Verbalnoten und Bruchstücke
Zahlreiche ausländische Diplomaten hatten 1938 die Bedeutung der Reichspogromnacht erkannt. Viele reichten Protestnoten ein, einige stimmten sogar in die antisemitische Stimmung ein. Doch nur wenige halfen den Opfern.
"Aber sie alle verschweigen, dass Tausende sich an diesem im XX. Jahrhundert einmaligen Spektakel bestialisch ergötzten, und das in einer der kultiviertesten Hauptstädte Europas, die sich damit brüstet, ein überragendes Zentrum menschlicher Intelligenz zu sein. Diese Leute offenbarten alle niederen Instinkte der Bestie Mensch und applaudierten den kalt und grausam Wütenden."
Ungewohnt persönlich und stilistisch scharf liest sich der von einem brasilianischen Diplomaten verfasste Bericht aus den Novembertagen 1938. Er ist bei Weitem nicht der einzige ausländische Vertreter, der sich, angewidert von den Übergriffen gegen Juden und deren Besitz, in Berichten an seine Vorgesetzten wendet. Die diplomatischen Vertretungen verfügten damals wie heute über ein dichtes Netz an Informanten und Berichterstattern, die ihnen aus erster Hand nahebrachten, was in den Tagen nach dem 9. November um sie herum in Deutschland geschah. So schrieb es der britische Generalkonsul Robert T. Smallbones aus Frankfurt in einer vertraulichen Note an die Botschaft in Berlin.
"Die deutsche Regierung verbreitet zwar etwas halbherzig, die Maßnahmen gegen die Juden, das Niederbrennen der Synagogen, das Verwüsten von Läden und Privatwohnungen, die tätlichen Übergriffe und Plünderungen seien das Werk der aufgebrachten Bevölkerung, jedoch wird sie sich nur schwer der Verantwortung entziehen können, wie sich SS und Polizei systematisch und in großem Maßstab gegenüber den Festgenommenen verhalten.
Gegen 5 Uhr Nachmittags fuhren mit SS Männern besetzte Lastwagen vor, und die Festgenommenen wurden mit Schlägen und Tritten hineingetrieben. Dann ließ man die Gefangenen nach Buchenwald bei Weimar bringen, während der mehrstündigen Fahrt schlugen die Wächter den Festgenommenen Zähne aus, Köpfe ein und Augen blau."
Der Historiker Christian Dirks hat mit einem 15-köpfigen Team und in enger Zusammenarbeit mit einem speziell dafür eingerichteten historischen Beirat im Auswärtigen Amt Hunderte dieser vertraulichen diplomatischen Berichte, Noten und Interventionen aus den Archiven von 48 Ländern zusammen getragen:
"In diesen Dokumenten wird doch mit einer anderen Brille auf die Ereignisse berichtet. Die Diplomaten waren schon in der Lage, anhand der Informationen, die sie bekommen haben, das auch sehr analytisch einzuordnen. Die Relevanz dieses Ereignisses war doch allen Beteiligten und auch den ausländischen Zeitzeugen unmittelbar bewusst. Es gibt Berichte, die unmittelbar am 10., 11., 12. November entstanden sind, die auch noch atmosphärisch und stilistisch von den Ereignissen geprägt sind, wo von Einzelfällen berichtet wird. Wo es durchaus auch mal Emotionalität gibt, Sarkasmus und Zynismus."
Die Einschätzungen der verschiedenen Diplomaten unterschieden sich dabei mitunter drastisch. Einige ausländische Vertreter übernahmen willfährig den Nazijargon, wie der irische Vertreter in Berlin, Charles Bewley, der als Antisemit bekannt war und die Ereignisse beschönigte und rechtfertigte. Viele der Noten und Lageberichte lesen sich für den diplomatischen Jargon jedoch ungewohnt schonungslos, wie ein weiterer Bericht vom britischen Generalkonsul belegt:
"Die moderne Zivilisation hat die menschliche Natur, Kräfte mittelalterlicher Barbarei, ganz offenbar nicht geändert. Wäre die Regierung Deutschland auf die Wahlstimmen der Menschen angewiesen, dann würden diejenigen, die an der Macht sind und für diese Schandtaten die Verantwortung tragen, sicher von einem Sturm der Entrüstung hinweggefegt oder sogar an die Wand gestellt und erschossen werden."
Es war dann auch eben jener Robert Smallbones, der unmittelbar nach den Novemberpogromen Lebensmittel an Hungerleidende verteilte. Mit Hilfe seiner Frau und Angestellten fuhr er persönlich durch die Straßen Frankfurts. In einer beispiellosen Aktion ließ er dann mehr als 50.000 Juden ein Transitvisum für das Vereinigte Königreich ausstellen, damit diese dann in die USA reisen konnten.
Er sollte einer der wenigen bleiben, die so konkret handelten. Zu Protestnoten von Seiten der Regierung konnte sich im November 1938 kein Land durchringen. In den Mühlen der Bürokratie des Auswärtigen Amtes war man indes bis Mitte 1940 damit beschäftigt, die mehr als einhundert Interventionen der ausländischen Vertretungen zu bearbeiten. In diplomatischen Beschwerden hatten sich diese für bei Pogromen geschädigte Ausländer eingesetzt. Juristische Schritte gegenüber dem Deutschen Reich behielten sich die einzelnen Staaten in diesem Instrumentarium vor:
"Die USA sind das einzige Land, die diplomatisch auch Konsequenzen gezogen haben, ihren Botschafter wegen der Ereignisse abgezogen haben - zur Berichterstattung nach Washington und der Posten wurde nicht wieder besetzt. Ein recht deutliches Signal innerhalb des diplomatischen Lebens. Die anderen Länder sind in der Regel stumm geblieben."
Qualität und Eindrücklichkeit der Berichte zu den Gräueltaten hingen einzig und allein vom Verfasser ab, ebenso wie das beherzte Handeln gegenüber den jüdischen Opfern. Robert Smallbones sollte eine beispielhafte Ausnahme bleiben. Die analytisch scharfen Berichte der Diplomaten zeigen deutlich, dass nur wer außerhalb des diplomatischen Regelwerkes handelte, konkret Hilfe leisten konnte.
Eine ernüchternde Tatsache, die sicherlich an Aktualität nichts eingebüßt hat. Vielleicht ist auch das der Grund, warum dieser bisher vernachlässigte Aspekt der Aufarbeitung der Novemberpogrome in seinem Umfang erst 75 Jahre danach entsprechend gewürdigt wird.
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75 Jahre nach den Novemberpogromen von 1938
Ungewohnt persönlich und stilistisch scharf liest sich der von einem brasilianischen Diplomaten verfasste Bericht aus den Novembertagen 1938. Er ist bei Weitem nicht der einzige ausländische Vertreter, der sich, angewidert von den Übergriffen gegen Juden und deren Besitz, in Berichten an seine Vorgesetzten wendet. Die diplomatischen Vertretungen verfügten damals wie heute über ein dichtes Netz an Informanten und Berichterstattern, die ihnen aus erster Hand nahebrachten, was in den Tagen nach dem 9. November um sie herum in Deutschland geschah. So schrieb es der britische Generalkonsul Robert T. Smallbones aus Frankfurt in einer vertraulichen Note an die Botschaft in Berlin.
"Die deutsche Regierung verbreitet zwar etwas halbherzig, die Maßnahmen gegen die Juden, das Niederbrennen der Synagogen, das Verwüsten von Läden und Privatwohnungen, die tätlichen Übergriffe und Plünderungen seien das Werk der aufgebrachten Bevölkerung, jedoch wird sie sich nur schwer der Verantwortung entziehen können, wie sich SS und Polizei systematisch und in großem Maßstab gegenüber den Festgenommenen verhalten.
Gegen 5 Uhr Nachmittags fuhren mit SS Männern besetzte Lastwagen vor, und die Festgenommenen wurden mit Schlägen und Tritten hineingetrieben. Dann ließ man die Gefangenen nach Buchenwald bei Weimar bringen, während der mehrstündigen Fahrt schlugen die Wächter den Festgenommenen Zähne aus, Köpfe ein und Augen blau."
Der Historiker Christian Dirks hat mit einem 15-köpfigen Team und in enger Zusammenarbeit mit einem speziell dafür eingerichteten historischen Beirat im Auswärtigen Amt Hunderte dieser vertraulichen diplomatischen Berichte, Noten und Interventionen aus den Archiven von 48 Ländern zusammen getragen:
"In diesen Dokumenten wird doch mit einer anderen Brille auf die Ereignisse berichtet. Die Diplomaten waren schon in der Lage, anhand der Informationen, die sie bekommen haben, das auch sehr analytisch einzuordnen. Die Relevanz dieses Ereignisses war doch allen Beteiligten und auch den ausländischen Zeitzeugen unmittelbar bewusst. Es gibt Berichte, die unmittelbar am 10., 11., 12. November entstanden sind, die auch noch atmosphärisch und stilistisch von den Ereignissen geprägt sind, wo von Einzelfällen berichtet wird. Wo es durchaus auch mal Emotionalität gibt, Sarkasmus und Zynismus."
Die Einschätzungen der verschiedenen Diplomaten unterschieden sich dabei mitunter drastisch. Einige ausländische Vertreter übernahmen willfährig den Nazijargon, wie der irische Vertreter in Berlin, Charles Bewley, der als Antisemit bekannt war und die Ereignisse beschönigte und rechtfertigte. Viele der Noten und Lageberichte lesen sich für den diplomatischen Jargon jedoch ungewohnt schonungslos, wie ein weiterer Bericht vom britischen Generalkonsul belegt:
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Es war dann auch eben jener Robert Smallbones, der unmittelbar nach den Novemberpogromen Lebensmittel an Hungerleidende verteilte. Mit Hilfe seiner Frau und Angestellten fuhr er persönlich durch die Straßen Frankfurts. In einer beispiellosen Aktion ließ er dann mehr als 50.000 Juden ein Transitvisum für das Vereinigte Königreich ausstellen, damit diese dann in die USA reisen konnten.
Er sollte einer der wenigen bleiben, die so konkret handelten. Zu Protestnoten von Seiten der Regierung konnte sich im November 1938 kein Land durchringen. In den Mühlen der Bürokratie des Auswärtigen Amtes war man indes bis Mitte 1940 damit beschäftigt, die mehr als einhundert Interventionen der ausländischen Vertretungen zu bearbeiten. In diplomatischen Beschwerden hatten sich diese für bei Pogromen geschädigte Ausländer eingesetzt. Juristische Schritte gegenüber dem Deutschen Reich behielten sich die einzelnen Staaten in diesem Instrumentarium vor:
"Die USA sind das einzige Land, die diplomatisch auch Konsequenzen gezogen haben, ihren Botschafter wegen der Ereignisse abgezogen haben - zur Berichterstattung nach Washington und der Posten wurde nicht wieder besetzt. Ein recht deutliches Signal innerhalb des diplomatischen Lebens. Die anderen Länder sind in der Regel stumm geblieben."
Qualität und Eindrücklichkeit der Berichte zu den Gräueltaten hingen einzig und allein vom Verfasser ab, ebenso wie das beherzte Handeln gegenüber den jüdischen Opfern. Robert Smallbones sollte eine beispielhafte Ausnahme bleiben. Die analytisch scharfen Berichte der Diplomaten zeigen deutlich, dass nur wer außerhalb des diplomatischen Regelwerkes handelte, konkret Hilfe leisten konnte.
Eine ernüchternde Tatsache, die sicherlich an Aktualität nichts eingebüßt hat. Vielleicht ist auch das der Grund, warum dieser bisher vernachlässigte Aspekt der Aufarbeitung der Novemberpogrome in seinem Umfang erst 75 Jahre danach entsprechend gewürdigt wird.
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