Lohndrückerei als Geschäftsmodell
29:50 Minuten
Armutslöhne, Befristungen, Tarifflucht: Verdi-Chef Frank Bsirske warnt vor neuen sozialen Verwerfungen. Arbeitgeber wie der Versandhändler Amazon und die Fluglinie Ryanair versuchten "durch Lohndrückerei die eigenen Profitinteressen zu bedienen", sagt er.
Verdi-Chef Frank Bsirske, der den Vorsitz der Gewerkschaft in der kommenden Woche nach 18 Jahren aus Altersgründen abgibt, warnt vor einer "Amerikanisierung" der Arbeitswelt. Viele Unternehmer seien den Gewerkschaften gegenüber feindlich eingestellt und versuchten sich der Tarifbindung zu entziehen.
In Arbeitskämpfen habe die Gewerkschaft dennoch viele Verbesserungen durchsetzen können, auch bei Unternehmen wie Amazon und Ryanair, die eigentlich gar nicht mit den Gewerkschaften verhandeln wollten.
In Arbeitskämpfen habe die Gewerkschaft dennoch viele Verbesserungen durchsetzen können, auch bei Unternehmen wie Amazon und Ryanair, die eigentlich gar nicht mit den Gewerkschaften verhandeln wollten.
Neben dem Kampf um faire Arbeitsbeziehungen sollten die Gewerkschaften in Zukunft auch beim Klimaschutz eine stärkere Rolle spielen, meint Bsirske. Hier gehe es darum, "die Lebensgrundlagen der Menschheit dauerhaft zu bewahren", das sei von fundamentaler Bedeutung. Der Klimaschutz müsse sozialverträglich gestaltet werden, der Erhalt von Arbeitsplätzen und der Schutz der Atmosphäre dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Deutschlandfunk Kultur: Wir sprechen heute mit Frank Bsirske. Er ist Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Noch, muss man allerdings sagen. Denn in drei Tagen geht er in den Ruhestand. Ein guter Zeitpunkt also, um Bilanz zu ziehen und vorauszuschauen. Wo stehen die Gewerkschaften heute? Welche Perspektiven haben sie überhaupt noch? Guten Tag, Herr Bsirske.
Frank Bsirske: Einen schönen guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Bsirske, seit 18 Jahren Chef der zweitgrößten deutschen Einzelgewerkschaft, Sie sind damit der dienstälteste Gewerkschaftsvorsitzende. Haben Sie schon eine Vorstellung, was Sie machen, wenn Sie in den Ruhestand gehen, was Sie mit der ganzen Zeit anfangen?
Bsirske: Offen gesagt, noch nicht wirklich. Es gibt so viel Interessantes zu lesen. Ich werde mich körperlich fit halten. Ich will meine Sprachkenntnisse verbessern. Ich bleibe noch in dem einen oder anderen Aufsichtsrat, weil die Kolleginnen und Kollegen es wollen. Also, ich glaube, über einen Mangel an Betätigungsmöglichkeiten, über Langeweile werde ich mich nicht beklagen müssen. Und alles, was da noch dazu kommt, bleibt dann abzuwarten.
Deutschlandfunk Kultur: Keine Angst, dass Ihnen dann was fehlt, wenn der Tag nicht mehr so durchgetaktet ist, der Chauffeur nicht mehr vor der Tür wartet?
Bsirske: Na ja, wenn ich sagen würde, es fällt mir leicht, dann wäre es gelogen. Natürlich nicht, schließlich bin ich mit Leib und Seele und leidenschaftlich dieser Aufgabe nachgegangen. Natürlich wird da was fehlen. Das ist keine Frage. Aber ich werde ein politisch engagierter Mensch bleiben, bin vielseitig interessiert und mir ist nicht bange vor der Zukunft.
"Mindestlohn wäre ohne Verdi kaum möglich gewesen"
Deutschlandfunk Kultur: Wenn Sie jetzt auf diese 18 Jahre zurückblicken, was war Ihr größter Erfolg?
Bsirske: Ich denke, dass es gelungen ist, mit Verdi die starke Dienstleistungsgewerkschaft in Deutschland zu schaffen. Das ist mein Erfolg: Also, eine Gewerkschaft, die Einfluss nimmt, die Gewicht hat und auch Dinge mitgestaltet. Dass es den gesetzlichen Mindestlohn gibt in unserem Land, das wäre ganz sicher ohne Verdi kaum möglich gewesen. Dass es gelungen ist, den Blick in der Gesellschaft auf das Rententhema zu verschieben und zu sensibilisieren für die Herausforderung drohender millionenfacher Altersarmut, das ist, finde ich, auch schon ein Stück Frucht des Gewichts, den Verdi zusammen mit anderen Gewerkschaften gesellschaftlich einbringen kann.
Und es ist ja nicht nur in Richtung Politik etwas vorzuweisen. Wir haben die ganzen letzten Jahre hindurch deutliche Reallohnsteigerungen in ganz, ganz vielen Branchen erreicht, haben qualitativ tarifpolitisch durchaus auch Leuchttürme gesetzt – Tarifverträge zu mobilem Arbeiten, zu Arbeitszeitverkürzung mit Teillohnausgleich, Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, je nach Branche dort, wo sich Arbeitsplatzwirkungen der Digitalisierung negativ abzeichnen, und dass es gelungen ist, die sozialen Berufe ein Stück weit aufzuwerten. Das gilt ja sowohl für den sozialen Erziehungsdienst. Wir sind die Gewerkschaft für den Kita-Bereich. Und das gilt für den Krankenpflegebereich genauso, wo wir jetzt Entlastungstarifverträge haben durchsetzen können. Das steht auf der Habenseite und ist gewissermaßen dann auch Ausdruck dieser gewerkschaftlichen Stärke, die da in diesen Jahren aufgebaut worden ist.
Deutschlandfunk Kultur: Die Gründungsphase war ja nicht ganz unkompliziert, weil da doch ganz unterschiedliche Parteien zusammenkamen, fünf Einzelgewerkschaften, die sich zusammengeschlossen haben mit der Idee, dass man, wenn man größer ist, wenn man fusioniert, auch stärker ist. – Hat sich diese Idee tatsächlich bewahrheitet? Verdi wird ja auch als "Gewerkschaft der tausend Berufe" bezeichnet, weil sie so heterogen ist. Da passt ja auch vieles nicht ganz zusammen, oder?
Bsirske: Ja, Sie haben recht. In der Phase der Entstehung von Verdi gab es große Sorgen insbesondere kleinerer Gewerkschaften vor einer möglicherweise übermächtigen ÖTV. Man hat dann satzungstechnisch noch für den krümmsten aller Fälle die beste aller Lösungen festgeschrieben. Das alles gehört gewissermaßen schon auch zu den Besonderheiten des Entstehungsprozesses.
Deutschlandfunk Kultur: Und einige haben sich dann schon bald auch selbständig gemacht, weil sie das Gefühl hatten, da nicht mehr ganz heimisch zu sein – die Krankenhausärzte, die dann gesagt haben. "Alleine können wir mehr erreichen."
Bsirske: Für die Krankenhausärzte gilt das. Das ist richtig. Vor allem Cockpit war vorher schon sozusagen verselbständigt, also, sehr unterschiedliche Wege.
Eins kann man, glaube ich, sagen: Auf dem Höhepunkt des Gewerkschafts-Bashing Mitte des letzten Jahrzehnts, wo den großen DGB-Gewerkschaften im Grunde die Aura verliehen worden ist, Fossile zu sein, die sich überholt hätten, und die Zukunft kleinen Spartenorganisationen gehöre, diese Prognosen haben sich nicht bestätigt.
Deutschlandfunk Kultur: Schwierig war diese Zeit ja auch, weil ihnen da politisch der Wind ziemlich ins Gesicht blies. Sie galten auch als Organisationen, die noch nicht ganz erkannt haben, dass dieses Land reformbedürftig ist, dass der Arbeitsmarkt verkrustet ist. Das hat dann die rot-grüne Koalition angepackt. Das waren für Sie am Anfang auch keine ganz einfachen Startbedingungen.
Bsirske: Nein. Das hat sich ja zur Überraschung vieler dann 2003 zugespitzt. In der Tat, ich glaube, ich war – was jetzt das Kabinett Schröder angeht – der bestgehasste Gewerkschafter und in Teilen auch der grünen Bundestagsfraktion Persona non grata. Das war so. Das war eine Zeit, wo der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie öffentlich erklärte, "er würde am liebsten alle Tarifverträge ins Lagerfeuer werfen", wo eine große deutsche Wochenzeitung schrieb, "wenn die Gewerkschaften sich nicht biegen, muss man sie brechen", wo die Frankfurter Rundschau eine Karikatur veröffentlichte, die, finde ich, den Zeitgeist sehr gut einfing.
Da saßen zwei Kinder im Sandkasten. Das eine weinte ganz bitterlich und wurde von der Mutter gefragt, was denn passiert sei. Es deutete daraufhin mit dem Finger auf das andere Kind und sagte: "Der hat Gewerkschafter zu mir gesagt." Das fing, glaube ich, die Atmosphäre ganz gut ein.
Deutschlandfunk Kultur: Und wie ist das heute? Finden Sie jetzt wieder Gehör? Die SPD hat ja nun Teile auch der von Ihnen heftig bekämpften Agenda 2010 zurückgenommen, abgemildert. Finden Sie jetzt wieder Gehör?
Bsirske: Na ja, sagen wir mal so: Wir haben erlebt, dass uns damals in der sechsten von 16 Streikwochen im Länderbereich eine große deutsche Tageszeitung ins Stammbuch schrieb, dass "uns die größte Niederlage drohe, die die deutsche Gewerkschaftsbewegung je erlebt hat".
Finanzmarktkrise als Desaster für "geradezu religiöse Marktgläubigkeit"
Deutschlandfunk Kultur: Das war der Streik im Öffentlichen Dienst.
Bsirske: Das war der Streik im Länderbereich. Die haben unsere Entschlossenheit und unsere Kraft doch deutlich unterschätzt. Dann kam die Finanzmarktkrise, die ja im Grunde ein Desaster war für diese geradezu religiöse Marktgläubigkeit und für die Deregulierungspolitik der Jahre davor, die dann auch dazu beigetragen hat, dass das Ansehen der Gewerkschaften in der Gesellschaft wieder deutlich angewachsen ist, einfach auch, weil sich viele unserer Prognosen da bestätigten. Und heute sind wir, glaube ich, in einer ganz anderen, im Kontrast zur damals bestehenden Situation, wo der Wert von Gewerkschaften auf der Arbeitnehmerseite, aber bis hinein auch in Unternehmensspitzen heute höher veranschlagt wird als in dieser Hochzeit des Gewerkschafts-Bashings. Und das ist ja auch gut so.
Deutschlandfunk Kultur: Deutschlandfunk Kultur, die Sendung Tacheles, heute im Gespräch mit Frank Bsirske, dem Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Herr Bsirske, blicken wir zurück: 2005 fünf Millionen Arbeitslose, heute gut zwei Millionen. Die Arbeitslosigkeit ist glatt halbiert. Da kann nicht alles so ganz verkehrt gelaufen sein.
Bsirske: Ich freue mich sehr darüber, dass es im Zuge der anziehenden Konjunktur in den letzten Jahren gelang, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Man muss auf der anderen Seite allerdings auch sehen, dass insbesondere im letzten Jahrzehnt das einher ging mit einer Rückkehr der Unsicherheit. Das, was – sagen wir mal – proletarische Lebenswirklichkeit über viele, viele Jahrzehnte, Jahrhunderte ausgezeichnet hat, das eigene Leben nicht planen zu können, nicht zu wissen, ob man am Ende des Monats mit dem Geld, das man für den Verkauf seiner Arbeitskraft bekommt, über die Runden kommen kann, nicht zu wissen, ob man in ein, zwei Monaten noch einen Job hat, das ist für Millionen von Menschen zurückgekehrt in Gestalt von befristeten Arbeitsverhältnissen, von Leiharbeit, von Scheinselbständigkeit, Scheinwerkverträgen und Niedriglöhnen.
Wir haben heute einen der ausgeprägtesten, größten Niedriglohnsektoren europaweit. Das ist gewissermaßen die Kehrseite der Entwicklung der letzten Jahre und Ausfluss einer Politik, die bewusst darauf angelegt war, es einfacher zu machen, das Lohnniveau senken zu können und die Menschen zu "entsichern".
Deutschlandfunk Kultur: Aber wenn Sie auf den Arbeitsmarkt schauen, können Sie dann sagen, diese Agenda-Politik war von Grund auf verkehrt, ein Irrweg? Um es anders zu sagen: Wünschen Sie sich die Vor-Agenda-Zeiten zurück mit Arbeitsämtern, die Arbeit verwaltet haben, statt Leute in Arbeit zu bringen?
Bsirske: So schlecht war die Arbeitsverwaltung auch vor dem Jahre 2003 nicht. Die Entwicklung, glaube ich, kann nicht losgelöst werden von dem anziehenden Weltmarkt. Die Konjunktur weltweit hat ja in 2004, 2005, 2006 massiv angezogen. Mehr als alles andere ist das gewissermaßen entscheidend gewesen, ausschlaggebend gewesen aus meiner Sicht für den Abbau der Arbeitslosigkeit und für die Ausweitung der Beschäftigung.
Dass die Ausweitung der Beschäftigung eine Folge der Agenda 2010 gewesen sei und von Hartz IV, das gehört zum großen Teil für mich in den Bereich der Legende.
"Knapp fünfzig Prozent aller Arbeitsverträge werden heute befristet"
Deutschlandfunk Kultur: Aber vielleicht doch nicht ganz ohne Wirkung. Der Arbeitsmarkt ist flexibler. Wissenschaftler sagen uns, schon bei geringerem Wachstum entstehen mehr Arbeitsplätze, wenn man in die Statistiken schaut, seit 2000 bis heute sechseinhalb Millionen zusätzlicher sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
Bsirske: Ja. Und wir haben gleichzeitig eine deutliche Zunahme von Teilzeit, bei jungen Beschäftigten eine enorme Zunahme von befristeten Arbeitsverhältnissen. Knapp fünfzig Prozent aller Arbeitsverträge werden heute befristet, davon über vierzig Prozent sachgrundlos. Das ist Entsicherung. Was ist das anderes als Umgehung des Kündigungsschutzes zu Lasten insbesondere der jungen Menschen, für die Befristung heute vielerorts zur Regel geworden ist?
Ich finde, das muss man so nicht akzeptieren. Das ist auch nicht der Punkt, über den Beschäftigung jetzt entstanden ist, sondern das ist der Versuch, auf dem Rücken der Beschäftigten sich Vorteile auf Arbeitgeberseite zu verschaffen. Und hier für eine neue Sicherheit der Arbeit zu sorgen, beispielsweise durch die Bekämpfung sachgrundloser Befristung, beispielsweise dadurch, dass Leiharbeit wie Stammarbeit bezahlt wird von der ersten Stunde an, was in Österreich beispielsweise seit langem Gesetzeslage ist, und dadurch, dass der Gesetzliche Mindestlohn angehoben und die Tarifbindung insgesamt gestärkt wird, das scheint mir doch sehr geboten.
Deutschlandfunk Kultur: Der Mindestlohn ist ein großer Erfolg, haben Sie gesagt, der Gewerkschaften. Verdi hat früh dafür gekämpft. Andere Gewerkschaften mussten davon überzeugt werden, waren anfangs dagegen, weil sie dachten, sie können das aus eigener Kraft besser regeln. Aber unter dem Strich, muss man nicht sagen, wenn der Staat eingreifen muss, um die Löhne zu sichern, dann haben die Gewerkschaften auch was falsch gemacht? Ist insofern das, was Sie als Erfolg bezeichnen, nämlich der Mindestlohn, nicht eigentlich ein Zeichen der Schwäche der Gewerkschaften?
Bsirske: Dem würde ich nicht widersprechen. Tatsächlich ist es ja so, dass der Gesetzliche Mindestlohn die Schwäche der gewerkschaftlichen Vertretung in diesen von Armutslöhnen bezeichneten Bereichen kompensiert, teilkompensiert. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass diese Diagnose zutrifft und dass im Grunde der Grundsatz gilt, dass da, "wo Starke und Schwache aufeinandertreffen", sagt Rousseau, "es die Freiheit ist, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit". Das ist gewissermaßen der Kern dessen, was mit dem Gesetzlichen Mindestlohn auf den Weg gebracht worden ist. Dieser Gesetzliche Mindestlohn stabilisiert das Tarifsystem, insofern er eine Untergrenze festlegt, unter die die Arbeitskraft nicht mehr runter konkurriert werden kann, nieder konkurriert werden kann.
Man muss sich ja doch klarmachen, was sich da vorher abgespielt hat in bestimmten Sektoren ohne jede gewerkschaftliche Tradition, mit ganz, ganz hoher Fluktuation und extrem gewerkschaftsfeindlichen Strukturen. Und wir haben damals gesagt, "nein, es ist überhaupt nicht normal, dass der Briefzusteller bei der Post AG oder die Verkäuferin bei Karstadt mit den Steuern, die sie auf ihren Lohn zahlt, das Armutslohnniveau der Konkurrenz subventioniert, um anschließend zu erleben, wie ihr das Armutslohnniveau der Konkurrenz als Wettbewerbsnachteil ihres eigenen Unternehmens entgegengehalten und zum Argument gemacht wird, ihren Lohn anschließend zu drücken. Das ist nicht normal. Das ist pervers. Und mit dieser Perversion muss Schluss gemacht werden.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Bsirske, dass so etwas möglich ist, Armutslöhne, immer mehr Befristungen, Arbeitsverhältnisse, die Sie als "obszön" bezeichnen oder "prekär", das hat ja auch etwas damit zu tun, dass die Gewerkschaften einen dramatischen Machtverlust hinter sich haben.
Wenn wir auf Verdi schauen im Jahr 2000, als Sie die Führung übernommen haben, 2,8 Mio. Mitglieder, heute 1,9 Mio. Mitglieder. Ein Drittel der Mitglieder sind Ihnen abhandengekommen. Wie konnte es dazu kommen?
Bsirske: Da spielen viele Faktoren zusammen. Wir haben, als wir Verdi gegründet hatten, festgestellt, dass wir ungefähr 400.000 Kolleginnen und Kollegen im Beitragsrückstand hatten von zum Teil zehn, elf Monaten, weil die Vorgängerorganisationen in der Endphase dieser Fusion andere Prioritäten gesetzt hatten und mit möglichst vielen Mitgliedern in diesen Fusionsprozess hineingehen wollten. Als wir die Kolleginnen und Kollegen angefasst haben, haben wir achtzig, fünfundachtzig Prozent verloren – ein Strang, der diese Entwicklung erklärt.
Wir haben dann natürlich Bereiche, wo es zu massivem Arbeitsabbau gekommen ist, und zwar in hoch organisierten Bereichen, um ein Drittel der Beschäftigten in der Energiewirtschaft seit Beginn der Liberalisierung verloren. Wir haben hunderttausende Beschäftigte im Bereich bei Post und Telekom verloren. Bis heute zieht sich das ja in solche Bereiche hinein, wie den Sozialversicherungsträgern. Im Zuge von Krankenkassenfusionen gehen tausende Arbeitsplätze verloren.
Mehr als 100.000 treten pro Jahr bei Verdi ein
Deutschlandfunk Kultur: Aber das eigentliche Problem ist vielleicht, dass die Eintrittsbereitschaft so gering ist. Wenn man weiß, dass seit – ich habe die Zahl eben schon mal genannt – dem Jahr 2000 sechseinhalb Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs in Deutschland entstanden sind und die DGB-Gewerkschaften insgesamt, Verdi bildet da keine Ausnahme, Mitglieder verlieren, dann machen die Gewerkschaften irgendetwas falsch. Dann sprechen sie offenbar die, die die neuen Jobs innehaben, nicht mehr an.
Bsirske: Was die Eintrittsentwicklung angeht, ich meine, wir haben 2016 107.000 Eintritte gehabt. Wir haben 2017 111.000 Eintritte gehabt. Wir haben 2018 122.000 Eintritte gehabt. Das ist eine Größenordnung, die wir in diesem Jahr wieder erreichen werden. – Und jetzt zeigen Sie mir mal die Organisation in Deutschland, die pro Jahr 122.000 Mitglieder gewinnt, Jahr für Jahr. So viele gibt es da nicht. Da bin ich mir ganz sicher. Insofern gehört es auch in den Bereich der Legende zu sagen, diese Gewerkschaften sind nicht attraktiv genug, wenn es darum geht, neue Mitglieder zu gewinnen.
Dass wir es gleichwohl mit einem Widerspruch zu tun haben, wenn man die Mitgliederentwicklung ins Verhältnis setzt zu dem Aufbau an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, das war ja Ihr Punkt, das stimmt. Wobei bei diesem Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung eben auch stark hineinspielt, dass er häufig in Bereichen erfolgt ohne jede gewerkschaftliche Tradition, mit filialisierten Strukturen wie im Einzelhandel, mit zum Teil richtig, richtig niedrigen Löhnen, wo die Fluktuation enorm hoch ist, wo die Menschen wechseln, wenn sie woanders einen besseren Arbeitsplatz angeboten bekommen.
Deutschlandfunk Kultur: Und da haben Sie es schwer, überhaupt Fuß zu fassen …
Bsirske: Da haben wir es schwer, überhaupt kontinuierliche Strukturen aufzubauen.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt zeigt der Blick in die letzten Jahre, Verdi ist die Gewerkschaft mit den meisten Streiks im DGB. Speziell zum Beispiel der Streik der Erzieherinnen hat Ihnen viele neue Mitglieder gebracht. – Ist das die Strategie? Müssen Sie radikaler werden? Müssen Sie kampfbereiter werden? Müssen Sie mehr auf Konfrontation setzen und dann kommen die Mitglieder?
Bsirske: Nun, der Streik im Erziehungsdienst galt ja der Aufwertung dieses Berufsfeldes. Das ist lange, lange überfällig. Da haben wir Fortschritte gemacht. Die Kolleginnen liegen heute 300 bis 700 Euro über der Entlohnung vergleichbarer Beschäftigtengruppen im Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes. Aber das war auch absolut notwendig und nur gegen, wenn man so will, die Arbeitgeberseite durchsetzbar.
Wir haben im Bereich der Krankenpflege die letzten Jahre immer wieder Konflikte erlebt, zum Teil Konflikte, wo es darum ging, Unternehmen überhaupt wieder in die Tarifbindung zu bekommen, weil wir ja wissen, Tarifverträge schützen. Diese Auseinandersetzung um Tarifbindung, um den Schutz von Tarifverträgen durchzieht bestimmte Branchen in besonderer Weise, vor allem die Dienstleistungsbereiche. Das erklärt in hohem Maße diese Streikintensität bei Verdi.
Von den 129 Streiks, die wir im letzten Jahr durchgeführt haben, galt ein Großteil der Verhinderung von Tarifflucht bzw. der Rückgewinnung von Tarifbindung.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, immer mehr Arbeitgeber sind gar nicht mehr bereit, sich dem Diktat eines Tarifvertrages zu unterwerfen oder – anders ausgedrückt – die Gewerkschaften überhaupt als Gesprächspartner, als Verhandlungspartner anzuerkennen.
Bsirske: Immer mehr Arbeitgeber versuchen auf dem Rücken der Beschäftigten durch Lohndrückerei sich Vorteile zu verschaffen und die eigenen Profitinteressen zu bedienen. Wir haben es so zum Teil mit Akteuren zu tun, die auf die Amerikanisierung der Arbeitsbeziehung setzen und Gewerkschaften grundsätzlich feindselig gegenüberstehen. Amazon ist so ein Beispiel. Wir hatten einen vergleichbaren Fall bei Ryanair, wo der Besitzer, dieser irische Milliardär O'Leary erklärt, "Tarifverträge würde er niemals abschließen". Er hat allerdings da die Rechnung ohne die Beschäftigten und ohne uns gemacht. Wir haben mittlerweile Tarifverträge, in einer allerdings harten Auseinandersetzung durchsetzen müssen und durchsetzen können.
"Gewerkschaftliche Aktivitäten bei Amazon haben Wirkung gezeigt"
Deutschlandfunk Kultur: Bei Amazon ist Ihnen das bislang nicht gelungen, auch nach dreijährigem Kampf.
Bsirske: Länger noch. Ich glaube, wir sind fünf Jahre dabei. Trotzdem wäre der Eindruck falsch, dass Verdi dort gegen Windmühlenflügel kämpft. Denn wir haben in den Lägern mittlerweile Organisationsgrade von dreißig, vierzig Prozent, zum Teil mehr. Und wenn man zurückblickt, dann sieht man, dass bei Amazon, bevor die ersten Streiks begannen, vier Jahre lang überhaupt keine Lohnerhöhung gezahlt worden ist. Weihnachtsgeld gab es nicht. Die Zuschlagsregelungen waren wirklich schlecht. Hier hat es deutliche Wirkung der Streiks gegeben.
Es gibt jetzt regelmäßige Lohnerhöhungen, die sich an den Tarifergebnissen im Einzelhandel weitgehend orientieren. Wir haben ein Weihnachtsgeld, wenn auch noch nicht auf dem Niveau des Flächentarifvertrags. Wir haben bessere Zuschlagsregelungen. Und wir haben, darauf legen ja Betriebsräte auch gegenüber den Medien immer wieder großen Wert, es mit selbstbewusster gewordenen Belegschaften zu tun. Wo die früher sich nicht getraut haben, den Mund aufzumachen, gehen die heute in Diskussionen mit den Managern und gehen während des laufenden Betriebs in den Streik und gehen noch am selben Tag aus dem Streik heraus wieder in den laufenden Betrieb. Das kriegt man nur hin mit selbstbewussten Belegschaften. Und das bewirkt zu haben, zeigt schon, dass diese gewerkschaftlichen Aktivitäten bei Amazon Wirkung gezeigt haben und weiterhin Wirkung zeigen werden. Da bin ich ganz sicher.
Deutschlandfunk Kultur: Deutschlandfunk Kultur, die Sendung Tacheles, wir sprechen mit Frank Bsirske, dem Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Herr Bsirske, Sie haben ein grünes Parteibuch, sind damit der einzige Gewerkschaftschef innerhalb des deutschen Gewerkschaftsbundes, der Mitglied der Grünen ist. Ansonsten ist eher die traditionelle Bindung an die Sozialdemokratie nach wie vor vorhanden. Ihr Nachfolger ist auch Sozialdemokrat, Frank Wernecke. – Was sagt uns das? Fremdelt die Gewerkschaftsbewegung immer noch mit dem Thema Umweltschutz, Klimaschutz?
Bsirske: Zunächst mal wird mein Nachfolger nicht gewählt, weil er Sozialdemokrat ist, sondern weil er eine gute Gewerkschaftsarbeit gemacht hat, genauso wenig wie ich gewählt worden bin, weil ich Grüner bin, sondern weil mir zugetraut wurde, die Gräben, die es damals in der ÖTV im Vorfeld der Verdie-Gründung überbrücken zu können.
Gewerkschaft ist eine politische Organisation, aber nicht der verlängerte Arm irgendeiner Partei – egal, welcher Couleur.
Deutschlandfunk Kultur: Ich habe mehr darauf gezielt: Gewerkschaften und Umwelt- und Klimaschutz. Klimaschutz ist das Thema der Stunde. Die Gewerkschaften sind da bislang nicht als Motor aufgefallen. Muss sich das ändern?
Bsirske: Gewerkschaften sind nicht als Motor aufgefallen…
Deutschlandfunk Kultur: Viele sagen sogar, eher als Bremser. Weil, im Zweifel, wenn es darum geht, Klima schützen oder Arbeitsplätze sichern, etwa im Tagebau, im Kohlebergbau, dann tritt die Gewerkschaft für die Jobs ein, was vielleicht auch verständlich ist.
Bsirske: Wir werden das nicht gegeneinander ausspielen dürfen – Jobs und Klimaschutz. Dafür ist die Herausforderung des Klimawandels als Menschheitsbedrohung, und zwar als Bedrohung für die Menschheit als Gattung, viel zu gravierend. Hier geht es ja darum, die Lebensgrundlagen der Menschheit auf Dauer auch zu bewahren und zu verhindern, dass diese Lebensgrundlagen zerstört werden. Das ist von fundamentaler Bedeutung. Deswegen habe ich ja auch dazu aufgerufen, sich an den Protesten am 20. September, letzten Freitag, zu beteiligen.
Wir werden den Ausstieg aus der Kohleverstromung nur hinkriegen, wenn wir gleichzeitig die Versorgungssicherheit gewährleisten in der Energiewende. Wir brauchen nicht nur eine Energiewende. Wir brauchen auch eine Verkehrswende, die nochmal sehr viel mehr Arbeitsplätze betreffen wird als der Ausstieg aus der Kohleverstromung.
Hier die Menschen mitzunehmen, den Transformationsprozess sozialverträglich zu gestalten, aber auch nachhaltig ökologisch zu gestalten, das ist eine Herausforderung, der wir uns alle stellen müssen.
Deutschlandfunk Kultur: Da würden Sie sich eine aktivere Rolle auch der Gewerkschaften für den Klimaschutz wünschen?
Bsirske: Da sind wir aktiver Part der Energiewende beispielsweise. Wir sind ja die Gewerkschaft für die Kraftwerke und für den Energiesektor, öffentlich wie privat, in Deutschland – also, nicht für den Tagebau, aber für die Erzeugung. Und wenn Sie sich angucken, welche Position die Gewerkschaftsvertreter in der Kohlekommission eingenommen haben, dann haben die die Vorschläge, die Kohleverstromung bis 2038 auslaufen zu lassen, alle mitgetragen, genauso wie alle Umweltverbände. Gerne auch früher, aber man darf sich nichts vormachen, das ist voraussetzungsvoll.
Selbst ein Ausstieg 2038 ist voraussetzungsvoll und beispielsweise neben der Sozialverträglichkeit gebunden daran, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien synchronisiert werden kann mit dem Ausbau der Netze, der Verteilnetze. Der Kern der Energiewende ist ja gestützt auf erneuerbare Energien, die Energieerzeugung zu dezentralisieren. Nur, wenn der dezentral erzeugte Strom anschließend nicht in die Netze eingespeist werden kann, dann wird das nichts mit der Energiewende, weil dann die Versorgungssicherheit nicht gewährleistet ist.
Das ist kein Selbstläufer. Dafür muss man etwas tun. Dazu hat die Politik bisher zu wenig getan, diese Bundesregierung. Da muss mehr kommen – im Bereich der Energiepolitik und genauso 1:1-Umsetzung der Kohlekommissionsvorschläge, genauso wie im Bereich von Verkehr, Landwirtschaft und Gebäudesanierung.
"Wir sind nicht der verlängerte Arm irgendeiner Partei"
Deutschlandfunk Kultur: Ihre Partei, die Grünen sind im Aufwind. Unaufhaltsam scheint es. Im Gegenzug sehen wir, die SPD schwächelt, also, der historische Bündnispartner der Gewerkschaften, ein dramatischer Niedergang. – Beschleicht Sie da manchmal auch die Sorge, dass auch die Gewerkschaften einen ähnlichen Niedergang, den man ja über die vielen Jahre auch sehen kann an den Mitgliederzahlen, an der Tarifbindung, befürchten müssen?
Bsirske: Ich finde, dass wir in Deutschland starke Gewerkschaften haben, die auseinandersetzungsfähig sind und das auch zeigen, die der Zukunft zugewandt sind, wie beispielsweise in Fragen des Klimaschutzes und des Klimawandels, und die Gewicht haben in der gesellschaftlichen Entwicklung.
Wir sind nicht auf eine Partei fixiert. Wir sind nicht der verlängerte Arm irgendeiner Partei, egal welcher Couleur, aber politische Organisation, die Einfluss nimmt auf staatliches Handeln, auf Politik, auf Parteien und Öffentlichkeit. Und das ist auch gut so. Und da gibt es zu verschiedenen Parteien doch auch Berührungspunkte, Nähe, Schnittmengen in den Positionen. Die gilt es weiterzuentwickeln. Das reicht über den Kreis der SPD deutlich hinaus – bis hinein in den Arbeitnehmerflügel der Union, zur Linkspartei und zu den Grünen, wo es auch sehr, sehr viele Gemeinsamkeiten gibt, gerade ausgehend von einer Partei, die das Ökologische nicht gegen das Soziale gestellt sehen will, sondern weiß, dass beides einander bedingt und beides miteinander angegangen werden muss. Das schafft alleine schon auch eine Nähe zu gewerkschaftlichen Positionen.
Deutschlandfunk Kultur: Die AfD haben Sie nicht genannt, eine Partei, die an Zulauf gewinnt, in Ostdeutschland drauf und dran ist, die stärkste Kraft zu werden. Wie sollten die Gewerkschaften diese Auseinandersetzung führen? Ausgrenzen oder miteinander reden, integrieren?
Bsirske: Inhaltliche Debatte statt zu versuchen, das Thema mit administrativen Methoden angehen zu wollen. Also, von pauschalem Ausschluss, Unvereinbarkeitsbeschlüssen halte ich gar nichts. Stattdessen werden wir auf die inhaltliche Auseinandersetzung setzen, darauf, Hass und Menschverachtung und rassistischen Positionen entgegenzutreten, darauf, die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen der Partei, dieser AfD, zu suchen, die ja für die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalter eintritt, die für die vollkommene Abschaffung der Erbschaftssteuer wirbt, damit die 300 bis 400 Mrd. Euro, die jedes Jahr in Deutschland vererbt werden – vor allen Dingen an reiche Erben, da geht gewissermaßen der Löwenanteil hin, dass die das alles auch steuerfrei bekommen können, das ist ja zum Teil radikalisierter Neoliberalismus, der uns da begegnen.
Und wenn man sich anguckt, was die AfD an Schwachsinn produziert hat zur Europawahl, also, die Forderung nach Rückkehr zur D-Mark zur Parteiforderung zu erheben, dann muss man sich klarmachen, was das in der Konsequenz bedeuten würde. Wir sind ja der Hauptprofiteur der Eurozone, die deutsche Volkswirtschaft. Der Euro als gemeinsame Währung mit weniger produktiven, weniger wettbewerbsstarken Volkswirtschaften bewirkt so etwas wie eine interne Abwertung, also eine Verbilligung währungstechnisch der deutschen Exporte, was im Umkehrschluss nichts anderes bedeutet, dass mit der Rückkehr zur nationalen Währung, zur D-Mark, ein Aufwertungseffekt verbunden wäre, der deutsche Waren auf den Exportmärkten massiv verteuern würde, so wie es der DDR passiert ist, als die D-Mark eingeführt wurde.
Deutschlandfunk Kultur: Und doch, Herr Bsirske, wenn ich Sie unterbrechen darf, hat die AfD auch unter Gewerkschaften großen Zulauf. Offenbar sind auch die Gewerkschaften nicht immun gegen die AfD.
Bsirske: Deswegen ist es auch richtig, dass wir die inhaltliche Auseinandersetzung suchen und eine Position wie die Rückkehr zur D-Mark als das auch geißeln, was sie ist: strunzdumm und gemeingefährlich, auch in der Zuspitzung.
Insofern setze ich, das war ja Ihre Frage, ganz entschieden auf die inhaltliche Auseinandersetzung und halte den Versuch, das über administrative Methoden auszutragen, für völlig verfehlt.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Bsirske, herzlichen Dank für das Gespräch.
Bsirske: Gerne.