Venezolanische Theaterszene

Einer der letzten großen Freiräume

05:38 Minuten
Jemand schwenkt eine venezolanische Fahne. Zu sehen sind nur die Hand und die Fahne.
Der venezolanischen Regierung bedeute das Theater nichts, daher könne man dort noch sagen, was man wolle, sagt die Regisseurin Ana Melo. © picture alliance / dpa / Rafael Hernandez
Von Victoria Eglau |
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Die Lage in Venezuela verschlechtert sich täglich. Dass in diesem Dauer-Ausnahmezustand kulturelles Leben stattfindet, ist nur schwer vorstellbar. Einen Zufluchtsort bildet das Theater, sagt Regisseur Juan José Martín.
"Das Theater ist der größte Freiraum, den wir in Venezuela noch haben. Wir erleben praktisch keine Zensur – anders als im Kino oder Fernsehen. Im Theater können wir sagen, was wir wollen und wie wir es wollen. Das liegt daran, dass der Regierung Theater nichts bedeutet", sagt die Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Ana Melo.
Im vergangenen Jahr inszenierte sie "Margarita te voy a contar un cuento" – "Ich werde dir eine Geschichte erzählen" – ein Familiendrama, durch das das venezolanische Drama hindurchscheint. In Melos Stück hat die Regierung befohlen, dass die Guacamayas, eine in Venezuela verbreitete Papageienart, ausgerottet werden sollen.
Auf einer Theaterbühne stehen zwei Frauen und ein Mann. Die Frauen streiten miteinander. Der Mann steht etwas abseits und streitet sich ebenfalls mit den Frauen.
Szene aus Ana Melos Stück "Margarita te voy a contar un cuento" © Ana Melo, privat
Das Massaker an den farbenprächtigen Vögeln ist eine Metapher für den Tod von weit über hundert jungen Venezolanern, die 2017 bei Protesten gegen das Regime von Nicolás Maduro starben. Ana Melo begreift ihr Theater nicht als "Oppositionstheater". Sie greife die Themen auf, die die Gesellschaft besonders schmerzen, betont die junge Dramaturgin:
"Das Publikum bringt nicht seine politischen Meinungen mit ins Theater, sondern seine Hoffnungslosigkeit. Die kollektive Depression, weil man Lebenswichtiges nicht kaufen kann, weil unser Land keine Zukunftsperspektiven bietet und weil geliebte Menschen ins Ausland emigrieren. Ich glaube, da muss gutes Theater ansetzen: bei dieser Traurigkeit."

Trotz Wirtschaftskrise und Hyper-Inflation volle Säle

Wegen der hohen Kriminalität finden Theateraufführungen in Caracas inzwischen selten abends statt, sondern meist am Wochenende nachmittags. Trotz Wirtschaftskrise und Hyper-Inflation füllen sich die Säle, denn der Eintrittspreis ist mit umgerechnet rund einem Euro für viele noch erschwinglich.
Theater sei ein Zufluchtsort, meint der venezolanische Regisseur und Produzent Juan José Martín: "Die Zuschauer suchen einen Ort, wo sie mal durchatmen können, wo die politischen Spannungen draußen bleiben."

Theater ist in Venezuela auch ein Ort, der Einblicke in die Realitäten und Konflikte anderer Gesellschaften ermöglicht, denn die Ensembles spielen viel zeitgenössisches Theater aus dem Ausland. Juan José Martín hat in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Stücke zweier deutscher Dramaturgen inszeniert:
Vier Personen stehen auf einer Bühne. Eine Frau redet auf einen Mann ein. Eine weitere Frau lacht und hält einen Apfel in der Hand. Der Mann am rechten Bildrand trägt eine Mütze und scheint zu singen.
Szene aus Martin Heckmanns "Ein Teil der Gans" inszeniert von Juan José Martín in Venezuela© Ana Melo, privat
2015 Marius von Mayenburgs "Der Hässliche" und 2017 "Ein Teil der Gans" von Martin Heckmanns, eine Satire über den Umgang mit Fremden. Dieses Thema brennt zweifellos auch dem venezolanischen Publikum unter den Nägeln.

Folgen der Auswanderung

Dreieinhalb Millionen Menschen sind in den vergangenen Jahren emigriert und damit zu Ausländern geworden. Um diesen Exodus dreht sich das Stück "Sopa de Tortuga" – "Schildkrötensuppe" – von Ana Melo. Sie lässt eine äußerst heterogene Gruppe von Venezolanern in einem Pariser Bistro aufeinandertreffen. Mit den Folgen der Auswanderung kämpft die Theatermacherin bei ihrer eigenen Arbeit:
"Bei jeder Inszenierung ist die große Frage, wie lange die Schauspieler noch da sein werden. Auch ich selbst frage mich: Wie lange bleibe ich noch hier? Die Emigration prägt uns und unseren Alltag."


Weil vor allem die junge Generation der Perspektivloslosigkeit in Venezuela entflieht, wird es immer schwerer, Rollen in dieser Altersgruppe zu besetzen. Auch andere Probleme machen die Theaterarbeit zum "Hochleistungssport", wie Ana Melo es formuliert. Die Tatsache, dass die meisten Schauspieler auf andere Jobs angewiesen sind, die Unsicherheit auf den Straßen und der Ausfall von Transportmitteln – all das erschwert das Proben.
Auf einer Theaterbühne stehen eine Frau und ein Mann und umarmen sich. An der Wand dahinter hängt in einem Bilderrahmen das Filmplakat von "Die fabelhafte Welt der Amelie"
Szene aus dem Theaterstück "Sopa de Tortuga" von Ana Melo© Ana Melo, privat / Maria Laura Barrios Alvarado
Hinzu kommt das Fehlen staatlicher Subventionen für unabhängige Theatermacher. Die Unterstützung ausländischer Kultureinrichtungen ist für sie daher überlebenswichtig: "Das Theater empfinde ich in diesem Moment wie eine Art Schützengraben. In einer Situation, in der nichts mehr Sinn zu haben scheint, gibt die Theaterarbeit meinem Leben in Venezuela einen Sinn."

Rolle des Theaters nach der Ära des Chavismo

So erklärt Dramaturgin Melo, warum sie trotz aller Schwierigkeiten weitermacht. Ihr Kollege und Ehemann, der Regisseur Juan José Martín, denkt bereits an die Rolle des Theaters nach dem Ende der Ära des Chavismo:
"Bisher haben wir versucht, dazu beizutragen, dass die Gesellschaft nicht ganz zusammenbricht, indem wir dem Publikum Erleichterung, kritische Reflexion oder gar Schönheit angeboten haben. Nach diesem Anspielen gegen Gewalt und Zerstörung wird die Rolle des Theaters künftig sein, am Aufbau eines neuen, ganz anderen Venezuelas mitzuwirken."
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