Ein Ausdruck von Hilflosigkeit
Mit kaum einem politischen Vorschlag kann man Menschen so sehr aufregen wie mit einem neuen Verbot. Sind sie tatsächlich notwendig?
"Wir brauchen Regeln, wir brauchen Verbote, um uns überhaupt als jemand zu spüren, der wirkt. Der in eine bestimmte Richtung drängt." / "Verbot, Verbot, Verbot! Das heißt, dort wo es wirklich notwendig wäre, wird das Verbot nicht mehr ernst genommen." / "Menschen orientieren sich nicht an Verboten. Sie orientieren sich am allermeisten an Vorbildern und an anderen in der Gruppe." / "Humor entsteht ja erst durch Verbote, denn da wo man etwas nicht darf, findet man immer einen Weg, wie man doch zum Ziel kommt. Genau das ist der Reiz an Verboten." / "Verbote helfen nicht. Sie sind meistens der Ausdruck von Hilflosigkeit." / "Müssten bestimmte Bereiche vielleicht verboten werden, die im Moment noch erlaubt sind?"
Eine Straßenkreuzung in Köln. Autos, Lastwagen, Straßenbahnen fahren. Wenn der Verkehr fließt, müssen Fußgänger warten. Rote Ampeln zeigen den Fußgängern, wann sie warten müssen. Diesmal steht Wolfgang Albers an der Ampel. Zusammen mit anderen: Polizisten, Journalisten.
Wolfgang Albers ist Polizeipräsident von Köln. Er wirbt gerade für eine Aktion, mit der die Menschen angehalten werden sollen, rote Ampeln zu beachten. Damit sie nicht von Autos oder Bahnen überfahren werden, wie das in Köln allzu oft passiert. Wolfgang Albers weiß, dass trotzdem viele Menschen verbotenerweise weiterhin bei "Rot" über die Ampel gehen werden.
"Meine Freundinnen und Freunde, die verhalten sich genauso wie alle anderen Menschen auch. Manchmal ist es schon so, dass wenn ich mit einer Gruppe durch die Stadt gehe und dann bei Rot stehen bleibe: Ach ja, richtig, bist ja Polizeipräsident! Das ist es anders ... Also, das ist schon ganz konkret. Da sage ich: Ich bleibe trotzdem stehen."
Wo kämen wir da denn hin?
Wolfgang Albers ist in Köln eben der "Herr Polizeipräsident". Wenn der sich schon nicht an Recht und Gesetz halten würde, wo kämen wir da denn hin? Albers ist der Fels in der Brandung - der, der sich an Verbote hält. Heute.
"Natürlich bin ich schon mal bei Rot über die Ampel gegangen, in meinem vorherigen Leben. Das heißt, bevor ich Polizeipräsident geworden bin. Inzwischen mache ich das überhaupt nicht mehr. Sicher auch, weil ich Vorbild sein will. Aber auch, weil ich natürlich um die schweren Folgen weiß. Aber ich will nicht verhehlen, wenn Sie nachts vor einer roten Ampel stehen und es kommt links und rechts kein Auto, ist das schon nicht ganz einfach."
Selbst ein Polizeipräsident hadert also mit Recht und Gesetz, natürlich nur innerlich. Sein Amt hindert ihn daran, Verbote zu übertreten. Der Mann ist wenigstens ehrlich. Wer ist das schon, wenn es um Verbote im Straßenverkehr geht? Experten geben Antworten. Fachleuten für Verbote.
Berthold Hoecker, Stadtsuperintendent der evangelischen Kirche Berlin-Mitte:
"Natürlich hat diese Ampel die Intention, einen sicheren Verkehr zu ermöglichen. Wenn aber kein Verkehr da ist, ist die Ampel auch sinnlos. Dann kann ich natürlich auch bei Rot rüber gehen. Das ist eben die Frage: Erfülle ich das Gesetz der Intention nach oder erfülle ich es der Form nach? Der Form nach muss ich stehen bleiben, was aber Quatsch ist, wenn kein Verkehr ist."
Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister:
"Wir gefährden Kinder, indem wir bei einer roten Ampel kein gutes Beispiel sind. Aber im Grunde besteht die Neigung - beispielsweise bei den Geschwindigkeitsbeschränkungen. Verbot, Verbot, Verbot! Das heißt, dort wo es wirklich notwendig wäre, wird das Verbot nicht mehr ernst genommen."
Jürgen Becker, Kölner Kabarettist:
"Da sehe ich, da ist ein Schild. Da ist Parken verboten. Jetzt stelle ich mich da hin, dann kriege ich einen Zettel an den Scheibenwischer, und dann erledige ich das Problem. So, ne?!"
Sebastian Fiedler, Vize-Chef einer Kripo-Gewerkschaft:
"Ich bin auch schon zu schnell gefahren, ja? Wundere mich dann immer, dass man auch für sieben km/h zu viel, dass sich da die Städte bemüßigt fühlen, Arbeit zu investieren."
Stephan Grünewald, Psychologe:
"Weil wir so viele Verbotsschilder haben, fließt der Verkehr nicht mehr. Wir haben keinen eigenlogisches Durchmanövrieren mehr, sondern jeder versucht regelgetreu es alles richtig zu machen, und das produziert bei uns viel mehr Staus als wir das vielleicht in den südlichen Ländern haben, wo nicht so viel reglementiert ist. Wichtig ist, ein eigenes Gespür, ein eigenes Maß zu finden, was geht, was geht nicht?"
Eckhart von Hirschhausen, Mediziner:
"Dadurch, dass unser Arbeitsspeicher im Hirn nur sieben verschiedene Sachen gleichzeitig speichern kann, sind alle Menschen maßlos überfordert, wenn man sich an viel zu viel Unnötiges halten muss. Dadurch geht verloren der Blick für das Wesentliche und für das richtig Wichtige."
Was aber ist wesentlich, wenn es um Verbote geht? Wie viele Verbote brauchen wir? Haben wir nicht schon viel zu viele? Subjektiv mag man das glauben. Objektiv ist das anders. In einer repräsentativen Umfrage hat das Institut für Demoskopie Allensbach im Jahr 2013 herausgefunden, dass sich die Deutschen mehr Verbote wünschen. Ungesunde Lebensmittel, rechtsradikale Parteien, brutale Videos - all das will mehr als die Hälfte der Deutschen verboten wissen.
Besuch bei einem der führenden Gesellschafts-Psychologen Deutschlands. Stephan Grünewald macht mit seinem Rheingold Institut in Köln Tiefeninterviews, um die Stimmung der Deutschen herauszufinden. Die Ergebnisse kann man auch in Bestsellern wie "Deutschland auf der Couch" oder "Die erschöpfte Gesellschaft" nachlesen. Sollte man aus seiner Sicht das Verbieten verbieten? Nein, sagt Stephan Grünewald. Zumindest nicht grundsätzlich:
"Wir brauchen Regeln, wir brauchen Verbote, um uns überhaupt als jemand zu spüren, der wirkt. Der in eine bestimmte Richtung drängt. Ohne Verbote würden wir uns fühlen wir uns fühlen wie in einer körpertemperaturwarmen Badewanne. Wir würden diffundieren."
Diffundieren will natürlich niemand. Aber trotzdem wissen wir alle, dass sich Menschen manchmal nicht an Verbote halten - ganz gleich wie nützlich oder notwendig sie sein mögen. Das kann man an einer beliebigen roten Ampel beobachten. Wie kommt es, dass es so häufig nicht klappt, mit den Verboten?
"In dem Moment, wo man ein Verbot ausspricht, erhält die Sache, die verboten ist, einen ganz anderen Reiz. Eine viel stärkere Faszination und Intensität."
Was verboten ist, fasziniert uns; macht es spannend, sich über die Grenze hinweg zu setzen, weiß der Gesellschafts-Psychologe.
"Wir sind in uns widersprüchlich, wir sind antagonistische Wesen. Wir wollen den Kuchen essen und behalten. Wir sind ständig hin und her geworfen zwischen divergierenden Sehnsüchten. Von daher ist es ungeheuer schwierig, auf Kurs zu bleiben. Manchmal sind wir quasi in diesem ewigen Widerstreit auf der verbotswidrigen Seite."
Der Mensch ist schlecht
Und doch brauchen wir sie, die Verbote, für ein geordnetes Zusammenleben. Ohne geht es einfach nicht. Eines der universellen Verbote ist: "Du sollst nicht töten". Es steht in der Bibel, es lässt sich aus nationalen und internationalen Regelwerken des Zusammenlebens heraus lesen. Und doch gibt es Kriege und Unterdrückung. Der Mensch ist schlecht. Er tötet, meuchelt, mordet. In Taten und in Gedanken.
"In unseren Träumen leben ja diese Urwünsche weiter. In unseren Träumen können wir nicht nur fliegen, sondern wir werden massakriert oder räumen andere aus dem Weg. Das ist aber quasi des Träumens vorbehalten, weil in dieser Sphäre die Motorik still gelegt ist. Wir können nichts anrichten. Die Kulturleistung ist, das in Wirklichkeit nicht zu tun."
Im "richtigen" Leben, da können wir viel Verbotenes anrichten. Und manchmal machen wir das auch. Wir wissen, dass das falsch ist. Unsere Gesellschaft, unsere Kultur, gebietet uns, trotzdem wenigstens die wesentlichsten Regeln einzuhalten. Nicht zu töten beispielsweise. Es gibt aber auch subtile Verbote, erklärt Stephan Grünewald. Eine Art Selbstversklavung.
"Wir leiden unter der Multi-Optionalität. Es gibt so viel, was in unser Leben drängt, das kriegen wir überhaupt nicht verkraftet. Von daher entwickeln wir heute selber unbewusste Diktate. Das heißt, wir stellen uns selber unter einen rigiden Verbotszwang, um das Leben aushaltbar zu machen, um entscheidungsfähig und steuerungsfähig zu sein."
Über allgemeine Verbote für die ganze Gesellschaft entscheiden dagegen die Vertreter des Volkes, unsere gewählten Politiker. Sie machen Gesetze, Vorschriften, Regeln. Manchmal schießen sie damit über's Ziel hinaus. So plädierten die Grünen im Bürgermeister-Wahlkampf in Berlin für ein Verbot von Schokoladen-Reklame rund um Schulen. Oder sie brachten einen Veggie-Day - also ein Fleischverbot an bestimmten Tagen - für Kantinen ins Gespräch.
"Die Grünen sind für mich wirklich ein Ausdruck dieser gewandelten Kultur. Sie waren ja früher die Vorreiter für die Aufhebung unsinniger Verbote. Die kamen mit Turnschuhen und Blumen in den Bundestag. Und merkten, dadurch entsteht gerade Lebensfreude, indem man es nicht so sklavisch macht."
Die Tabuisierung der Eingeborenen
Wir brauchen Verbote, meint Psychologe Grünewald, aber wir haben auch genug davon. Eine historische Vorform des modernen Verbotes ist das Tabu. Ende des 18. Jahrhunderts beschrieb der Entdecker und Kartograph James Cook seine Beobachtungen auf Forschungsreisen im südpazifischen Ozean. Die Autorin Alexandra Przyrembel hat das in ihrem Buch "Verbote und Geheimnisse" aufgearbeitet. Die Tabuisierung der Eingeborenen war nicht niedergeschrieben. Das Unerlaubte, das mit einem Tabu belegt wurde, hat sich herum gesprochen, wurde von Generation zu Generation weiter gegeben. Mit der Zeit ernannten die Bewohner eines Dorfes Aufseher, die die Definition und Einhaltung der vormodernen Verbote überwachten. Im Zweifel drohten empfindliche Strafen - bis hin zu einem Ausschluss aus der Gemeinschaft.
So streng werden Verbote heute nicht mehr gesehen. Ganz im Gegenteil, mit manchen Vorschriften geht der moderne Mensch eher locker um. Rheinländer sind darin angeblich besonders geübt. Augenzwinkernd und spielerisch setzt sich zum Beispiel der Kabarettist Jürgen Becker mit dem Unerlaubten auseinander:
"Fast alle Witze hängen irgendwie mit Verboten zusammen. Der Humor entsteht ja erst durch Verbote, denn da wo man etwas nicht darf, findet man immer einen Weg, wie man doch zum Ziel kommt. Genau das ist der Reiz an Verboten."
Sich über Verbotenes lustig zu machen, das ist eines der Lieblingsthemen von Jürgen Becker:
"Ein Leutnant sitzt im Zug, gegenüber sitzt auch ein Fahrgast. Der packt ... Der Leutnant packt sein Lunchpaket aus und hat ein leckeres Stück Schinken, schneidet sich was ab und bietet seinem Gegenüber was an: Möchten Sie auch ein Stück Schinken? Nein, ich bin Jude, wir essen kein Schweinefleisch. Ach so, ja ... Plöpp - macht er eine Flasche Wein auf: Möchten Sie ein Gläschen Wein mit trinken? Nein, wir Juden achten auch bei Getränken auf koscher und nicht koscher. Ach, sagt der Leutnant: Ja - und wenn Sie jetzt am Verdursten wären? Ja, sagt der: Eine Notsituation entbindet und von den Speisegesetzen. Da zieht der Leutnant die Knarre, hält sie hoch und sagt: Trinken Sie oder ich schieße! Und der Jude nimmt das Glas, trinkt es aus, zittert. Entschuldigung, sagt der Leutnant, da bin ich zu weit gegangen. Sind Sie mir sehr böse? Ja, sagt der Jude: Dass Sie die Knarre nicht schon beim Schinken gezogen haben. Wäre ohne Verbote nicht möglich, dieser Witz. Das ist bei ganz, ganz vielen Witzen so."
Der Kölner Jürgen Becker veralbert gerne mal Politiker, die Forderungen nach neuen Verboten erheben oder sich mit solchen beschäftigen müssen. Trotzdem hat er Verständnis für die gewählten Volksvertreter:
"Ja, natürlich. Aber: Was sollen denn Politiker anderes machen? Sie sind ja nun mal die gesetzgebende Gewalt im Land, und was anderes als Gesetze machen ist ja eigentlich gar nicht möglich. Deswegen sage ich, die Forderung wäre eigentlich, immer wenn man ein neues Gesetz in Kraft setzt, muss man ein altes abschaffen."
Wenn man sich Politik durch die Brille des Kabarettisten anschaut, den politisch tätigen Menschen den Spiegel vorhält, stößt man auch auf manche Widersprüche. Zum Beispiel bei den Steuer-CD's, die Sünder und Kriminelle massenweise überführt haben.
"Das ist ja auch illegal. Aber das ist dann wiederum ein Mittel, um diese Verbote zu ahnden. Also, man muss quasi ein Verbot übertreten, um ein Verbot zu verfolgen. Das ist doch eigentlich ganz schön (lacht). Ich liebe diese Steuer-CD's!"
Es gibt kaum etwas, was heute nicht irgendwie in einem Verbot kodifiziert ist. Das gesellschaftliche Tabu wurde längst abgelöst durch ein engmaschiges Geflecht an Vorschriften. Beschränkungen des Erlaubten sind allgegenwärtig. Zum Beispiel auf Schildern, die man immer und überall findet.
Um die wichtigsten Verbote durchzusetzen, darf der Staat notfalls zu Gewalt greifen. Für diese Fälle gibt es in Deutschland Beamte bei der Polizei. Wir treffen Sebastian Fiedler, stellvertretender Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Der erfahrene Ermittler beschäftigt sich quasi ständig beruflich mit Verboten - und mit denen, die diese Verbote übertreten:
"Ich glaube, an dieser Stelle definiert sich die Grenze zur Anarchie, und insoweit glaube ich, braucht eine Gesellschaft schon zwingend Regeln. Dann kann man darüber diskutieren, in welchem Bereich die Freiheit des einzelnen übergeordnet sein soll vor dem Schutz der Freiheit eines Dritten beispielsweise. Hier kommen an diesen Stellen immer Verbote ins Spiel. Immer dann, wo es darum geht, im Grunde Regeln für ein gemeinschaftliches Zusammenleben zu definieren."
Was verboten ist, unterliegt einem ständigen Wandel. Was heute erlaubt ist, kann morgen schon verboten sein - und umgekehrt. Aber: Ist wirklich alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist?
"Also, wenn Sie das nach den Regeln des Rechts definieren, dann muss ich sagen, es ist definitiv so. Man kann jetzt eine ethische Debatte darüber legen und kann sagen, müssten denn bestimmte Bereiche vielleicht verboten werden, die im Moment noch erlaubt sind?"
Das Problem der Verstöße gegen Verbote kann die Polizei nur verringern - nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dass die Welt ohne Kriminalität eine Illusion ist, darüber ist sich Kommissar Sebastian Fiedler durchaus bewusst.
"Das wird es schon deswegen nicht geben, weil es sich um Menschen handelt. Und Menschen auch im Affekt handeln. Unter Rauschzuständen handeln oder ähnlichem. Das werden wir nicht mit einfachen Regeln Herr werden können. Auch in den Vereinigten Staaten beispielsweise oder in China, wo es die Todesstrafe gibt, gibt es nach wie vor Mord- und Totschlagsdelikte, nach wie vor. Daran kann man erkennen, dass diese Regeln und Verbote (hier) alleine nicht ausreichen."
Die hohe Zahl unaufgeklärter Wohnungseinbrüche oder Taschendiebstähle zeigt auch, dass man sich selbst bei der Polizei nicht immer darauf verlassen kann, dass sie wesentliche Verbote konsequent durchsetzt:
"Wir wissen das, dass wir Tag für Tag nur einen bestimmten Ausschnitt der Kriminalität bearbeiten. Bearbeiten können, weil wir nun mal nicht mehr Leute sind. Davon darf man sich nicht frustrieren lassen. Sondern man muss im Grunde erkennen, das muss man realisieren, dass wir nur in der Lage sind, die Kriminalität einzudämmen, wenn wir uns in bestimmten Bereichen engagieren. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es genauso wenig wie eine hundertprozentige Kriminalitätsbekämpfung."
An Verbote muss man glauben. Immer neue Vorschriften zu machen, ist wenig sinnvoll. Auch wenn diese Erkenntnis in aufgeheizten öffentlichen Diskussionen gerne verloren geht. Ein Verbot braucht Akzeptanz - das historische Tabu dagegen war gesellschaftlich durch Tradition und Autoritätshörigkeit automatisch akzeptiert. Die aufgeklärte Gesellschaft stellt Verbote in Frage, setzt sich mit den Gründen des Nicht-Erlaubens auseinander.
Diskussionen über neue Verbote werden unterdessen zwar gerne von Politikern losgetreten, sie nerven aber häufig auch die in der Politik Verantwortlichen. Einer von ihnen ist der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum. Der leidenschaftliche Liberale echauffiert sich über ständige Forderungen nach neuen Verbotsgesetzen.
"Die Deutschen haben eine Neigung zu glauben, wenn sie ein Verbot aussprechen - also insbesondere ein Gesetz machen - sei der Missstand beseitigt. Sie lehnen sich bequem zurück und sagen dann alles ist erledigt und gehen zur nächsten Diskussion über. Die Wurzeln des Missstandes werden überhaupt nicht offen gelegt. Die Symptome veranlassen zu hektischen Symbolhandlungen, die im Grunde auch nicht tragen und nicht akzeptabel sind, denn in vielen Fällen wird die Freiheit eingeschränkt."
Von 1978 bis 1982 war Gerhart Baum Innenminister der Bundesrepublik. Zuständig für die Durchsetzung von Recht und Gesetz, von Verboten. Hin und wieder haben ihn die Diskussionen über neue, strengere Vorschriften richtig geärgert.
"Es ist furchtbar. Also, irgendwas passiert, und da wird sofort gefragt, was müssen wir hier möglicherweise verbieten? Beispiel: Jemand schießt in einer Schule, Amok, ja? Wie ist es mit der Waffengesetzgebung? In Amerika stellt sich die Frage. Aber bei uns nicht. Ist das alles strikt reglementiert, reguliert? Es passiert irgendeine Straftat, Kinderpornographie. Sofort wird diskutiert, müssen wir nicht die Gesetze verschärfen? Also, irgendwo hört es dann auf."
Der Kölner Gerhart Baum gilt als Vorkämpfer bürgerlicher Freiheit. Er weiß aber auch, dass es - wie bei den Eingeborenen im Südpazifik - so etwas wie gesellschaftliche Tabus geben muss, die nicht in staatlichen Verboten kodifiziert sein müssen.
"Sie müssen sich selber Verbote auferlegen, in der Art wie Sie leben, in der Art wie Sie mit anderen in der Gesellschaft umgehen. Sie müssen sich im Grunde zügeln bei bestimmten Neigungen und Leidenschaften."
Das politische Konzept von Gerhart Baum orientiert sich weniger an Verboten - es geht von einem anderen Weltbild aus.
"Mir geht es immer darum, dass man fragt, gibt es für Missstände gesellschaftliche Ursachen? Müssen wir nicht diese zunächst aufbohren und sichtbar machen? Was veranlasst einen jungen Menschen, sich im Nahen Osten einer Terrorgruppe anzuschließen? Dem möchte ich nachspüren. Oder was veranlasst einen jungen Menschen in der Sächsischen Schweiz, für die NPD Demokraten zu verprügeln? Da kann man die NPD verbieten, die ist nicht weg. Diese Mentalität ist nicht weg. Das ist der Trugschluss. Typischer Fall! NPD-Verbot - damit haben wir den Spuk beseitigt. Null haben sie ihn beseitigt."
Wie eine Selbst-Versklavung
Eine Diät ist quasi auch so etwas wie ein Verbot, wie eine Selbst-Versklavung. Da die Sanktion fehlt, ist die Vermeidung des Unerlaubten in solchen Situationen ganz schön schwierig. Besonders in der Nacht, wenn der Kühlschrank mit Leckereien lockt, die man sich eigentlich selbst verboten hat. Der bekannte Mediziner Dr. Eckhart von Hirschhausen hat das in einem seiner Programme aufgegriffen. Das Brummen des Kühlschranks vergleicht er mit dem Lockruf in einer Legende:
"Es klingt dir plötzlich wie eine Sirene in den Ohren. Du erinnerst dich an Odysseus. Der Mythenheld wusste, mit dem Willen, mit dem Verstand werde ich gegen diese Sirene, gegen diese Versuchung, gegen diesen Lockruf nicht ankommen. Ich werde ihm erliegen. Führe uns nicht in Versuchung, wir finden schon selber hin. Odysseus war schlau, und deswegen sagte er: Kumpels, fesselt mich an den Mast. Du schaust dich im Wohnzimmer um. Ist hier irgendwo ein Mast? Du liebäugelst kurz mit der Yuccapalme. Aber ist ja auch keiner da, der dich fesseln könnte. Du stehst langsam auf, tigerst im Wohnzimmer herum. Kommst am Schlafzimmer vorbei. Da ist schon lange keiner mehr, der dich fesseln könnte. Und zack, bist du vor'm Kühlschrank. Du weißt nicht, wie du da hingekommen ist, aber wo du schon mal da bist ... "
Der humoristische Fernseharzt hat es sich zur Aufgabe gemacht, sein Publikum über gesundes Leben aufzuklären.
"Gesundheitsförderung ist ja oft mit einem Zeigefinger verbunden gewesen: Du darfst nicht, du musst oder du solltest! Auch mit moralischen Keulen. Und ich glaube, man sollte gerade bei der Gesundheitsförderung den Zeigefinger nicht zum Drohen sondern zum Kitzeln verwenden. Denn Menschen sind widersprüchlich. Und sie sind selten wirklich vernünftig. Gerade Widersprüche sind für jeden Komiker ein gefundenes Fressen."
Woran aber liegt das, dass wir uns eigentlich auferlegen gesund zu leben, dann aber doch wieder gegen dieses Selbst-Verbot verstoßen?
"Gib einem vierjährigen Kind die Aufgabe, such dir irgendeinen Buntstift aus, alle sind erlaubt außer gelb. Dann wird der sofort in Tränen ausbrechen und sagen: Ich wollte aber gerade gelb! Das Tolle ist, es funktioniert mit jeder anderen Farbe, und unter uns: Auch mit jedem anderen Lebensalter. Erwachsene sind kein Deut besser."
Doktor Hirschhausen erzieht die Republik. Er nutzt die Massenmedien und seine Auftritte in Konzerthallen, um Verbote zu propagieren. Mit einem Augenzwinkern erzählt er zum Beispiel gerne, weshalb man Kindern nicht unbedingt den Genuss von Cola verbieten sollte. Das nämlich macht das überzuckerte Getränk gerade interessant. Mit den gleichen Argumenten solle man lieber mal gewitzt versuchen, Brokkoli zu verbieten.
"Man kann sich das auch wirklich plastisch vorstellen, wie man das Kind erzieht: Nein, Gemüse ist nichts für Kinder! Ich hab's dir erklärt, hör auf zu jammern! Wenn du älter bist, dann darfst du auch Gemüse, aber dein Körper verträgt das noch nicht. Dann liegst du wieder nachts wach, das wollen wir alle nicht. Okay, also eine kleine Ecke. Aber pass auf, dass Mama das nicht sieht. So erzieht man zu gesunder Ernährung."
Auch Erwachsene brauchen unheimlich viel Aufmerksamkeit und Hirnschmalz, um Verbote innerlich aufrecht zu erhalten, meint Eckhart von Hirschhausen. Deshalb solle man die Verbote, an die man sich konsequent halten wolle, gut auswählen, quasi mit der eignen Willens-Energie sorgsam haushalten.
"Wenn man sie, salopp gedacht, für idiotische Verbote schon aufgebracht, ist keine Willensstärke mehr übrig am Ende des Tages für die wichtigen Dinge. Deshalb verhalten sich Menschen tagsüber auch so ganz anders als nachts."
Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Und so wirkt sich das gemeinschaftliche Sein auch unbewusst auf das eigene Verhalten aus. Wie beim historisch dokumentierten Tabu gibt es neben den expliziten Verboten auch implizierte Richtlinien. Zum Beispiel die, die durch die Religion definiert werden. Berthold Hoecker, Stadtsuperintendent der evangelischen Kirche in Berlin-Mitte, erläutert die allzu menschliche Verlockung, Verbote lustvoll zu übertreten.
"Die Sünde ist eine Daseins bestimmende Macht, der man nicht entkommen kann. Es gibt aber eine Möglichkeit, mit ihr konstruktiv umzugehen."
Die Zehn Gebote können auch als Verbote gelesen werden
Und doch gibt es Verbote, auch und gerade in der Kirche. Der promovierte Theologe weiß natürlich, dass die Zehn Gebote der Bibel auch als Verbote gelesen werden können. Solche Vorschriften müssen aber akzeptiert werden, man muss im wahrsten Sinne an ihren Sinn glauben.
"Ein Verbot hilft gar nichts. Es sollte, wenn es gut begründet ist, ein Geländer sein, an dem ich mich orientieren kann. Wenn ich aber nur aus Furcht vor Strafe - was ja ein Verbot signalisiert - gut handle, bin ich ein schlechter Mensch. Und deswegen bringt es nichts."
Ein Verbot ist immer auch ein Ausdruck von Hilfslosigkeit, sagt Berthold Hoecker, von dem Wissen, dass es Triebe und Sehnsüchte gibt, die man anders nicht in den Griff bekommen kann. Denn biologisch gesehen seien Menschen Raubtiere, die selten selbstlos, sondern meist zum eigenen Vorteil handeln. Religionen wie das Christentum setzen dem ein kulturelles Gemeinschaftskonzept auf der Grundlage von Respekt und Liebe entgegen.
"Wenn Sie nur aus Furcht vor Strafe irgendwo sich läng hangeln, werden Sie niemals gesetzestreu sein. Sondern dann wird es heraus kommen, dass Sie Ihren eigenen Vorteil suchen und Gesetzeslücken zu erspähen suchen, an die Sie irgendwie noch Vorteile knüpfen können. Aber wenn Sie ein Gesetz nach der Intention her erfüllen, werden Sie seinen lebensstiftenden Sinn zu verstehen suchen und es nach diesem zu erfüllen."
Berthold Hoecker gibt Seminare und schreibt Bücher für Manager. Über Verhaltensregeln, über Verbote. Manchmal wird er etwas seltsam angeguckt. Dass sich nicht alle Menschen immer an Verbote halten, dass die Sünde allgegenwärtig ist, macht sich der Theologe stets bewusst.
"So reines Gutmenschentum geht uns allen ja furchtbar auf die Nerven. Ich glaube, der Grund ist, weil alle wissen, es stimmt nicht! Denn Sie können eine menschliche Existenz immer nur in der Spannung zwischen Gut und Böse, Verboten, Geboten, Gier und Liebe und Gleichgültigkeit und Hass, was es auch immer sei, beschreiben. Und in diesem Spannungsverhältnis müssen Sie sich verorten. Das macht Leben so interessant, aber auch so schwer."