Veränderte Arbeitswelt

Nie mehr kränkelnd ins Büro!

04:09 Minuten
Eine Frau sitzt mit Maske an ihrem Büroarbeitsplatz und niest.
Trotz Infekt ins Büro: Es sei Zeit, den Präsentismus-Irrsinn in den Unternehmen endgültig zu beenden, fordert Anne Backhaus. (Symbolfoto)nicht mehr, © imago images / AFLO
Ein Standpunkt von Anne Backhaus · 02.11.2021
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Schnupfen, Halsschmerzen, Husten: Die Pandemie hat den Umgang damit verändert, beobachtet Anne Backhaus. Im Büro können kränkelnde Kollegen keinen Eindruck mehr schinden. Die Zeit tapferer Arbeitshelden ist endgültig vorbei, meint die Journalistin.
Die Stimmung ist gut im Büro. Sie kippt, als der erkältete Kollege kommt. Den Schal fest um den Hals geknotet, die Augen glasig, röchelt er beim Ablegen des Mantels unter seiner OP-Maske. Er entschuldigt sich für die Verspätung, aber zur Konferenz gleich habe er es ja immerhin geschafft. "Bist du etwa krank?" fragt seine Tischnachbarin entsetzt. Er antwortet: "Ja, aber nur eine schreckliche Erkältung. Ich bin frisch getestet." Kein Corona, also. Erleichtert ist trotzdem niemand im Büro.
Bald nimmt der Kollege dann auch immer wieder die Maske ab, um sich ausgiebig zu schnäuzen oder laut in seinen Ellenbogen zu husten. Die Reaktion der Kolleginnen und Kollegen ist unmissverständlich. Sie meiden die Nähe zu ihm, beteuern untereinander auf dem Flur, sie würden ihn ja wirklich mögen. Sogleich gefolgt vom Aber. "Warum ist er hier?" "Sollte man jetzt nicht mit egal welcher Krankheit zu Hause bleiben?"

Verschnupft arbeiten – früher Zeichen von Engagement

Denken wir uns kurz in die jüngere Vergangenheit zurück: Es war noch nie super, in der Konferenz neben einem schniefenden Kollegen zu sitzen. Es war aber durchaus so, dass, wer sogar krank seinen Job machte, häufig als besonders engagiert galt.
Die verschnupfte Arbeitnehmerin zeigte, dass sie extrem Wichtiges zu tun hat, um das sich niemand sonst kümmern kann. Der fiebrige Arbeitnehmer stellte das Wohl der Firma tapfer über sein eigenes. Die Infizierten wollten einen guten Eindruck hinterlassen.
Präsentismus wird es in der Arbeitswissenschaft genannt, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz Krankheit am Arbeitsplatz erscheinen. Lange Zeit war das normal. Selbst dort, wo Menschen nicht um ihren Job fürchten müssen, sobald sie fehlen – insbesondere in Industrienationen wie Deutschland. Laut einer Studie aus dem vergangenen Jahr glauben 40 Prozent der befragten US-Amerikaner, dass sie schon mal eine Krankheit an einen Kollegen weitergegeben haben, weil sie als harter Arbeiter angesehen werden wollten.

Infekte in Pandemiezeiten keine Lappalie

So ein Verhalten ist aus vielen Gründen ein Problem, nicht zuletzt wirtschaftlich. Im zweiten Herbst der Pandemie wirkt es jedoch geradezu absurd.
Kein Wunder. Wir haben viele Monate damit verbracht, das Infektionsgeschehen zu beobachten. Uns und unsere Familien und Freunde zu schützen. Viren durch Isolation zu bekämpfen. So überraschend leicht es uns jetzt fallen mag, sogar wieder die Hände von Fremden zu schütteln oder uns an einen Bartresen zu drängeln, so schwer wiegt doch unser vollkommen neues Krankheits- und Verantwortungsbewusstsein. Kurz: Wir wollen niemanden anstecken – und das gilt eben nicht mehr nur für Corona.
Für unsere Arbeitswelt bedeutet das: Applaus für jene, die ihren Infekt ins Büro schleppen, gibt es nicht mehr. Im Gegenteil: Schniefende Nasen oder Husten werden in Pandemiezeiten nicht mehr als Lappalie wahrgenommen. Die Angst vor Ansteckungen ist größer denn je. Deshalb sind Chefs gefragt, die Angestellte mit Krankheitssymptomen ausdrücklich nicht akzeptieren.
Nicht nur jetzt, wo Experten vor einer womöglich besonders schweren Erkältungswelle und Grippe-Saison warnen. Nein, langfristig. Für immer. Das ist der Moment, den Präsentismus-Irrsinn in den Unternehmen endgültig auszurotten.

Schluss mit dem Präsentismus-Irrsinn

Denn ja, wir sollten mit egal welcher Krankheit zu Hause bleiben. Allzu oft ist es ohnehin nicht das Arbeitsethos, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Fieber an den Schreibtisch bringt. Es ist vielmehr die Angst vor der Reaktion der anderen, nicht zuletzt der Arbeitgeber, die sie aus dem Bett und weg von Wärmflasche und Tee treibt.
Der Kollege mit der schrecklichen Erkältung hätte für die Konferenz jedenfalls nicht ins Büro kommen müssen. Seine Tischnachbarin hat ihn im Zimmer allein gelassen und ein Zoom-Meeting für alle eingerichtet. Die Kolleginnen und Kollegen sind erleichtert, die Stimmung ist sofort besser. So könnte es doch auch in Zeiten nach der Pandemie bleiben.

Anne Backhaus, Jahrgang 1982, hat Französische Literaturwissenschaft, Gender Studies und Psychologie studiert. Seit 2013 reist sie als freie Autorin für Reportagen, Filme und Interviews um die ganze Welt. Sie lebt in Hamburg, wo sie unter anderem auch als Dozentin für Interview und (multimediales) Storytelling an der Akademie für Publizistik arbeitet.

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