verschrieben. Die Mutter dreier erwachsener Kinder arbeitet in einem Berliner Musikverlag. Seit sieben Jahren ist die Mittfünfzigerin konsequente Veganerin.
Freundlichkeit gegenüber Menschen und anderen Wesen
"Ich denke schon, dass diese Haltung, die hinter dem Vegan-Sein steckt, eine spirituelle ist, denn es geht mir schon bewusst um Gewaltlosigkeit oder eine möglichst weite Reduzierung von Gewalt durch mein Tun. Es geht mir um Kindness, also Freundlichkeit und Zugewandtheit den Menschen gegenüber – aber nicht nur den Menschen, sondern auch anderen Lebewesen und es geht um mehr als nur um mich."
Der Religionswissenschaftler Nicolas Thun hat für die Albert-Schweitzer-Stiftung Kampagnen zum Tierwohl organisiert. "Heute, als vegan lebender Mensch schaue ich zurück und denke mir: Mensch, Nico, warum hast du das nicht früher verstanden", sagt er und fügt hinzu:
"Dass wir einfach unterschiedliche Möglichkeiten haben, wie wir uns ernähren wollen, und dass manche Möglichkeiten mit viel Leid für die Tiere verbunden sind und andere Möglichkeiten mit sehr viel weniger Leid."
Eingebung auf dem Jakobsweg
Derzeit macht der 28-Jährige Öffentlichkeitsarbeit für den Erdlingshof, einen Bauernhof im Bayerischen Wald, auf dem Tiere leben, die vor der Schlachtung gerettet wurden. Mit 20 Jahren ist Thun Vegetarier geworden, ein paar Jahre später vegan.
Als er auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela pilgerte, hatte er beim Anblick von Geflügel, das zur Schlachtung auf einen LKW verladen wurde, so etwas wie eine Eingebung: Mit seinem Ernährungsverhalten will er helfen, Tiere vor Leid zu bewahren.
"Wenn man sich die Anzahl der Individuen ansieht, die jedes Jahr in der Tierausbeutungsindustrie leiden müssen und getötet werden", sagt Thun, "und wenn man sich anschaut, wie brutal auch die Praktiken sind - dass halt einfach Körperteile abgesägt werden ohne Betäubung, damit die Tiere irgendwie überlebensfähig sind, ohne sich gegenseitig umzubringen -, weil die Zustände einfach so prekär sind, hat sich das dann für mich so entwickelt."
Kein Leder, keine Wolle - Reiten, Zoo oder Zirkus sind tabu
Von einem emotionalen Moment der Umkehr spricht auch Didem Aydurmuş. Sie hat Ethnologie studiert, an der Universität Istanbul ihren Doktortitel in politischer Philosophie erworben und in China über Totalitarismus geforscht:
"Da bin ich dann nach Deutschland gekommen, da hatte ich ein paar Veganer um mich herum, und da habe ich ein Video gesehen – nach der Geburt werden die Baby-Kühe ja immer den Müttern weggenommen –, wo eine Mutter nach ihrem Kind schreit, und ein Kind nach der Mutter. Und da hab ich mich wirklich als einen Teufel erkannt."
Aydurmuş sitzt an ihrem Küchentisch in Berlin vor der großen Aufnahme eines Waldes und spricht in ihren Computer. Sie habe sich durch ihre – wie sie sagt "orthodoxe" – vegane Lebensweise völlig verändert. Orthodox bedeutet hier: strikter Verzicht auf den Konsum tierischer Produkte – einschließlich Leder und Wolle. Reiten ist für sie tabu, genauso wie der Besuch eines Zoos oder im Zirkus. Eine extreme Haltung?
Das Schwein als Persönlichkeit wahrnehmen
Tanja von Berg meint, man könne es auch so sehen, "dass es extrem ist, Fleisch von toten Tieren zu pürieren, in Därme zu pressen und dann zu essen. Wenn man sich darauf einlässt zu gucken, was da wirklich passiert, dann ist das mit Sicherheit das Extremere als die gewaltlose Variante."
Und Aydurmuş sagt: "Das Interessante ist – und das ist die Spiritualität: Es ist tatsächlich so, dass ich angefangen habe, Tiere anders wahrzunehmen. Wir haben es verlernt wahrzunehmen, dass das Schwein eine Persönlichkeit ist."
Aydurmuş versteht sich durchaus als Missionarin. Ihre veganen Überzeugungen untermauert sie mit philosophischen Schriften: Konfuzius ist einer ihrer Helden, ebenso wie der englische Utilitarist Jeremy Bentham, der schon vor 200 Jahren über die Leidensfähigkeit von Tieren nachdachte, und die zeitgenössische US-amerikanische Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha Nussbaum.
Aydurmuş bezeichnet sich selbstironisch als "Gutmensch" – aber was bleibe auch anderes übrig, als zu missionieren, wenn man die Welt vor Umwelt- und Klimakatastrophen retten wolle?
Erst kommt die Moral - dann Gesundheit und Klimaschutz
Die Psychologin Tamara Pfeiler forscht an der Universität Mainz über charakterliche Eigenschaften und Motivationen von fleischessenden und pflanzenessenden Menschen. Im Zuge ihrer Forschungen ist die dreifache Mutter ebenfalls Veganerin geworden.
"Grundsätzlich findet man da immer: Das stärkste Argument, warum Menschen keine Tiere mehr essen möchten oder das ablehnen, ist eine moralisch-ethische Überzeugung", erklärt Pfeiler. "Sie sagen, dass sie es nicht mehr gerechtfertigt finden, dass andere Lebewesen zu Tode kommen, aufgrund von einem kurzen Genussmoment. Diese Meinung überwiegt, gefolgt von gesundheitlichen Überlegungen. Aber was immer stärker auch zunimmt sind eben umweltpolitische Überlegungen wie der Klimawandel."
Pfeilers Studien zeigen: Sich vegan ernährende Menschen sind oft offener für Neues, geringfügig empathischer als Fleischesser und friedfertiger. Trotzdem, sagt Pfeiler, gelten Veganer und Veganerinnen immer noch als exotisch und radikal:
"Man muss ja schon sagen, dass Veganerinnen per se schon sehr stark diskriminiert werden auch von dieser sozialen Norm, dass es eben noch nicht anerkannt ist, breit gefächert."
Veganismus als Phänomen der Stadtgesellschaft
Das Leben als sich vegan ernährender Mensch sei in den Großstädten sicher einfacher als auf dem Land, sagt Pfeiler. Veganerinnen und Veganer treffen sich deshalb vor allem in Foren in den sozialen Medien – oder bei veganen Sommerfesten. Dazu Thun: "Die Stammtische von den Veganern sind eher Selbsthilfe-Gruppen, als dass sie jetzt rituellen Charakter hätten. Grad am Anfang ist man ja ganz arg überfordert und bekommt von allen Seiten blöde Sprüche aus der Familie, da kann das sehr gut tun, ein bisschen den Zusammenhalt zu erleben."
Aydurmuş fügt hinzu: "Wenn man unter sich in Gruppen zusammenkommt, dann ist man natürlich von dem ganzen Bösen befreit, weil man einfach mal in so einer Glocke von Gewaltlosigkeit ist."
Pfeiler wünscht sich in veganen Gruppen allerdings auch eine gewaltlose und tolerante Kommunikation: "Generell ist der Anspruch untereinander und generell die Bewertung und Abwertung untereinander, was jetzt richtig und was falsch ist, die Auseinandersetzung über diese Werte sehr, sehr stark. Da würde ich mir manchmal aus meiner Perspektive auch mehr Mitgefühl füreinander wünschen – einen liebevolleren Umgang."
Eine neue Aufklärung
Thun wünscht sich vor allem viel positive Energie, um andere Menschen für den veganen Lebensstil zu begeistern: "Wenn wir eines brauchen, dann ist es Aufbruchsstimmung und auch die Bereitschaft, uns von früheren Gewohnheiten und Ritualen und Denkmustern zu lösen – wie in der Aufklärung – und stattdessen zu überlegen: OK, haben wir bislang so gemacht – aber die Frage ist doch: Wie wollen wir es jetzt machen?"