Verbraucherzentrale kritisiert: Zu wenige Lehren aus Lebensmittelskandalen gezogen

Gerd Billen im Gespräch mit Christopher Ricke |
Als Konsequenz aus Ehec-Krise und Dioxin-Skandal im vergangenen Jahr hat Gerd Billen, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbandes (vzbv), mehr Kompetenzen für den Bund im Bereich der Lebensmittelüberwachung gefordert.
Christopher Ricke: Was hat uns im Jahr 2011 so richtig den Appetit verdorben und wird inzwischen kaum noch diskutiert? Na, die Lebensmittelskandale Dioxin und EHEC. Die Forderung, die damals erhoben wurde und nach wie vor erhoben wird: Eine bundeseinheitliche, effiziente, schlagkräftige Neuregelung der Lebensmittelüberwachung. Der Vorwurf: Das gegenwärtige System ist den Anforderungen eines globalen Lebensmittelmarktes nicht gewachsen. Der Ernährungswissenschaftler Gerd Billen ist Vorstand des Verbraucherzentrale-Bundesverbandes. Guten Morgen, Herr Billen.

Gerd Billen: Morgen, Herr Ricke.

Ricke: Sind denn aus den Skandalen des Jahres wenigstens ansatzweise die richtigen Lehren gezogen worden?

Billen: Es hat einige Verbesserungen gegeben. Betriebe, die Futtermittel herstellen, brauchen eine Zulassung, es gibt ein Frühwarnsystem - also es ist etwas geschehen, aber leider nicht genug.

Ricke: Woran hängt es denn? Ist es die Lebensmittelindustrie, die nicht mitzieht oder sind es die Bundesländer, die für die Kontrollen zuständig sind?

Billen: Es ist nicht die Industrie, es sind die Bundesländer, die ja bei uns für die Lebensmittelüberwachung zuständig sind, und die immer dann, wenn es einen Skandal gibt, sich Treueschwüre leisten, was sie in Zukunft alles anders machen wollen - aber dann hapert es an der Umsetzung. Wir haben eine Situation, in der in einigen Bundesländern die Gemeinden für die Lebensmittelüberwachung zuständig sind, und da ist dann ein Lebensmittelkontrolleur, der muss sich mit einem Weltkonzern herumschlagen. Also die Strukturen der Lebensmittelüberwachung, die im Kern aus dem letzten Jahrhundert stammen, sind einfach nicht auf die neuen Themen und Problemlagen eingestellt.

Ricke: Wie könnte man das denn verbessern? Braucht es eine Kompetenzverlagerung vielleicht hin zum Bund - oder gleich nach Brüssel?

Billen: Der Bundesrechnungshof hat ja jüngst ein Gutachten vorgelegt, und er schlägt vor, dass man die Probleme da unter die Lupe nimmt, wo sie entstehen. Also die Gemeinde, die ist zuständig beispielsweise für den Wochenmarkt. Die sollte sich auch mit den Ressorts beschäftigen. Die Länder haben andere Aufgaben, aber der Bund braucht neue Kompetenzen. Er müsste dafür sorgen, dass die Kontrolle überall nach den gleichen Maßstäben passiert. Er muss auch sozusagen die Macht erhalten, Länder anzuweisen, mehr zu tun. Wir haben ja Bundesländer, da kommt auf 1.000 Betriebe gerade mal ein Kontrolleur, wie in Baden-Württemberg. Also der Bund braucht mehr Kompetenzen, und er sollte auch dafür zuständig sein, beispielsweise, dass die großen Tore, in denen Lebensmittel in unser Land kommen, die Flughäfen, die Häfen, vernünftig und angemessen überwacht werden.

Ricke: Wir haben ja extra ein Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Die Chefin ist Ministerin Ilse Aigner. Wie beurteilen Sie denn deren Arbeit, auch im Zusammenhang mit den Kollegen in den Ländern?

Billen: Also die Krisen haben gezeigt, dass sich das sogenannte Krisenmanagement in diesem Jahr verbessert hat. Wenn ich mich an Dioxin erinnere, da gab es viele Stimmen mit guten Ratschlägen. Das war bei EHEC schon anders. Frau Aigner hat das, was sie damals bei Dioxin versprochen hat, auch umgesetzt - das, was der Bund an Kompetenzen hat, hat sie genutzt -, sie müsste aber jetzt einen Schritt weitergehen, sie müsste jetzt sozusagen den Ländern ganz deutlich signalisieren: Mir reißt jetzt der Geduldsfaden, ich sorge jetzt dafür, dass die Lebensmittelüberwachung auch im 21. Jahrhundert ankommt und für eine hohe Lebensmittelsicherheit für die Bürgerinnen und Bürger da ist.

Ricke: Vielleicht verändert sich ja etwas im neuen Jahr. Es gibt das Verbraucherinformationsgesetz, es gibt seine Reform, es gibt die übliche politische Debatte, da lobt die Regierung die Novelle, die im kommenden Jahr in Kraft treten soll, die Opposition sagt: Oh, das geht aber noch nicht weit genug. Wie ist das denn aus Sicht des Verbraucherschutzes zu beurteilen?

Billen: Also ich bin mit dem ersten Teil der Novelle zufrieden. Es ist für Verbraucher einfacher geworden, zum Beispiel Fragen zu stellen. Ich kann jetzt noch ab dem neuen Jahr eine E-Mail schicken, ich muss nicht einen Brief schreiben. Ich kriege eine klare Antwort, ich muss nicht zahlen dafür. Hier gab es in dem alten Gesetz eine ganze Reihe von Hürden, die viele Menschen einfach davon abgehalten haben zu fragen: Wie sieht es denn in meinem Supermarkt aus? Gibt es Ergebnisse über meine Pommesbude oder über mein Vier-Sterne-Restaurant? Also da hat sich einiges verbessert. Entscheidend ist auch, dass die Behörden jetzt aktiv informieren können, das war ja nach dem Dioxinskandal eine wichtige Forderung.

Was die Regierung nicht gemacht hat, sie hat diesen Informationsanspruch der Verbraucher nicht auf andere Produkte ausgeweitet, wie wir es auch gefordert haben: Warum erfahre ich nicht von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, welche Banken, welche Versicherungen, welche Vertriebe gefährliche Finanzprodukte verkaufen? Es gibt auch andere Lebensbereiche mit einem hohen Schädigungspotential, und hier muss eine Nachbesserung des VEG in Zukunft erfolgen.

Ricke: Gerd Billen ist der Vorstand des Verbraucherzentrale-Bundesverbandes. Vielen Dank, Herr Billen und Ihnen einen guten Tag!

Billen: Ihnen auch, gerne!

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