Die gefährlichste Stadt der Welt
Mehr als 25.000 Personen sind 2014 in Venezuela bei Gewaltverbrechen getötet worden, ein Großteil davon in der Hauptstadt Caracas. In der Stadt mit der weltweit höchsten Mordrate erzeugt die Armut und die hohe Arbeitslosigkeit eine Spirale der Gewalt.
Natalia Matamoro arbeitet als Polizeireporterin in Caracas. Die 36-Jährige berichtet über organisierte Kriminalität, Straßengewalt, ein Leben im permanenten Angstzustand: All das, was ihre Landsleute in Venezuela unter dem Begriff "Unsicherheit" zusammenfassen. Natalias Woche beginnt montags um sieben Uhr mit der Fahrt ins Leichenschauhaus im Stadtteil Bello Monte.
"Die Morge de Bello Monte ist der Ort, an den alle Leichen gebracht werden. 80 Prozent davon sind Mordopfer. Sie kommen ins forensische Institut, wo die Todesursache untersucht wird. Monatlich werden hier zwischen 450 und 500 Leichen eingeliefert. Hier werden wir direkt mit den Angehörigen der Opfer sprechen und der Gewalt ein Gesicht geben. All die Mütter und Ehefrauen, die nun ohne ihre Angehörigen bleiben."
Das Leichenschauhaus ist ein unauffälliger Flachbau, von dessen Wänden gelbe Farbe blättert. Vor dem Gebäude warten schweigend Grüppchen von Angehörigen. Eltern, Geschwister, Eheleute. Die engsten Angehörigen von 53 Mordopfern dieses Wochenendes harren stundenlang aus, um ihre Nächsten identifizieren zu können. Mittendrin die etwa zehn Polizeireporter unterschiedlicher Medien. Sie dokumentieren die Toten, weil die Regierung in Venezuela aufgegeben hat. Vor 13 Jahren entschied die damalige sozialistische Führung, keine offiziellen Opferstatistiken mehr zu veröffentlichen. Also treffen sich nun die Reporter hier täglich im Morgengrauen, registrieren die Zahlen und tauschen Fälle aus. Ihr Spitzname: "die Leichenzähler von Bello Monte".
"Hola Amici, das sind zwei deutsche Kollegen, die zur Unsicherheit in Caracas recherchieren."
"Der Vater eines Jungen, den sie im Viertel 23 de Enero getötet haben – in einer Zone, wo die Polizei nicht hinkommt... Da läuft der Vater... schnapp ihn dir."
"Señor, entschuldigen Sie. Sind Sie der Angehörige des Jungen, den Sie in 23 de Enero getötet haben? Wir würden gerne Ihre Version hören. Können Sie uns sagen, was genau passiert ist?"
"Mein Name ist Danilo Hernández. Sie sind um zehn Uhr nachts zu mir nach Hause gekommen und haben gesagt: Dein Sohn wurde getötet. Bei einem Gärtchen an der Straße Sierra Maestra – da sind zwei Straßen voll mit Blut. Und warum? Weil er über die Straße gelaufen ist. Plötzlich hörte man nur noch eine Maschinengewehr-Salve. Wie kann sich plötzlich eine Salve lösen? Sie haben dort keine Kontrolle mehr über ihre Waffen. Das Projektil stammt von einem FAL-Gewehr. Das ist ein Maschinengewehr, eine Kriegswaffe."
Daniel Alexander Garcia Hernández ist nur 18 Jahre alt geworden. Als der Justiz-Angestellte abends spazieren geht, trifft ihn eine Kugel an der Femoral-Arterie des Oberschenkels. Er verblutet innerhalb von Minuten. Täter und Motiv: unbekannt. Für seinen Vater ist es der zweite ermordete Sohn innerhalb von drei Jahren. Die Ursachen der täglichen Gewalt in Caracas sieht Felicitas Blanco – die langjährige Polizeireporterin – nach wie vor in der Armut und der hohen Arbeitslosigkeit in den Elendsvierteln. Doch sie beobachtet auch eine neue Spirale der Gewalt:
"Heute ist die Gewalt überall"
"Der Unterschied zu früher ist die Alltäglichkeit der Gewalt. Die Orte waren früher reduziert. Heute ist die Gewalt überall. Egal ob im Wohnblock, im Barrio oder auf der Stadtautobahn. Und der Venezolaner ist aggressiver und brutaler geworden. Früher haben sie die Leute ausgeraubt. Heute bringt der Verbrecher sein Opfer ohne einen Grund um. Die meisten Opfer die hier eingeliefert werden, kommen aus Petare oder Libertador. Die Unsicherheit ist... hörst du die Frau? Ich glaube, das ist eine Mutter. Die Anzahl von Angehörigen die du hier siehst, die gab es früher nicht. Die meisten Opfer werden keine 30 Jahre alt. Es sind Jungs von 18, 20 bis 25. Jetzt ist die Frau ohnmächtig geworden."
Felicitas Blanco hat die Statistiken der Beobachtungsstelle für Gewalt in Venezuela – kurz OVV – immer parat. Demnach hat es im Jahr 2014 insgesamt 25.000 Tote durch Schusswaffen im Land gegeben. Das bedeutet einer von tausend Bürgern wird pro Jahr erschossen. Damit hat Venezuela die zweithöchste Mordrate der Welt. Die Aufklärungsrate liegt dagegen unter zehn Prozent.
Ein neuer Trend ist der rasante Anstieg von Polizistenmorden. Waren es im Jahr 2005 noch 14 Beamte, die auf den Straßen von Caracas getötet wurden, stieg die Zahl nun auf 132 pro Jahr. Die meisten Angehörigen der Opfer wollen nicht mit den Medien sprechen. Zu groß ist die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Täter.
Der Bruder eines ermordeten Polizisten in Bello Monte ist selbst seit 23 Jahren im Polizeidienst und möchte anonym bleiben.
"Mein Bruder kam morgens von der Nachtschicht nach Hause. Er ist dann mit seiner Frau in einen Supermarkt gefahren um Grillfleisch zu kaufen. Das war gestern um halb vier am Nachmittag. Seine Frau ist in den Laden gegangen und er ist draußen geblieben. Dann sind drei Personen auf einem Motorrad gekommen und haben das Feuer auf ihn eröffnet. Sie haben ihm seine Dienstwaffe geklaut und ihn dort einfach liegengelassen."
Begehrtes Diebesgut: Dienstwaffe und Motorrad eines Polizisten
Nach diesem Muster gehen immer mehr junge Kriminelle vor, die in Caracas "Malandros" genannt werden: Die Dienstwaffe und das Motorrad eines Polizisten sind eine begehrte Diebesbeute. Experten schätzen die Zahl von nichtregistrierten Schusswaffen in Venezuela auf bis zu 15 Millionen. Einer der Hauptgründe liegt weit zurück: Der verstorbene Ex-Präsident Hugo Chávez hatte aus Angst vor einer US-amerikanischen Invasion die Armenviertel aufrüsten lassen. Die Amerikaner kamen nicht. Die Waffen aber sind geblieben.
Petare ist die gefährlichste Zone der Stadt. Fast eine Million Menschen leben hier im unübersichtlichen Wildwuchs der Barrios. Schießereien zwischen Jugendbanden, organisiertes Verbrechen, Rachemorde, Drogen- und Waffenhandel gehören zum Alltag. Die Polizei greift zu sehr einfachen Mitteln, um wenigstens einen Teil der illegalen Waffen aus dem Verkehr zu ziehen. Rund zwanzig Beamte in fünf Streifenwagen sind heute Nacht im Einsatz. Sargento Manuel Garcías erklärt die Vorgehensweise.
"Wir errichten jetzt hier einen Kontrollpunkt und halten Motorradfahrer und öffentliche Linienbusse an. Das ist eine sehr belebte Gegend. Das Profil nach dem wir suchen sind zwei Männer auf einem Motorrad. Der typische Malandro begeht Raub, Mord, Drogenhandel. Sie sind zu zweit unterwegs: Einer fährt und der Beifahrer benutzt die Schusswaffe. Mit dem Motorrad können sie schnell vor der Polizei flüchten."
"Ich brauche deinen Ausweis und die Fahrzeugpapiere!"
"Ich habe das Motorrad gerade erst gekauft, es ist noch nicht auf mich registriert. Hier ist die Kopie des alten Besitzers."
"Wie lange hast du das Motorrad schon?"
"Zwei Monate."
"Wir werden das überprüfen."
"Das ist ein Routinevorgang: Zuerst durchsuchen wir die Person, danach inspizieren wir die Fahrzeugpapiere. Bei den beiden ist alles gut."
In dieser Nacht errichten die Polizisten drei Kontrollpunkte. Sie finden eine zugelassene Waffe und eine Spielzeugpistole. Sichtlich erleichtert fahren Sargento Manuel Garcias und seine Kollegen nach der dreistündigen Patrouille zurück in ihre Basis. Die Beamten haben Präsenz gezeigt und sind alle wohlauf. Wie aber erklärt ein Polizist in Petare die zunehmende Verrohung der Gesellschaft?
Es fehlt an Bildung und an einem Gefühl von Sicherheit
"Was hier am meisten fehlt ist mehr Bildung. Denn die Kultur wächst immer zuerst in den Elternhäusern. Das kommt von den Eltern, sie zeigen es ihren Kindern und so geht die Kette weiter. Wir müssen diesen Menschen wieder ein Gefühl von richtiger Sicherheit vermitteln. Wenn wir ihnen diese Sicherheit nicht geben, werden sie sich auch nicht verändern."
Ein richtiges Gefühl der Sicherheit scheint in Venezuela nur hinter Mauern zu existieren. Die Reichen ziehen sie schon lange um ihre Häuser. Doch seit wenigen Jahren gibt es auch Gated Communities für Arme. Die ca. 200 sogenannten Colectivos sind aus Verbänden der ehemaligen Stadtguerilla Tupamaros entstanden. Etwa die Hälfte von ihnen wurde von Hugo Chávez schwer bewaffnet. Neben Militärs und Polizei baute Chávez seine eigenen loyalen paramilitärischen Einheiten auf.
Auch nach seinem Tod werden die Colectivos vom Staat toleriert, obwohl einige das Gewaltmonopol infrage stellen, Schutzgeld eintreiben und ganze Nachbarschaften kontrollieren. Wie lebt es sich in solch einem Staat im Staate? Humberto López ist Anführer eines Colectivos. Der glühende Chávez- Bewunderer ist landesweit unter dem Spitznamen "der venezolanische Ché Guevara" bekannt:
"Die Geschichte der Colectivos beginnt nach dem gescheiterten Putschversuch von Chávez im Jahr 1992. Zunächst haben wir uns in einer kleinen militanten Gruppe organisiert, den Tupamaros. Wir waren gegen die Alltagskriminalität und die Drogendealer im Viertel. Wir waren vermummt und bewaffnet und haben diese Kriminellen bezwungen. Nach dem Wahlsieg von Chávez 1999 haben sich diese Tupamaros gespalten. Ein Teil wurde zu einer politischen Partei, der andere Teil blieb militant und revolutionär: Sie gründeten die heutigen Colectivos."
Der 50-Jährige sieht Castros Kampfgefährten tatsächlich zum Verwechseln ähnlich. Wie der echte Ché trägt López einen dunkelgrünen Kampfanzug, Baskenmütze und Militärstiefel, in denen ein Messer steckt. Vollbart, schulterlange schwarze Locken und eine Zigarre im Mundwinkel. Mit einem amerikanischen Militärjeep Jahrgang 1951 fährt er durch die Armenviertel von Caracas. Ständig rufen Passanten seinen Namen, knipsen Fotos. Der Ché grüßt jeden zurück und streckt die linke Faust zum revolutionären Gruß aus.
Die Gemeinschaft hat eine ehemalige Polizeikaserne besetzt
López fährt uns zum Colectivo 5 de Marzo in Caracas. Die Gemeinschaft hat auf einem Hügel eine ehemalige Polizeikaserne besetzt. Meterhohe Mauern trennen die Festung von der Stadt.
"Komm mal her, Alter. Danke: Du bist ein Guter."
Am Pförtnerhäuschen stehen vier bewaffnete Wachposten. Wir werden kritisch gemustert, aber dürfen schließlich passieren. Als sich der Militärjeep die schlangenförmige Zugangsstraße hochwindet, erzählt uns López die wichtigsten Eckdaten:
"Das war ehemals das Hauptquartier der hauptstädtischen Polizei. Und jetzt sind wir hier: eine militärisch organisierte Gruppe, aber mit Hierarchien, mit Respekt. Alle haben Waffen –natürlich registriert. Aber sie verrichten Sozialarbeit und wenn irgendwo Unrecht geschieht, kommen sie."
Ankunft auf dem Appellplatz. Kinder sitzen auf Spielautos, ein Golden Retriever gähnt im Schatten eines Mangobaums. Aus einer kleinen Bäckerei begrüßt die Mittzwanzigerin Señora Ana die Besucher. Sie ist Sprecherin des Kommunalrates:
"Hallo, wie geht es dir? Bei mir gibt es Brot und Kuchen. Ich setze euch erst mal einen Kaffee auf und dann esst ihr eine meiner Torten. Setz dich doch!"
"Ich lebe hier. Das ist meine Tochter und das Dickerchen da vorne ist mein Sohn. Bei uns auf dem Gelände leben 156 Familien. Es gibt eine Tischlerei, da vorne ist die Direktion des Colectivos und Obdachlose, die hier vorübergehend vom Innenministerium untergebracht sind. Dort gibt es eine Musikschule, wo die Kinder gratis unterrichtet werden."
Die Gated Community für ärmere Teile der Gesellschaft in den Colectivos bietet ihren Bewohnern das in Venezuela kostbarste Gut: Sicherheit. In einem gekachelten Innenhof steht die Großfamilie von Milagros Torres um einen improvisierten Tisch aus Euro-Paletten. Die 33-Jährige lebt seit eineinhalb Jahren im Colectivo. Davor war sie obdachlos.
"Als ich am bedürftigsten war, haben sie mir geholfen"
"Als wir ankamen, war dieser Ort in einem entsetzlichen Zustand. Aber wir haben alles hergerichtet. Viele sagen, dass die Colectivos böse seien. Aber im Gegenteil: Sie sind sehr gute Menschen. Als ich am bedürftigsten war, haben sie mir geholfen. Durch sie habe ich jetzt eine Wohnung. Schau sie dir an, wenn du willst. Hier ist das Schlafzimmer meiner Tochter und meiner Enkel. Bisher noch bescheiden, aber nach und nach bauen wir es aus. Das ist der Fernseher meiner Tochter. Den haben wir, weil wir viel gearbeitet haben: Wir Venezolaner sind sehr fleißig!"
Milagro Torres und ihrer Familie ist ein Neuanfang gelungen. Mittlerweile betreibt sie ein kleines Textil-Geschäft in der Innenstadt. Es wirft genügend Geld ab, um sie, ihre vier Töchter, die zwei Enkelkinder und ihren Mann Antonio zu ernähren. Der ist Soldat des Colectivos.
"Wir versuchen alles untereinander zu teilen. Eine schöne Zeit haben wir an diesem Wochenende. Hier gibt es keine Malandros – keine Kriminellen – wir sind normale Menschen. Wir gehen jeden Tag arbeiten, um das Brot für die Familie zu verdienen. Wir können uns doch nicht gegenseitig auf der Straße umbringen. Von der Paranoia da draußen bekommst du hier nichts mit. Gott sei dank."