Verbannt in die Unendlichkeit
In ihrem Roman erzählt Viola Roggenkamp die Geschichte der Anna Constantia Reichsgräfin von Cosel - ein Universalgenie des 18. Jahrhunderts, die von ihrem Geliebten fast 50 Jahre lang in einen Turm gesperrt wurde. Gleichzeitig gelingen der Autorin dabei Zeitsprünge in die Gegenwart.
Die berühmteste Mätresse des Barock bot seit jeher Stoff für pralle historische Romane. Zehn Jahre lang war Anna Constantia Reichsgräfin von Cosel, eine holsteinische Gutsherrentochter, die Lieblingsfrau Augusts des Starken. Schon während ihrer Glanzzeit am sächsischen Hof verstand sie sich nicht nur auf Sprachen und Literatur, auf chemische Phänomene, die Jagd und Immobilien. Sie war ein "Finanzgenie", betätigte sich als selbständige Geschäftsfrau, trieb Handel mit Juden in Leipzig, ein Großteil des Adels hatte Schulden bei ihr.
Weil sie sich in die Regierungspolitik einmischte und damit zu einer Gefahr für die Belange des Hofes wurde, verstieß sie ihr Geliebter ohne Prozess, ohne Gerichtsurteil und verbannte sie lebenslang auf die Festung Stolpen. Bisher endeten die Romane um die Geschichte dieser schillernden Frau allerdings durchweg mit dem Beginn der Verbannung, als scheuten sie zurück vor der Schilderung der Eintönigkeit eines Gefangenendaseins.
Ganz anders Viola Roggenkamp in ihrem zweiten Roman. Sie erzählt vom Leben hinter den Mauern, von Ohnmacht, Verzweiflung und Rachegefühlen gegenüber einer willkürlich agierenden Obrigkeit, von Erinnerungen an glanzvolle Tage, aber auch von Hoffnung, neuen Zielen und geistigen Räumen, die sich in der Beschäftigung mit der jüdischen Kultur vor ihr auftun.
Als sei diese Geschichte nicht genug, montiert Viola Roggenkamp in Gestalt der 30-jährigen Masia die Gegenwart in die Historie. Ziellos, ohne Beruf, kratzbürstig und ungeliebt, flattert diese wie ein unbeschriebenes Blatt durchs Leben. Zusammen mit einem Freund, der einen Film über die Cosel dreht, macht sie sich zehn Jahre nach der Wende in Dresden auf die Suche nach ihrem jüdischen Vater. Sie findet dabei nicht nur ihre familiären Wurzeln, sie blickt auch in die traumatischen Abgründe eines jüdischen Lebens zwischen Schoa, Israel und Nachkriegsdeutschland.
Kapitelweise wechseln die Schauplätze zwischen heute und damals, zwischen zwei Frauen, die verschiedener nicht sein könnten, die aber gleichermaßen der Wucht der Geschichte ausgeliefert sind. Gefangen sind sie beide, doch beide finden auf eigene Weise heraus in ein jeweils selbstbestimmtes Leben.
Wie schon in ihrem ersten Roman "Familienleben", der als "Monument jüdischen Erzählstils" gefeiert wurde, lässt Viola Roggenkamp auch hier feinsinnigen Humor und jiddischen Witz durch die Zeichnung ihrer Figuren blitzen. Das betrifft weniger die beiden Protagonistinnen als vielmehr das begleitende Personal, den Höfling Flemming etwa, dessen intriganter Auftritt in Stolpen wie das erlesenste Stück aus einer Boulevardkomödie inszeniert wird , oder die ostdeutsche Pornodarstellerin Janina und den israelischen Autor Jossl Gift, die nach dem ersten Akt des Lohengrin in der Semperoper spielerisch und damit höchst ironisch das lohengrinsche Verbot der Frage nach der Herkunft eines Menschen erörtern.
Mit der "Frau im Turm" gelingt der Autorin nicht nur die Hommage an eine bislang unterschätzte historische Gestalt, die während ihrer 50-jährigen Gefangenschaft zu einer Gelehrten wurde, einer Kennerin der jüdischen Kultur. Sie zeigt sie als eine Pionierin, die einen umgekehrten Assimilationsprozess vollzog. Denn Jüdischsein, so die indirekte Botschaft, hat nicht nur mit Herkunft und Abstammung zu tun. Den vielen Büchern über die Schoa fügt Viola Roggenkamp außerdem einen bislang unterbelichteten Aspekt hinzu, den des Lebens in der DDR, wo Juden ihre Herkunft verleugneten, weil man dort unter dem Dogma des Antifaschismus angeblich immer schon auf der besseren Seite stand. So ist ihr Roman auch ein subtiler Beitrag zur gesamtdeutschen Geschichte.
Rezensiert von Edelgard Abenstein
Viola Roggenkamp: Die Frau im Turm
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
432 Seiten, 19,95 EUR
Weil sie sich in die Regierungspolitik einmischte und damit zu einer Gefahr für die Belange des Hofes wurde, verstieß sie ihr Geliebter ohne Prozess, ohne Gerichtsurteil und verbannte sie lebenslang auf die Festung Stolpen. Bisher endeten die Romane um die Geschichte dieser schillernden Frau allerdings durchweg mit dem Beginn der Verbannung, als scheuten sie zurück vor der Schilderung der Eintönigkeit eines Gefangenendaseins.
Ganz anders Viola Roggenkamp in ihrem zweiten Roman. Sie erzählt vom Leben hinter den Mauern, von Ohnmacht, Verzweiflung und Rachegefühlen gegenüber einer willkürlich agierenden Obrigkeit, von Erinnerungen an glanzvolle Tage, aber auch von Hoffnung, neuen Zielen und geistigen Räumen, die sich in der Beschäftigung mit der jüdischen Kultur vor ihr auftun.
Als sei diese Geschichte nicht genug, montiert Viola Roggenkamp in Gestalt der 30-jährigen Masia die Gegenwart in die Historie. Ziellos, ohne Beruf, kratzbürstig und ungeliebt, flattert diese wie ein unbeschriebenes Blatt durchs Leben. Zusammen mit einem Freund, der einen Film über die Cosel dreht, macht sie sich zehn Jahre nach der Wende in Dresden auf die Suche nach ihrem jüdischen Vater. Sie findet dabei nicht nur ihre familiären Wurzeln, sie blickt auch in die traumatischen Abgründe eines jüdischen Lebens zwischen Schoa, Israel und Nachkriegsdeutschland.
Kapitelweise wechseln die Schauplätze zwischen heute und damals, zwischen zwei Frauen, die verschiedener nicht sein könnten, die aber gleichermaßen der Wucht der Geschichte ausgeliefert sind. Gefangen sind sie beide, doch beide finden auf eigene Weise heraus in ein jeweils selbstbestimmtes Leben.
Wie schon in ihrem ersten Roman "Familienleben", der als "Monument jüdischen Erzählstils" gefeiert wurde, lässt Viola Roggenkamp auch hier feinsinnigen Humor und jiddischen Witz durch die Zeichnung ihrer Figuren blitzen. Das betrifft weniger die beiden Protagonistinnen als vielmehr das begleitende Personal, den Höfling Flemming etwa, dessen intriganter Auftritt in Stolpen wie das erlesenste Stück aus einer Boulevardkomödie inszeniert wird , oder die ostdeutsche Pornodarstellerin Janina und den israelischen Autor Jossl Gift, die nach dem ersten Akt des Lohengrin in der Semperoper spielerisch und damit höchst ironisch das lohengrinsche Verbot der Frage nach der Herkunft eines Menschen erörtern.
Mit der "Frau im Turm" gelingt der Autorin nicht nur die Hommage an eine bislang unterschätzte historische Gestalt, die während ihrer 50-jährigen Gefangenschaft zu einer Gelehrten wurde, einer Kennerin der jüdischen Kultur. Sie zeigt sie als eine Pionierin, die einen umgekehrten Assimilationsprozess vollzog. Denn Jüdischsein, so die indirekte Botschaft, hat nicht nur mit Herkunft und Abstammung zu tun. Den vielen Büchern über die Schoa fügt Viola Roggenkamp außerdem einen bislang unterbelichteten Aspekt hinzu, den des Lebens in der DDR, wo Juden ihre Herkunft verleugneten, weil man dort unter dem Dogma des Antifaschismus angeblich immer schon auf der besseren Seite stand. So ist ihr Roman auch ein subtiler Beitrag zur gesamtdeutschen Geschichte.
Rezensiert von Edelgard Abenstein
Viola Roggenkamp: Die Frau im Turm
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
432 Seiten, 19,95 EUR