Gesine Palmer, geboren 1960, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre Themen sind Religion, Psychologie und Ethik.
Die Macht und Ohnmacht von Worten
04:35 Minuten
Aus Worten werden Taten - ein viel zitierter Satz. Die Theologin Gesine Palmer lässt diesen einfachen kausalen Zusammenhang allerdings nicht gelten. Sie erkennt darin eine Schicksalsgläubigkeit, die sie für lange überholt hält.
In den letzten Jahren hat eine gewisse Wort- und Textgläubigkeit Hochkonjunktur. Man glaubt wieder an Bekenntnisse, man glaubt an Definitionen, man glaubt oft sogar wieder an etwas wie die "Allmacht der Gedanken".
"Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheit. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal" – diese Warnung wird heute zumeist als eine talmudische zitiert.
"Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheit. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal" – diese Warnung wird heute zumeist als eine talmudische zitiert.
Wo vor antisemitischen Hassreden gewarnt wird, trifft man die Sechserfolge oft um die Hälfte gekürzt an. Da heißt es dann etwa: "Aus Gedanken werden Worte, und aus Worten werden Taten."
Selbst wenn dieser Spruch talmudisch wäre – was er nicht ist - glaubt irgendjemand im Ernst, ausgerechnet eine Weisheit aus dem Traditionsschatz der ins Auge gefassten Opfergruppe könnte auch nur einen einzigen antisemitischen Gewalttäter von seinem Vorhaben abbringen? Und glaubt wirklich jemand, er könne durch derartige Mahnungen und Warnungen Menschen dazu veranlassen, ihre Gedanken in irgendeiner Selbstinquisition zu durchforsten, um auch noch das letzte bisschen Rassismus, Chauvinismus, Überheblichkeit und Aggression auszumerzen?
Selbst wenn dieser Spruch talmudisch wäre – was er nicht ist - glaubt irgendjemand im Ernst, ausgerechnet eine Weisheit aus dem Traditionsschatz der ins Auge gefassten Opfergruppe könnte auch nur einen einzigen antisemitischen Gewalttäter von seinem Vorhaben abbringen? Und glaubt wirklich jemand, er könne durch derartige Mahnungen und Warnungen Menschen dazu veranlassen, ihre Gedanken in irgendeiner Selbstinquisition zu durchforsten, um auch noch das letzte bisschen Rassismus, Chauvinismus, Überheblichkeit und Aggression auszumerzen?
Gedanken, Worte, Taten stehen nicht in einfacher kausaler Beziehung
Menschen können sich und andere täuschen, und wie mächtig ihre Worte sind, das hängt von vielen Faktoren ab. Dass Gedanken, Worte, Taten und das Schicksal von Menschen nicht in einfacher kausaler Beziehung zueinander stehen – diese Einsicht gehörte zum Aufklärungspotenzial bereits der Hebräischen Bibel.
Dass sie nicht mehr schicksalsgläubig war, das war der Stolz der jüdischen, der christlichen und auch der aufgeklärten Tradition. Tatsächlich ist noch für den Gründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, der Glaube an die Allmacht der Gedanken die Urform der abergläubischen Furcht, Ursache aller Verdrängung. Wer als Kind denkt, seine Wut gegen Vater und Mutter werde diese töten – der muss sich seinen Gedanken verbieten und die Wut verdrängen, um das Leben der Eltern zu schonen.
Zwar ist die Idee, allein durch ordentliche Gedankenführung der beste Fußballspieler zu werden oder nur irgendeine lästige Erkrankung zu besiegen, sicher auch heute und für sehr erwachsene Menschen überaus verführerisch. Und wenn es dann doch nicht reicht, ist die Enttäuschung zuweilen groß. Doch nicht so wirksam, die Gedanken und die Worte?
Für Freud war die Einsicht in die relative Ohnmacht der Gedanken dennoch eine gute Nachricht. Und das Mittel, das er für den Umgang mit bösen Gedanken erfunden hat, die Redekur, nutzt Worte ein bisschen so wie eine Impfung ein Virus benutzt: Die bisher als gefährlich gefürchteten "negativen" Gedanken aller Art werden in Maßen und in einem streng definierten therapeutischen Setting in Worte verwandelt, damit in der Kur eine Abwehrkraft gegen sie aufgebaut werden kann.
Das Ergebnis: was vorher, im unbewussten oder halbbewussten oder verdrängt-verbogenen Zustand tatsächlich geeignet war, schlechte Gewohnheit, Charakter und Schicksal zu werden, wird nun bearbeitet, durchgearbeitet, entschärft und im Idealfall als Energie zu gesunder und produktiver Lebensführung genutzt.
Leben mit der Unsicherheit über die Absichten der anderen
In dieser Auffassung bleibt freilich die Verantwortung für die eigenen Handlungen bei dem einzelnen Menschen: Er selbst entscheidet, wie er sich zu ihnen konkret zu verhalten gedenkt. Keine Inquisition, die in irgendeinem Hinterzimmer seines Gefühlslebens einen der Welt verheimlichten Groll entdeckt, wird einen solchen Menschen schockieren. Kein Bekenntnis von Leuten, die angeblich keine Aggression kennen, ihn sonderlich beeindrucken.
Der über sich und andere leidlich aufgeklärte Mensch hat schätzen gelernt, dass aus Gedanken nicht immer Worte werden müssen und aus Worten schon gar nicht immer Taten. Den furchterregenden Glauben an unmittelbare Verknüpfungen von Gedanken, Worten, Taten und Schicksal sollten wir nicht zugunsten einer falschen Sicherheit wiederbeleben, und wir sollten ihn auch nicht ausgerechnet der Tradition in die Schuhe schieben, die mit als erste gegen ihn antrat.