Verbrechen des Klassenfeinds

Die Auschwitz-Prozesse in der DDR

Der Angeklagte Horst Fischer (r) bei Prozessbeginn  im Jahr 1966.
Horst Fischer (r) wurde nach einem kurzen Prozess zum Tode verurteilt. Danach wurden in der DDR keine Verfahren gegen weitere NS-Verbrecher eröffnet. © picture alliance / dpa
Von Regina Kusch und Andreas Beckmann |
Nicht nur in Westdeutschland gab es Auschwitz-Prozesse, sondern auch in der DDR. Aber die unbequemen Wahrheiten dahinter wurden geheim gehalten.
"Herr Präsident, Oberstes Gericht der Deutschen Demokratischen Republik. Den Arzt Dr. med. Horst Fischer klage ich an, als SS-Lagerarzt im Konzentrationslager Auschwitz Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen und dadurch das Leben Zehntausender Menschen vernichtet zu haben."
10. März 1966: eine Sensation für die Weltpresse. In Ost-Berlin eröffnet das Oberste Gericht der DDR einen Prozess, in dem es um Verbrechen in Auschwitz geht. Angeklagt ist Horst Fischer, Lagerarzt in Auschwitz. Ankläger ist Josef Streit, Generalstaatsanwalt der DDR.
"Der Angeklagte hat während der von ihm eigenverantwortlich durchgeführten Selektionen nach seinen eigenen Schätzungen etwa 55.000 bis 75.000 Menschen zur Vernichtung ausgesondert, die dann in den Gaskammern getötet und anschließend verbrannt wurden."
1966 hatte die DDR eigentlich schon aufgehört, Prozesse gegen Nazi-Verbrecher zu führen. Das Kapitel NS-Vergangenheit schien abgeschlossen zu sein.
"Die DDR wollte damit einen Schnitt ziehen und die neue Gesellschaftsordnung aufbauen und gleichzeitig verlagerte die SED-Führung das NS-Täter-Problem in Richtung Bundesrepublik und behauptete kurzerhand, alle Verantwortlichen seien geflohen aus der DDR und die DDR hätte kein Problem mehr."
Henry Leide erforscht in der Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen die Verfolgung von NS-Verbrechen durch die ostdeutsche Justiz. Für Ermittlungen zu diesem Tatkomplex war unmittelbar nach dem Krieg die Kriminalpolizei zuständig, unter der Aufsicht der sowjetischen Besatzungsbehörden. Nach der Republik-Gründung 1949 zog das Ministerium für Staatssicherheit bald alle Verfahren an sich.
"Bis 1950 waren bereits 13.000 Personen wegen NS-Delikten verurteilt worden. Das Interessante ist, dass von dieser Vielzahl von Personen 1956 nur noch 34 Personen in den Gefängnissen der DDR befindlich waren, der Rest war amnestiert worden."

Die SED hatte ein ähnliches Problem wie die Bundesrepublik

Es gab zu viele ehemalige Nazis und Mitläufer, um ein Staatswesen ohne sie aufzubauen. Schon 1951 hatte die Partei anlässlich einer internen Untersuchung selbst in ihren eigenen Reihen etwa 200.000 Alt-Nazis gezählt. Darunter auch Ernst Melsheimer, bis 1945 im Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund, ab 1945 in der KPD und ab 1949 Generalstaatsanwalt der DDR. 1960 starb er, dekoriert mit dem Vaterländischen Verdienstorden. Nach NS-Tätern wurde zu dieser Zeit kaum mehr gefahndet. Es galt die Linie, die Erich Honecker am 16. April 1963 in der Parteizeitung "Neues Deutschland" so beschrieb:
"Entscheidend für die Beurteilung eines Parteimitgliedes sind seine ehrlichen, aktiven Taten für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und sein Verhältnis zur Partei als Ergebnis richtiger Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit."
Angesichts solcher Verlautbarungen konnte auch der ehemalige KZ-Arzt Horst Fischer ruhig schlafen. Er war zwar nie der SED beigetreten. Aber zwanzig Jahre nach Kriegsende schien es für ihn selbstverständlich, dass man ihn in seiner Praxis in Spreenhagen bei Berlin unbehelligt am Aufbau des Gesundheitswesens mitwirken ließ, erzählte er in seiner Vernehmung vor dem Obersten Gericht der DDR.
"In dieser ganzen Zeit, haben Sie sich da keine Gedanken darüber gemacht, dass Ihre Verbrechen entdeckt werden könnten und dass ein Strafverfahren gegen Sie eingeleitet werden könnte?
Ich habe natürlich, vor allem zu Anfang, mit einer Bestrafung und einer Verfolgung gerechnet.
Angeklagter, was hat Sie denn veranlasst, dass Sie sich nach 1945 hier im Osten Deutschlands niedergelassen haben?
Ich hatte zunächst einmal Fuß gefasst. Ich war hier den Nachforschungen entgangen, das ist ein sehr wesentlicher Punkt gewesen. Ich war froh, dass dieses Kapitel abgeschlossen war.
Glaubten Sie, dass Sie den Nachforschungen hier leichter entgehen als in Westdeutschland?
Ja, nein, in der Form nicht. Wissen Sie, ich war der Meinung, für mich war das Kapitel abgeschlossen."
Dabei war er durchaus auf der Hut gewesen, berichtete Horst Fischer dem Richter Heinrich Toeplitz. Stets hatte er in den Medien auf Berichte über Prozesse gegen NS-Täter geachtet. Aber in den letzten Jahren waren ihm nur Meldungen zu zwei Verfahren in der DDR aufgefallen: 1960 gegen Theodor Oberländer und 1963 gegen Hans Globke. Beide Angeklagte waren nicht erschienen, denn sie saßen in Bonn im Kabinett von Bundeskanzler Konrad Adenauer. In der Nazi-Zeit hatte Oberländer als sogenannter Ostforscher Denkschriften zur ethnischen Säuberung Osteuropas verfasst und Globke in Juristischen Kommentaren zu den Nürnberger Gesetzen entscheidend zur Entrechtung der deutschen Juden beigetragen. Beide wurden in Ost-Berlin in Abwesenheit zu lebenslänglichen Zuchthausstrafen verurteilt. Die DDR-Justiz verfolgte dabei das Ziel, die "Wesensgleichheit" der Bonner Republik mit der Nazi-Diktatur vorzuführen. Ab 1963 wurde es schwieriger, diese Behauptung aufrecht zu erhalten.
Archiv HR-Fernsehen:
"Frankfurt am Main 1964. In diesen Gefängniswagen sitzen Buchhalter, Kaufleute, Apotheker. Angeklagt wegen Mordes in vielen Tausenden Fällen, begangen im Konzentrationslager Auschwitz. In Frankfurt findet der größte Prozess der deutschen Justizgeschichte statt. 22 Täter des Holocaust müssen vor ihre Richter treten."
"Der Frankfurter Auschwitz-Prozess wurde zunächst `63 begonnen, und einige Jahre zuvor schon vorbereitet intensiv, durch die Frankfurter Staatsanwaltschaft. Diese Aktivitäten hat man in Ost-Berlin natürlich genau wahrgenommen."
Der Berliner Historiker und Kurator Christian Dirks hat seine Doktorarbeit über das Verfahren gegen Horst Fischer geschrieben und ist überzeugt, dass dieses ohne den Frankfurter Auschwitz-Prozess nicht zu verstehen ist.
"Man kam unter Druck. Selbst hatte man keinen solchen NS-Prozess zum Komplex Auschwitz aufzuweisen."
Obwohl bereits ein Verdächtiger in Erfurt im Gefängnis saß, ergänzt Henry Leide von der Stasi-Unterlagenbehörde.
"Hans Anhalt war ein Angehöriger der SS-Besatzung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, der Anfang der 50er-Jahre ins Visier der staatlichen Organe geraten war. Erst hat er geleugnet und dann regelrecht damit geprahlt, mindestens 300.000 Juden vergast zu haben."
Zeitweilig zweifelte das MfS, das Ministerium für Staatssicherheit, an Anhalts Geisteszustand, aber ein psychiatrischer Gutachter konnte keine Persönlichkeitsstörung feststellen. Dennoch passte Hans Anhalt nicht in das Täterprofil des MfS.
"Generell galt ja Faschismus als terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals."
Das MfS war darauf bedacht, Unternehmensführer wie die Chefs der IG Farben an den Pranger zu stellen, die im Lager Auschwitz-Monowitz Häftlinge von der SS als Sklavenarbeiter gemietet und bis zur völligen Erschöpfung ausgebeutet hatten.
"Die gab es nur noch in der Bundesrepublik. In der DDR waren ja die materiellen, die ökonomischen Voraussetzungen für den Faschismus ausgerottet, indem man Privateigentum in Volkseigentum umgewandelt hat. Da in der Bundesrepublik sich die Gesellschaftsordnung nicht geändert hatte, war das aus ideologischen Gründen praktisch die Fortführung des Nationalsozialismus."
Diese politische Linie zu untermauern, war für die Stasi das Ziel jeder Ermittlung. Weil sie keine Vertreter der Wirtschaftselite anklagen konnte, suchte sie nach Tätern, die eng mit ihr zusammengearbeitet hatten. Hans Anhalt passte nicht in dieses Bild, weil er gar nicht in Auschwitz-Monowitz Dienst getan hatte, sondern im benachbarten Lager Birkenau, das nicht der Ausbeutung, sondern ausschließlich der Vernichtung der Gefangenen gedient hatte. Anhalt war ein Sadist, der aus reiner Mordlust abertausende Juden ermordet hatte, ohne jedes ökonomische Interesse. Deshalb passte er nicht in das ideologische Muster der Kommunisten, die im Faschismus vor allem ein System extremer Ausbeutung sahen. Weil sich Anhalt in seinem Heimatdorf mit seinen Taten gebrüstet hatte, war für die Stasi klar, dass er lebenslang in Haft bleiben musste.
"Der Prozess wurde in aller Heimlichkeit durchgeführt. Der ist vom Bezirksgericht Erfurt verurteilt worden und man hat das einfach so gemacht, dass alle Teilnehmer an dem Prozess Genossen des MfS waren oder ausgewählte SED-Mitglieder."
Da man kein Verfahren eröffnen konnte, das den eigenen Zielen gerecht wurde, sollte der Frankfurter Auschwitzprozess für eigene Propagandazwecke genutzt werden, entschied der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke. Dafür wurde Friedrich Karl Kaul als Nebenklage-Vertreter an den Main geschickt. Er war einer der wenigen DDR-Juristen, die auch eine westdeutsche Anwaltslizenz besaßen. Durch Zeugenbefragungen und eigene Beweisanträge sollte Kaul das Augenmerk auf die Rolle der IG Farben lenken. Doch weil die Frankfurter Staatsanwälte sich für diesen Komplex wenig interessierten, blieben seine Auftritte weitgehend unbeachtet. Aber nach dem 148. Verhandlungstag übermittelte Kaul am 11. Juli 1965 eine brisante Information an Erich Mielke: ein Zeuge habe in Frankfurt von einem KZ-Arzt namens Horst Fischer berichtet.
"Dieser Fischer lebt unangefochten im Bezirk Frankfurt/Oder, wo er als Arzt tätig sein soll. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Gegner darüber informiert sein wird."

Für den Fall Fischer galt zunächst strengste Geheimhaltung

Kaul fürchtete einen schweren Image-Schaden für die DDR. Er konnte nicht wissen, dass das MfS Fischer bereits einen Monat zuvor, am 11. Juni 1965, verhaftet hatte. Denn auch für den Fall Fischer galt zunächst strengste Geheimhaltung. Es sollte noch bis zum September 1965 dauern, ehe die DDR-Behörden entschieden, Fischer anzuklagen. Erst dann durften die Medien über den Fall berichten.
"Zwanzig Jahre konnte sich Fischer unter uns verbergen. Unsere Untersuchungsorgane aber hatten ihn dennoch ermittelt, diesen KZ-Arzt Fischer."
"Das war Zufall. Er hatte Westverwandtschaft und nach der Analyse dieser Kontakte hat man erste Informelle Mitarbeiter auf Fischer angesetzt und hat seine Vita überprüft."
Aus den Berichten der IM, so Christian Dirks, ging hervor, dass Fischer sich in der DDR gelegentlich regimekritisch geäußert habe. Und ein Stasi-Zuträger behauptete, Fischer sei in Auschwitz gewesen. Daraufhin schauten die zuständigen Offiziere auch in ihren umfangreichen Aktenbeständen zur Nazi-Zeit nach, die sie schon lange besaßen, aber nie systematisch ausgewertet hatten. In Unterlagen aus Auschwitz fanden sich Hinweise auf Horst Fischer.
"Fischer war durchaus bereit auszupacken, sag ich mal salopp, und das unterscheidet ihn doch von vielen anderen. In dem Ausmaß sind mir keine Aussagen bekannt von ranghohen SS-Tätern, die so umfangreich zu ihren Verbrechen Stellung nehmen."
In Verhören des MfS gestand Fischer, in Auschwitz an Selektionen teilgenommen zu haben. Nichts deutet daraufhin, dass er unter Druck gesetzt worden sein könnte. Ihm war klar, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Tode bestraft werden konnten. Er hoffte auf Milde, wenn er kooperierte. Also erzählte er alles, was er wusste. Aber das war nicht das, was die Stasi hören wollte.
"Bericht der Hauptabteilung IX/10 über wesentliche Untersuchungsergebnisse im Ermittlungsverfahren gegen Dr. Horst Fischer vom 25.11.1965:
Die Aufklärung des Zusammenwirkens des Beschuldigten Fischer mit leitenden Angestellten des IG Farbenwerkes Monowitz sowie mit Vertretern anderer faschistischer Konzerne der Außenlager des KZ Auschwitz bereitet noch Schwierigkeiten, da der Beschuldigte nicht mit derartigen Personen Verhandlungen geführt haben will."
"Die Staatssicherheit hat interessiert, Fakten zusammenzutragen, Aussagen zusammenzutragen, die Fischer belasten und in einen unmittelbaren Zusammenhang stellen mit den IG Farben. Das war das Hauptaugenmerk der Propagandisten in Ost-Berlin, dort die Verantwortlichkeiten der IG-Farben-Manager zur Sprache zu bringen."
Das Ministerium für Staatssicherheit trug umfangreiche Dokumente zusammen, aus denen hervor ging, dass die IG Farben Millionenprofite aus der Ausbeutung der Gefangenen in Auschwitz-Monowitz gezogen hatte. Die konnte sie in das Verfahren einführen, nachdem Horst Fischer am zweiten und dritten Verhandlungstag noch einmal ausführlich seine Beteiligung an den Selektionen schilderte, die in Auschwitz tagtäglich unmittelbar nach der Ankunft deportierter Juden stattgefunden hatten.
"Sagen Sie dem Gericht noch einmal zusammenfassend, aus welchen Gründen diese Deportierten-Transporte selektiert wurden?
Es sollten die Deportierten, die noch arbeiten konnten, von der Industrie bis zu ihrer Erschöpfung ausgebeutet werden, um dann ebenfalls vernichtet zu werden.
Und die anderen wurden sofort vernichtet?
Die anderen wurden sofort vernichtet. Das war das System."
Horst Fischer war ein Massenmörder. Etwa 70.000 Menschen hat er in die Gaskammern geschickt, das wurde in der Verhandlung zweifelsfrei belegt. Durch Fischers Geständnis, durch Gutachten und durch Zeugenaussagen
"Ich kannte die SS-Ärzte nahezu alle, die zu der Zeit dort waren."
Hermann Langbein war der beste Zeuge, den man sich für einen Prozess gegen Horst Fischer vorstellen konnte. Als österreichischer Kommunist hatte er Widerstand gegen den Anschluss seines Landes ans Deutsche Reich geleistet und war zunächst nach Dachau, später nach Auschwitz deportiert worden. Dort hatte man ihn als Häftlingsschreiber eingesetzt, als Sekretär des Standort-Arztes Eduard Wirths und seines Stellvertreters Horst Fischer. In dieser Funktion hatte Langbein alles protokolliert, was die Ärzte taten oder veranlassten.
Hermann Langbein wurde nicht als Zeuge geladen, aus Prinzip nicht. Er war persona non grata in der DDR. Er hatte sich 1956, nach dem Aufstand in Ungarn, von der KPÖ losgesagt. Als Mitbegründer des Internationalen Auschwitz Komitees besaß er große moralische Autorität, wenn es um die Aufklärung von NS-Verbrechen ging. Seine Schilderungen fielen stets differenzierter aus, als den DDR-Ermittlern lieb war. Auch wenn es um die Rolle der SS-Ärzte ging.
"Es gab solche, die mehr machten, als man von ihnen verlangte. Und es gab einzelne, die da und dort versucht haben, das eine oder andere abzuschwächen. Wobei es die Möglichkeit gab dadurch, da es in der Zentrale zwei Stellen gab, die unterschiedliche Befehle manchmal gaben. Das Reichssicherheitshauptamt, also dort, wo Eichmann das große Wort führte, das war: Alle vernichten! Und es gab das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt, die sagten, möglichst viele Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie. Und die Zahl derer, die sollte immer höher werden, trotz der großen Sterblichkeit. Dadurch gab es die Möglichkeit für einen SS-Arzt, sich auf einen Befehl zu berufen, wenn man etwas abschwächte. Und diese Möglichkeit haben manche versucht auszunützen. Im positiven Sinn für uns."
Zu denen habe auch Horst Fischer gehört, schrieb Hermann Langbein viel später, 1980, in seinem Buch "Menschen in Auschwitz". Aber für Widerstand, und sei er noch so zaghaft gewesen, habe ihm sowohl die Umsicht als auch das Rückgrat gefehlt.
"Das Gericht war dezidiert nicht interessiert, entlastende Momente zu Fischer mit ins Feld zu führen. Das ist vor Gericht sehr kurz zur Sprache gekommen und dann sehr schnell abgewürgt worden vom Obersten Gericht, das sei hier nicht Thema."
Fast drei Stunden sprach der Generalstaatsanwalt. In verschiedenen Passagen seines Plädoyers würdigte er die Aussagen der wenigen Zeugen. Viel ausführlicher zitierte er aus Protokollen von Besprechungen zwischen SS und IG Farben, in denen der Angeklagte freilich nie vorkam. Dafür aber NS-Funktionäre und Wirtschaftsleute, die inzwischen in der Bundesrepublik schon wieder zu Ansehen und Stellung gekommen waren. Damit wollte Josef Streit deutlich machen, wer hier eigentlich auf der Anklagebank saß: das kapitalistische System. Am Ende forderte er die Todesstrafe für Horst Fischer.
Wolfgang Vogel, der Verteidiger, stand damals noch ganz am Anfang seiner Karriere - später wurde er weltberühmt als Vermittler beim deutsch-deutschen Häftlingsfreikauf oder beim Agentenaustausch zwischen Ost und West. Das Verfahren gegen Horst Fischer war sein erster großer Auftritt als Rechtsanwalt. In seinem Plädoyer lobte er die vorherigen Leistungen der DDR-Justiz, insbesondere in den beiden spektakulären Verfahren gegen Hans Globke und Theodor Oberländer.
"Beide wurden nicht zum Tode verurteilt, sondern zu lebenslangem Zuchthaus. Wir bitten zu erwägen, ob all das, was damals gegen die Todesstrafe sprach, es rechtfertigt, in diesem Verfahren ebenfalls von der Todesstrafe abzusehen."
Christian Dirks:
"Es war von Anfang an ein Schauprozess. Schauprozess in dem Sinne, als dass der gesamte Ablauf vom Ministerium für Staatssicherheit festgelegt, mit der Generalstaatsanwaltschaft und den Obersten Gericht abgesprochen war. Und das ging so weit, dass sogar das Urteil vorher schon feststand und man sich da im Vorfeld darauf geeinigt hat."
Verlesen wurde es vom Gerichtspräsidenten Heinrich Toeplitz am 25. März 1966.
"Im Namen des Volkes, der Angeklagte wird wegen fortgesetzt begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt."

Ein Todesurteil, war noch nicht das letzte Wort

Doch ein Urteil, gerade auch ein Todesurteil, war noch nicht das letzte Wort. Nach der Verfassung der DDR besaß deren höchster Repräsentant, der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht, ein Gnadenrecht. Er konnte das Strafmaß auf lebenslänglich herabsetzen. Darum ersuchte Wolfgang Vogel ihn unmittelbar nach der Urteilsverkündung. Horst Fischer verließ den Gerichtssaal nicht in Richtung Todeszelle, sondern kam wieder in ein Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit. Dort verhörten ihn die Offiziere weiter.
Christian Dirks:
"Wie funktionierte die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz aus der Sicht eines SS-Mediziners? Wie haben die gelebt? Also gut ausgebildete Akademiker, die in den 40er-Jahren nach Auschwitz gekommen sind, in der Regel ihre Familien nachgeholt haben, in Häusern wohnten unmittelbar in der Umgebung des Stammlagers, wo vorher polnische Familien gewohnt hatten, die vertrieben und verfolgt wurden. Daraufhin kamen deutsche SS-Familien, sind dort eingezogen, mit Mann und Maus, haben ihr Geschirr, ihre Tischdecken, Gardinen aus Berlin mitgebracht und haben sich dort häuslich eingerichtet im Schatten der Krematorien. Wie ging das? Wie haben die ihren Alltag gestaltet?
Fischer erzählte von einem gutbürgerlichen Leben, das er sich zu Hause kaum hätte leisten können. Von polnischen Hausangestellten, die seiner Frau das Kochen und Waschen abnahmen und seine Familie auch sonst umsorgten. Von Möbeln, die er sich aussuchen durfte, nachdem sie offenbar polnischen oder jüdischen Familien geraubt worden waren. Aber auch von weinseligen Gemeinschaftsabenden im SS-Führerheim.
"Das sind doch Informationen, die äußerst interessant, einzigartig sind, die lange Zeit nicht so bekannt waren in der Detailtiefe und die uns viel sagen über das Funktionieren von Tätern."
Historiker sollten noch Jahrzehnte brauchen, bis sie auf solche Erkenntnisse stießen. Das MfS legte diese Informationen zu den Akten. Unterdessen ging beim Obersten Gericht der DDR eine Flut von Briefen ein, die auf das Urteil gegen Horst Fischer reagierten.
"Es gab viel Zustimmung und entsprechende Zuschriften, die sich eher mit Genugtuung äußerten. Es gab aber auch sehr viele kritische Zuschriften. Gerade hier in der Region vor den Toren von Berlin, wo Fischer lebte, rund um Spreenhagen, in dem Ort, wo er seine Praxis hatte, hat das für Unmut gesorgt. Dort kannte man ihn als den freundlichen, netten Landarzt und hat SED und MfS unterstellt, etwas konstruiert zu haben."
Christian Dirks hat die Briefe an das Oberste Gericht der DDR in den 90er-Jahren in den Stasi-Unterlagen zum Fischer-Prozess gefunden.
"Anhand dieser Aussagen, und es sind schon einige hundert Zuschriften, die wir da gefunden haben, kann man schon sagen, dass das auch eine gewisse Strömung in Teilen der DDR-Bevölkerung war, ganz analog der Mentalität in der Bundesrepublik, die von einem Schlussstrich gesprochen hat. Es müsse doch auch gut sein, und 20 Jahre danach, wie lange wolle man denn noch? Das ist durchaus vergleichbar. Es gab zum einen Zuschriften, die das formuliert haben und dann gibt es aber auch eine ganze Reihe von Stimmungsberichten, die IMs dann formuliert haben, und die in entsprechenden Stasi-Akten überliefert sind."
"Die ganzen Leute, die im Nationalkomitee Freies Deutschland zusammengefasst worden wären und die heute zum Teil in der NDPD seien, wären ja bekanntlich Nazis und Militaristen und dergleichen gewesen, die heute gewisse Funktionen bekleiden und die sicherlich früher aufgrund ihrer Dienststellung auch an Gräueltaten beteiligt waren."
Bericht des Geheimen Mitarbeiters "Sulky" vom 23.März 1966
Das Nationalkomitee Freies Deutschland und die Nationaldemokratische Partei NDPD waren einst auf Befehl Stalins gegründet worden, um im sowjetischen Machtbereich als Auffangbecken für Alt-Nazis und ehemalige Wehrmachtskämpfer zu dienen. Die NDPD gehörte von Anfang bis Ende der DDR zu jenen Blockparteien, mit denen die SED in der "Nationalen Front" regierte.
Was der Geheime Mitarbeiter "Sulky" an Vermutungen kolportierte, musste das MfS alarmieren, denn der Geheimdienst wusste genau, welche Leute in der NDPD untergekommen waren, berichtet Henry Leide von der Stasi-Unterlagenbehörde.
"Martin Roßbach ist Personalchef der IG Farben in Auschwitz gewesen und hat in der DDR gelebt und hat dort Karriere gemacht in der NDPD, und sein Name fiel natürlich auch im Auschwitzverfahren in der Bundesrepublik, wo er als Zeuge geladen werden sollte. Die DDR hat das verhindert und hat ihn nicht behelligt."
Roßbach hatte für die IG Farben-Verwaltung Auschwitz laufend mit der SS über den Einsatz der Häftlinge verhandelt. Er musste genau über deren Ausbeutung Bescheid gewusst haben und er hätte Auskunft geben können über das Zusammenspiel von Wirtschaft und NS-Behörden. Aber er war hauptamtlicher Funktionär der NDPD und Leiter einer Fabrik in Bad Tennstedt. Deshalb hatte Erich Mielke schon im Februar 1965 entschieden, dass Roßbach weder in der DDR angeklagt werden noch als Zeuge nach Frankfurt am Main reisen sollte.
Im Fall Fischer setzte Erich Mielke dagegen auf Härte. Auf seine Empfehlung hin entschied Walter Ulbricht am 26. April 1966, kein Gnadenverfahren einzuleiten. Der Verurteilte erfuhr davon, ebenso wie die Öffentlichkeit, erst am Tag der Urteilsvollstreckung. Am 8. Juli 1966 starb Horst Fischer in Leipzig unter dem Fallbeil. In ihren Medien ließ sich die Staatsführung für diese, wie es hieß, einzig angemessene Reaktion auf die Verbrechen des SS-Arztes in Auschwitz feiern.
Fast zeitgleich schloss dagegen die Hauptabteilung XX des MfS in einem geheimen Vermerk ein Ermittlungsverfahren gegen eine andere Gruppe von Ärzten, die sich an Euthanasieverbrechen in der Heilanstalt Stadtroda beteiligt hatten:
Zitat:
"Da sich der damalige Leiter der Heilanstalt bereits in Westdeutschland gerichtlichen Untersuchungen aussetzen musste, andererseits Beschuldigte aus der DDR in höheren Positionen des Gesundheitswesens stehen (Frau Dr. Albrecht – Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Jena), könnte bei Auswertung ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden."
Es wäre offensichtlich geworden, dass NS-Täter nicht nur im Westen ihre Karrieren bruchlos fortsetzen konnten, sondern dass es solche Fälle auch in der DDR gab. Also verschwanden die Akten mit einem Sperrvermerk in den Archiven der Stasi. Und aus Frau Doktor Albrecht, die am Euthanasie-Programm der Nazis mitgewirkt hatte, wurde Frau Professor Rosemarie Albrecht, die in die Akademie der Wissenschaften der DDR berufen und 1972 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet wurde.

Es wurde nie wieder ein Täter angeklagt

Angesichts der ablehnenden Reaktionen in der Bevölkerung auf das Urteil gegen Horst Fischer scheint das Ministerium für Staatssicherheit zu dem Schluss gekommen zu sein, weitere Prozesse wegen Verbrechen, die in Konzentrationslagern begangen worden waren, seien in der DDR nicht opportun. Zwar findet sich nirgendwo in den Akten ein derartiger Beschluss, aber es wurde auch nie wieder ein Täter angeklagt.
"Josef Settnik war Angehöriger der Politischen Abteilung in Auschwitz und, wie Zeugen bekundet haben, auch an Folterungen, Vergasungen und Selektionen beteiligt. Die Staatssicherheit hat über diese Vergangenheit im großen und ganzen Bescheid gewusst und hat ihn angeworben und damit war die Strafverfolgung durch seine inoffizielle Mitarbeit ersetzt worden."
Die Unterschrift unter eine Verpflichtungserklärung bei der Staatssicherheit wurde in manchen Fällen als Wiedergutmachung bezeichnet, berichtet Henry Leide. Aber das galt nicht für alle.
"Johannes Adam ist laut Original-Akten aus Auschwitz Angehöriger der SS-Besatzung des Konzentrationslagers Auschwitz gewesen. Die Staatssicherheit hat das seit 1964 gewusst, hat das auf einer Karteikarte notiert und nichts weiter unternommen.
Von 1942 bis `45 war Johannes Adam Wachmann in demselben KZ gewesen, in dem Horst Fischer Dienst getan hatte. In der DDR stieg Adam zum Professor für medizinische Statistik an der Universität Halle-Wittenberg auf. 1980 erhielt er den Vaterländischer Verdienstorden in Bronze.
"Ein Verfahren, welches gegen ihn eingeleitet wurde lange nach der friedlichen Revolution, musste eingestellt werden aus Gründen der Verhandlungsunfähigkeit."
Henry Leide von der Stasi-Unterlagenbehörde zieht eine für beide deutsche Staaten ernüchternde Bilanz:
"Die gesellschaftlichen Voraussetzungen waren in beiden deutschen Staaten grundverschieden, auch die rechtlichen Voraussetzungen waren grundverschieden, das Ergebnis ist aber dasselbe, erstaunlicherweise: Die NS-Täter sind in der Mehrzahl ungeschoren davon gekommen."
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