Ödipus bei den Roma
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Was verbindet Sophokles' letztes Theaterstück mit einer Roma-Siedlung am Rand von Athen? Loukia Alavanou verwebt in ihrer Virtual-Reality-Kunst im griechischen Pavillon der Venedig-Biennale die Realität vor Ort mit der Geschichte von Ödipus.
Das Theater hat sich in den Jahren der Pandemie verstärkt digital aufgestellt – hat gestreamt, hat per Whatsapp Geschichten erzählt, und per VR-Brillen, die nach Hause geschickt wurden, den immersiven Theaterbesuch möglich gemacht.
Auch auf der 59. Kunstbiennale in Venedig gibt es in diesem Jahr – nach drei Jahren Pause – Theater unter VR-Brille zu erleben. Im Griechischen Pavillon in den Giardini lädt die griechische Künstlerin Loukia Alavanou zu einer Zeitreise per VR-Brille, in der sie erstaunliche Parallelen zwischen einem 2500 alten Drama von Sophokles und dem Leben einer Roma-Gemeinschaft in einem der härtesten Viertel Griechenlands herstellt.
Einst war er gefeiert, König von Theben, jetzt ist er ein blinder Flüchtling auf der Suche nach einem Land, das seinen Körper beerdigt. Ödipus zu sein, ist schrecklich, das können wir – dank VR-Brille vor den Augen – ziemlich deutlich miterleben. Zum Beispiel eingesperrt in einem dunklen schmutzigen Käfig, umgeben von flatternden Geiern.
Niemand will Ödipus aufnehmen
In Sophokles‘ letztem Theaterstück "Ödipus auf Kolonos" erzählt ein unsichtbarer Chor die Geschichte des einstigen, vom Schicksal gebeutelten Helden, erzählt von Vatermord und Inzest. Von seiner Verbannung aus der Heimatstadt Theben. Alt und erblindet – geführt von seiner Tochter und Schwester Antigone – kommt er nach Kolonos zum Sterben, aber niemand will ihn hier haben, er soll zurück dahin, wo er herkommt.
Als sich die Künstlerin Loukia Alavanou unweit ihrer Heimatstadt Athen durch Zufall verfahren hatte, landete sie in der Roma-Siedlung Nea Zoi. Hier funktionierte kein Google Maps mehr, die Gegend gilt als gefährlich, ist verwahrlost, hier fährt keine Müllabfuhr vorbei – selbst die Polizei wagt sich selten her.
Für klassische Dramen hatte sich Alavanou bis dahin kaum interessiert. Aber das, was Ödipus erlebte, kennen auch die Roma. Schnell konnten sich die Bewohner mit der Geschichte des tragischen Helden identifizieren – der vermutlich einst auf dem Weg von Theben nach Kolonos durch ihr Gebiet kam. So wie er suchen auch sie als Nomaden seit Generationen nach einem Ort, an dem sie akzeptiert sind und bleiben können. Auch sie werden verachtet.
Antigone im Jogging-Anzug
Die Künstlerin blieb und begann, mit den Bewohnern der Siedlung zu proben. Mit großem Spaß sind die Laien dabei: Antigone im Jogginganzug, andere mit Clowns- oder Tiermasken. Mit stechendem Blick oder extra übertriebenen Posen erzählen sie vom Schicksal des Ödipus und dabei auch von ihrem eigenen.
Wir Zuschauer, auf einem Stuhl fast liegend, sind – durch Virtual Reality und 360-Grad-Perspektive – mittendrin in diesem Amphitheater, werden von ihnen umzingelt, betrachtet, stehen in ihren Häusern. Oder aber wir werden von Geldmünzen umweht, während ein singender Held vom Ruhm träumt – die perfekte Illusion an einem realen Ort.
Und während wir ganz eintauchen, in das Leben auf dieser Brache, unweit vom antiken Kolonos, in einen Ort, an dem der fremde Ödipus auf eine Realität trifft, vor der gern die Augen verschlossen werden, wird klar, wie zeitgemäß dieser Stoff doch ist: Wenn zum Beispiel der Bote, der Ödipus‘ Tod voraussagt – gespielt von einem jungen gehörlosen Mann mit tätowiertem freien Oberkörper –, in Gebärdensprache davon erzählt, dass er seinen toten Vater nicht am Grab besuchen kann, weil die Behörden keine Bestattung in der Nähe erlaubten.
Unschuldige Opfer ihres Schicksals
Wie Ödipus sind dieser junge Mann, seine Familie und die vielen Flüchtlinge weltweit unschuldige Opfer ihres Schicksals. Und wie einst um Ödipus‘ toten Körper, streiten auch heute noch Länder darum, wo sie die unerwünschten Flüchtlinge sterben und beerdigen lassen. Der 15-minütige Besuch bei den Roma, den Loukia Alavanou den Besuchern des griechischen Pavillons auf der Biennale in Venedig schenkt, hallt noch lange nach. Auch wenn man den Geiern entkommen und längst wieder im Getümmel der Kunstaustellung untergetaucht ist. Man war an diesem Ort. Mehr als nur virtuell.