Veitstanz der Identitäten
In seinem Romandebüt beschreibt Patrick Modiano das Leben von Raphael Schlemilovitch, den es in den Jahren der Nazi-Okkupation als wandernden Juden in die Kollaborationskreise der französischen Intelligenz ebenso verschlägt wie in die Provinz.
Der französische Schriftsteller Patrick Modiano besitzt seit vielen Jahren auch in Deutschland eine treue Leserschaft, Liebhaber einer ebenso urbanen wie ethisch skrupulösen Prosa der leisen Töne, in der Paris – Schauplatz fast aller Modianoschen Romane – seine fein ausdifferenzierten Schattenseiten zeigt. Umso größer wird deshalb die Überraschung sein, nun mit immerhin über 40 Jahren Verspätung Modianos Debütroman von 1968 zu lesen, übersetzt und mit einem kenntnisreichen Nachwort versehen von Elisabeth Edel. Eine Kommentierung scheint auch vonnöten, zeigt sich doch der spätere Meister der melancholischen Genauigkeit, dem es wie kaum einem anderen gelingt, aus diffusen Schraffuren unvergessliche Stadt- und Menschenlandschaften zu formen, hier als ungebärdiger Verfasser einer grellen Travestie.
"Place d´Étoile" spielt in den Jahren der Nazi-Okkupation und bezeichnet eben nicht nur den weltberühmten Platz am Pariser Triumphbogen, sondern auch jene Stelle über dem Herzen, an welcher der Judenstern getragen werden musste. Doppeldeutig und mehrdimensional auch der Protagonist namens Raphael Schlemilovitch, den es als quasi wandernden Juden in die Kollaborationskreise der französischen Intelligenz ebenso verschlägt wie in die Provinz. Sogar eine kurze Karriere als Liebhaber von Eva Braun ziert seinen Lebenslauf, ehe er sich auf der Couch des Doktor Freud mit einem Stoßseufzer vom Leser verabschiedet: "'Ich bin so müde', sagte ich, 'so müde…'"
Müde nämlich all der antisemitischen Stereotypen, die im willigen Kollaborationsland Frankreich ebenso wucherten wie in Deutschland, der anderen selbsternannten "Kulturnation". In einem geradezu irren Akt von Selbsthass, Sarkasmus, Mutwillen und Selbstbehauptungstrieb spielt dieser todtraurige, unsterbliche Schlemilovitch mit all jenen Klischees, indem er sie lebt – inklusive einer Häftlingsexistenz in einem geradezu widerwärtig karikierten Israel als vermeintlich Staat gewordener Fortsetzung der NS-Lager.
Kein Wunder, überlegt man bei der Lektüre, dass dieser Roman vom Autor späterhin mehrfach überarbeitet wurde und auch lange auf seine deutsche Übersetzung warten musste, obwohl er doch in einer Travestie-Tradition steht, die von Edgar Hilsenraths "Der Nazi & der Friseur" bis zu Romain Garys "Der Tanz des Dschingis Cohn" reicht. Patrick Modiano aber kann für sich beanspruchen, sich bereits mit diesem Debüt freigeschrieben, ja: freigeboxt zu haben, um anschließend in all seinen zahllosen Nachfolge-Romanen die Opfer, Mitläufer und Täter der Shoah ohne expressionistische Exaltation zeichnen zu können.
Wer sich für Werk und Genese dieses 1945 geborenen französischen Ausnahme-Romanciers interessiert, dem sei "Place de l´Étoile" unbedingt empfohlen. Wer dagegen das Glück hat, Patrick Modiano erst noch zu entdecken, sollte wohl besser mit einem der vielen anderen Romane beginnen.
Besprochen von Marko Martin
Patrick Modiano: "Place de l´Étoile"
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, München 2010
190 Seiten, 17,90 Euro
"Place d´Étoile" spielt in den Jahren der Nazi-Okkupation und bezeichnet eben nicht nur den weltberühmten Platz am Pariser Triumphbogen, sondern auch jene Stelle über dem Herzen, an welcher der Judenstern getragen werden musste. Doppeldeutig und mehrdimensional auch der Protagonist namens Raphael Schlemilovitch, den es als quasi wandernden Juden in die Kollaborationskreise der französischen Intelligenz ebenso verschlägt wie in die Provinz. Sogar eine kurze Karriere als Liebhaber von Eva Braun ziert seinen Lebenslauf, ehe er sich auf der Couch des Doktor Freud mit einem Stoßseufzer vom Leser verabschiedet: "'Ich bin so müde', sagte ich, 'so müde…'"
Müde nämlich all der antisemitischen Stereotypen, die im willigen Kollaborationsland Frankreich ebenso wucherten wie in Deutschland, der anderen selbsternannten "Kulturnation". In einem geradezu irren Akt von Selbsthass, Sarkasmus, Mutwillen und Selbstbehauptungstrieb spielt dieser todtraurige, unsterbliche Schlemilovitch mit all jenen Klischees, indem er sie lebt – inklusive einer Häftlingsexistenz in einem geradezu widerwärtig karikierten Israel als vermeintlich Staat gewordener Fortsetzung der NS-Lager.
Kein Wunder, überlegt man bei der Lektüre, dass dieser Roman vom Autor späterhin mehrfach überarbeitet wurde und auch lange auf seine deutsche Übersetzung warten musste, obwohl er doch in einer Travestie-Tradition steht, die von Edgar Hilsenraths "Der Nazi & der Friseur" bis zu Romain Garys "Der Tanz des Dschingis Cohn" reicht. Patrick Modiano aber kann für sich beanspruchen, sich bereits mit diesem Debüt freigeschrieben, ja: freigeboxt zu haben, um anschließend in all seinen zahllosen Nachfolge-Romanen die Opfer, Mitläufer und Täter der Shoah ohne expressionistische Exaltation zeichnen zu können.
Wer sich für Werk und Genese dieses 1945 geborenen französischen Ausnahme-Romanciers interessiert, dem sei "Place de l´Étoile" unbedingt empfohlen. Wer dagegen das Glück hat, Patrick Modiano erst noch zu entdecken, sollte wohl besser mit einem der vielen anderen Romane beginnen.
Besprochen von Marko Martin
Patrick Modiano: "Place de l´Étoile"
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, München 2010
190 Seiten, 17,90 Euro