"Das deutsche Wort dafür ist Völkermord"
Im Ersten Weltkrieg sind geschätzt 1,5 Millionen Armenier bei Massenmorden und Deportationen durch das Osmanische Reich ums Leben gekommen. In der Türkei werden diese Verbrechen zum Teil geleugnet. Der Theologe Thomas Bremer aber geht von einem "Genozid" aus.
Kirsten Dietrich: Das ganze Jahr 2014 steht im Zeichen des Gedenkens an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Im nächsten Jahr kommt das Gedenken an ein Geschehen dazu, das Teil dieses Ersten Weltkriegs war und doch auch ganz allein steht in seiner Schrecklichkeit: Dann nämlich jährt sich zum 100. Mal die Vertreibung der christlichen Armenier aus dem Osmanischen Reich – eine Katastrophe, die mit geschätzt 1 bis 1,5 Millionen Toten endete und unzählige Armenier ins Exil in der ganzen Welt trieb. Heute haben die Armenier einen eigenen Staat, aber vergessen oder gar vergeben ist von der Katastrophe vor 100 Jahren noch gar nichts.
Jüngster Beweis dafür ist der Film des türkischstämmigen Regisseurs Fatih Akin. In "The Cut" erzählt er die Odyssee eines Armeniers, der in den Wirren des Völkermords wenig mehr als das nackte Leben retten kann. Kritikerreaktionen auf den Film waren eher lau, aber die Debatte im Netz kocht. Wütende Angreifer von türkischer Seite bestreiten, dass damals überhaupt ein Morden stattgefunden habe, bezichtigen den Regisseur des Verrats an der türkischen Sache, manche bedrohen sogar sein Leben. Warum die Erinnerung an dieses Ereignis immer noch eine solche Sprengkraft hat, das wollte ich von Thomas Bremer wissen. Er ist Professor für Ostkirchenkunde an der Universität Münster und gerade von einer Reise durch Armenien zurückgekommen.
Thomas Bremer: Ja, ich glaube eben tatsächlich, die Diskussionen um den Film müssen gesehen werden in der allgemeinen Diskussion um die Geschichte, um die Erinnerung an die Geschichte. Für die Armenier ist das ein großes, wenn man das so sagen kann, kollektives Trauma, das nicht geheilt ist, nicht gelöst ist, das in vielen Familien, fast allen Familien präsent ist, das dazu geführt hat, dass es eine große armenische Diaspora heute in der ganzen Welt gibt. Und umgekehrt ist es so, dass die Türkei, die türkische Regierung bis heute sich weigert, das als Genozid, als Völkermord anzuerkennen. Die Armenier aber das fordern und das geradezu brauchen sozusagen, um sich selber weiterentwickeln zu können und darüber hinwegzukommen, soweit man das überhaupt kann. Und das führt eben dazu, dass es zum Beispiel im Internet, wenn man sich entsprechende Seiten anschaut, vehemente Diskussionen von Vertretern beider Seiten gibt. Es gibt relativ wenig, das sachlich und zurückhaltend wäre, sondern es ist dann eben sehr, sehr emotional.
Dietrich: Wie wichtig ist eigentlich die richtige die Begrifflichkeit? Also wie kann man das Geschehen beschreiben? Welcher Begriff fasst das Ihrer Meinung nach am besten?
"Ich gehe davon aus, dass es ein Genozid ist"
Bremer: Ich gehe davon aus, dass es ein Genozid ist und das deutsche Wort dafür ist Völkermord. Allerdings ist es tatsächlich so, dass der Streit um diese Begrifflichkeit sehr, sehr groß ist. Die offiziellen und offiziösen türkischen Quellen vermeiden das und sprechen bestenfalls von einem angeblichen oder sogenannten Völkermord oder sie sagen einfach, es sei ein Massaker gewesen, und sie sagen, wenn ich das etwas verkürzt darstellen kann, dass es eben tragische Ereignisse im Laufe eines Krieges gewesen seien, die der damalige osmanische Staat aus Gründen der Prävention habe ergreifen müssen und das seien eben katastrophale, aber bedauernswerte Folgen, jedenfalls kein geplanter Völkermord gewesen.
Die armenische Seite hingegen geht davon aus, dass es ein bewusst verübter und geplanter Völkermord war mit der Idee, die Armenier oder zumindest die Armenier im Osmanischen Reich endgültig zu vernichten. Und die meisten Forscher, die sich mit dem Thema beschäftigen, also international, auf internationaler Ebene – nicht alle, aber die meisten – gehen auch davon aus, dass es ein Völkermord war. Die Begrifflichkeit ist deswegen wichtig, weil für die Armenier die Anerkennung des Geschehens als Völkermord durch die Türkei ein sehr, sehr wichtiges Element ist. Es ist interessant, zu sehen, dass es in der Türkei in den letzten Jahren Bewegungen und Initiativen gab von einigen Intellektuellen, die versucht haben, sozusagen sich dieser Geschichte zu stellen oder sich mit dieser Geschichte zu konfrontieren und eine gemeinsame Redeweise mit den Armeniern zu finden, die auch dann von Völkermord gesprochen haben, aber insgesamt ist das gesellschaftlich in der Türkei nicht anerkannt als solcher.
Dietrich: Welche Rolle spielten eigentlich damals 1915 die Unterschiede zwischen Christen und Muslimen? Also welche Rolle spielt es, dass es da um wirklich zwei verschiedene Religionen ging? Oder ging das nur darum, dass die Armenier eben eine nennenswert große Minderheit im Osmanischen Reich war, die eben einfach als Nation dort gesehen wurde?
"Man kann nicht einfach sagen, dass es ein interreligiöser Konflikt gewesen ist"
Bremer: Also vielleicht kann man das so sagen, dass die Armenier von der damaligen osmanischen Regierung als nicht loyale Gruppe innerhalb des Reiches gesehen wurde, und das kann man dann eigentlich nicht voneinander trennen: Die Armenier waren Christen, sie waren orthodoxe Christen und sie waren zugleich angehörige einer anderen Nation, die eine andere Sprache gesprochen haben. Als Christen haben sie sich noch mal besonders dadurch ausgezeichnet, dass die armenische Orthodoxie unterschiedlich ist von der griechischen oder von westlichen Konfessionen, sodass das noch mal ein besonderes Merkmal der Armenier gewesen ist. Aber man kann jetzt nicht einfach sagen, dass es ein interreligiöser Konflikt gewesen ist, sondern die religiöse Dimension kommt automatisch dazu, wenn eben der eine Konfliktpartner muslimisch und der andere christlich ist.
Dietrich: Der Völkermord an den Armeniern ist vor knapp 100 Jahren geschehen. In der gleichen Gegend, in der gleichen Weltregion, wenn man sich das anschaut, ist es heute wieder so, dass orthodoxe Minderheiten, Kirchen von muslimischen oder fanatisierten Muslimen verfolgt werden. Kann man da irgendwelche Parallelen ziehen? Also kann der Bezug auf den Völkermord helfen, besser zu verstehen, was da jetzt passiert?
Bremer: Ich glaube, dass das schon unterschiedliche Situationen sind, die das, was jetzt... Sie sprechen ja an, was jetzt in Syrien gerade vor allem geschieht und in dem Gebiet, das unter der Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates ist: Das ist doch ein sehr enger religiöser Fanatismus, der übrigens – entgegen den Aussagen des Koran, der das so nicht kennt –, der also versucht, alle die Nicht-Muslime, und zwar alle, die Nicht-Muslime auf diese Art, auf dieselbe Art sind, entweder zu konvertieren oder zu töten oder zu vertreiben. Und die Grundlage dafür ist eben ein auf eine besondere Art verstandener Islam.
Bei den Geschehnissen vor 100 Jahren, vor knapp 100 Jahren in der Türkei spielten politische Aspekte eine viel wichtigere Rolle, ich habe vorhin gesagt, als solche empfundene mangelnde Loyalität der Armenier zum Staat, der nationale Unterschied – also das sind dann doch andere Motive gewesen. Aber es zeigt sich wie häufig in Konflikten, dass ein religiöser Unterschied – wenn Sie etwa an die Geschehnisse vor gut 20 Jahren auf dem Balkan denken –, dass ein religiöser Unterschied sozusagen es erleichtert, den Gegner dann als solchen zu identifizieren. Die Spezialisten sagen auch, dass etwa die Konflikte in Nordirland eine soziale, eine wirtschaftliche und viele andere Gründe haben, aber es ist dann viel einfacher, die beiden Parteien als Katholiken und Protestanten zu identifizieren. Also das ist ein dazu tretendes Element, aber das ist nicht die ursprüngliche Ursache. Und so war das wohl beim Völkermord an den Armeniern auch, während die heutige Situation in Syrien ich doch anders einschätzen würde.
Dietrich: Sie waren gerade unterwegs in Armenien. Sie sagen, die Erinnerungen, die prägt das Land noch heute. Ist Armenien auch deswegen eine besondere Form heute der Orthodoxie?
"Fast alle Familien haben Erinnerungen"
Bremer: Die Erinnerung prägt das Land bis heute, das kann man sehr deutlich sehen und erkennen. Der Ort, der so große Bedeutung für die Armenier hat, nämlich der Berg Ararat, ist von Jerewan, von der Hauptstadt aus, gut sichtbar und liegt eben aber auf türkischem Gebiet. Die Grenze ist geschlossen. Es gibt keine Möglichkeit, die Grenze zwischen der Türkei und Armenien zu überschreiten. Fast alle Familien haben Erinnerungen. Es gibt natürlich kaum noch Überlebende aufgrund des großen Zeitabstands, aber viele, viele Familien haben Erinnerungen, bewahren Gegenstände auf, ein Schlüssel des Hauses, das man damals verlassen musste oder solche Dinge. Es gibt einige zivilgesellschaftliche Projekte, die versuchen, zum Beispiel zu einem Dialog beizutragen. Es gibt Menschen, die reisen dorthin in die heutige Türkei, in die Gebiete, wo die Armenier früher gewohnt haben. Es gibt viele Orte, die Ortsnamen haben mit Neu-Soundso, also eine Neugründung des Ortes, den man verlassen musste in der heutigen Türkei.
Das heißt, das ist sehr, sehr stark präsent und man kann das überall deutlich erkennen. Das prägt die Gesellschaft und das prägt natürlich auch die armenische Kirche. Die Besonderheit der Orthodoxie, die ich vorhin angesprochen habe, hat andere Gründe, die sind… Schon lange, viele Jahrhunderte in der Geschichte liegen die zurück und haben dazu beigetragen, dass die armenische Kirche zu den sogenannten altorientalischen Kirchen gehört, also ein wenig wie die syrische Orthodoxie oder die koptische oder äthiopische Kirche, und sich damit in dogmatischen Fragen in einigen Fragen unterscheidet von der anderen, uns eher bekannten Orthodoxie in Russland, in Griechenland, in Serbien, Rumänien, Bulgarien, die uns eher nah ist.
Dietrich: Leitet man dann aus der Geschichte des Völkermords vielleicht so etwas wie einen besonderen Friedensauftrag ab oder so?
Bremer: Das ist schwer zu sagen. Zum einen ist es gesellschaftlicher Konsens und auch staatliche Doktrin sozusagen, die Erinnerung zu bewahren und zu erhalten. Es gibt ein großes Denkmal, ein großes Gedenkzentrum, ein Museum in Jerewan, das große Bedeutung hat, und ich hatte den Eindruck, dass das auch tatsächlich weithin in der Gesellschaft so anerkannt wird. Und es ist ein wenig so, dass durch dieses Verlangen nach Anerkennung der Untaten durch die Türkei die Gesellschaft so etwas wie ein bisschen gelähmt ist, also dass man eben sozusagen da hinstarrt und darauf wartet, das aber nicht bekommt oder bis jetzt noch nicht bekommen hat, und dass das natürlich es hindert, sich sozusagen überhaupt so damit auseinanderzusetzen, dass man gesellschaftlich da auch sich weiter entwickeln kann.
Und das scheint mir ein bisschen problematisch zu sein. Ich habe den Eindruck gehabt, dass die Vertreter der armenischen Kirche und auch die Gesellschaft in Armenien bereit ist und offen ist für eine Versöhnung. Es gab ja vor einigen Jahren auch schon mal Schritte, die auch von türkischer Seite, die da relativ nahe dran sind und es gibt auch eben einige Menschen in der türkischen Politik, die das so sehen. Aber das ist ja noch keine Entwicklung eines besonderen Auftrags zum Frieden, sondern es geht vor allem um die konkrete Versöhnung und Aussöhnung mit den Nachkommen derjenigen, die damals die Untaten begangen haben.
Dietrich: Der Völkermord an den Armeniern 1915, 1916 ist verwickelt in die Geschichte des Ersten Weltkriegs, deswegen ist es natürlich auch ein deutsches Thema, wenn auch am Rande. Wie sähe denn hier ein angemessenes Gedenken für Sie aus?
"Insgesamt ist ein offener Diskurs zwischen beiden Gruppen notwendig"
Bremer: Sie haben recht, historisch gab es da eine ungute deutsche Beteiligung und es gibt einige Menschen, einige Personen in Deutschland, die sich sehr für die Armenier eingesetzt haben und das wird auch sehr gewürdigt. Es gibt Vorbereitungen der armenischen Gemeinde, die es hier gibt in Deutschland, entsprechend das Gedenken im Lauf des nächsten Jahres zu gestalten. Der eigentliche Gedenktag, der offizielle Gedenktag wird im April sein. Und ich glaube nicht, dass es eine bestimmte Form gibt, die wir hier in Deutschland machen müssen oder erbringen müssen, sondern ich glaube, es wäre wichtig, dass man das eben allgemein anerkennt, dass wir das sehen, dass wir das verstehen und dass man das natürlich auch verurteilt.
Es ist ja nicht etwas, was man in irgendeiner Weise gutheißen könnte. Auf politischer Ebene wird das sehr stark dadurch bestimmt, soweit ich das sehe, dass es ja viele Türken gibt, die hier in Deutschland leben, viel mehr als Armenier, und dass es deswegen sozusagen die Idee gibt, etwas Rücksicht zu nehmen auf die türkischen Befindlichkeiten. Aber ich glaube, insgesamt ist ein offener Diskurs zwischen beiden Gruppen notwendig. Ob wir den in Deutschland gerade gut führen können, weiß ich nicht, das muss natürlich zunächst und vor allem in den Ländern selber geschehen, aber insgesamt kommt man nicht darum herum, sich mit diesen Fragen und mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Dietrich: Wie kann ein angemessener Umgang, ein angemessenes Gedenken an den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren aussehen? Ich sprach mit Thomas Bremer, Professor für Ostkirchenkunde an der Universität Münster.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.