Verdichtete Entwurzelung
Was bedeutet es, das eigene Land zu verlieren und heimatlos zu werden? Dragan Velikić macht die Erfahrung des Exils zum Ausgangspunkt seines neuen Romans. Seine Heldin Olga, eine lesesüchtige Anglistin, Joyce-Spezialistin und Bibliothekarin, verlässt wegen des Jugoslawienkrieges 1994 ihren Geburtsort Belgrad und folgt ihrem Ehemann Andrej nach Wien.
Während ihr Mann seine Entwurzelung verdrängt, sich trotz seiner beruflichen Erfahrung als Zahnarzt mit einer schlechtbezahlten Assistentenstelle zufrieden gibt und sogar das für Österreich notwendige allgemeinmedizinische Examen nachholt, lässt sich die 33-jährige Olga von ihren Empfindungen treiben. Pragmatismus ist ihre Sache nicht; Träume, Stimmungen und ein Gespür für atmosphärische Verschiebungen geben den Rhythmus ihres Alltags vor.
Monatelang erkundet sie die fremde Stadt, flaniert durch die Straßenzüge der inneren Bezirke, macht Spaziergänge durch Parks und über Friedhöfe, erforscht das U-Bahnnetz und die Straßenbahnlinien. Wohin sie "der fliegende Teppich" an diesem Tag gebracht habe, will ihr Mann abends wissen. Unaufhaltsam driftet das Ehepaar auseinander.
Obwohl Olga einen Deutschkurs belegt, verweigert sie sich der Fremde: Sie fühlt sich "wie eine Fliege zwischen den Scheiben eines Doppelfensters". Die heimwehkranke Serbin verharrt in diesem Zwitterstadium und schließt Freundschaft mit einem bosnischen Maler, der schließlich nach Südafrika weiter zieht. Stärker als in der Gegenwart lebt sie in den Briefen, die sie aus Kapstadt erhält, in Büchern und in Erinnerungen an ihren verstorbenen Onkel Pavle, der aus Belgrad nach Wien ging und von dort nach München übersiedelte.
Als sie schwanger wird, kann sie für das ungeborene Kind keine Gefühle entwickeln. Der Jugoslawienkrieg mit seinem Rückfall in die Barbarei ist das unheilvolle Hintergrundrauschen ihres langsamen Weltverlustes.
Dragan Velikić ist eine Experte für Spiegelungen und Verdichtungen: die Entfremdung der beiden Exilanten wiederholt sich in mehreren Figurenkonstellationen. Auf der Zeitebene der Gegenwart gibt es den ungarischen Arzt Tibor mit seiner Frau Rita. Ihre Ehe dauert seit 17 Jahren an und ist in Ritualen erstarrt.
Auf der Zeitebene der Vergangenheit stellt Velikić eine Parallele zu Ritas Großmutter Martha her, deren Lebensweg sich mit James Joyces und Noras Exil in Istrien überschnitt. Hier dringt der serbische Schriftsteller in jene mitteleuropäischen Gefilde vor, die seit jeher seine Romane bestimmen.
Im Wechsel mit Olgas Wiener Geschick zeichnet er die wechselvolle Geschichte des irischen Paares nach. Materielle Zwänge, die Verbindung mit Nora, aber auch innere Notwendigkeit hatten Joyce aus Irland vertrieben. Die Fremde lässt Joyce trotz der Entbehrungen nicht erstarren, sondern wird zu einem produktiven Motor seines Schreibens: erst vor der Kulisse der Hafenstadt Triest, die genau das richtige Maß an Ähnlichkeit und Verschiedenheit mit seiner Heimat aufweist, kann Dublin zum Gegenstand seiner literarischen Arbeit werden.
Velikić erzählt nicht nur von Joyces Tätigkeit als Englischlehrer an der Berlitz School und seinem berühmten Schüler Ettore Schmitz, der als Italo Svevo in die Literaturgeschichte eingehen sollte, sondern schildert immer wieder die Phasen von Nähe, Begehren und Entfernung zwischen Joyce und Nora. Lichter der Berührung ist also auch ein Versuch, den Gezeiten der Liebe und Ehe auf die Spur zu kommen.
Velikić, 1953 in Belgrad geboren, während des Krieges Mitarbeiter einer regimekritischen Zeitschrift, zwischen 1996 und 1999 Cheflektor des Verlages B92 und seit kurzem serbischer Botschafter in Wien, verankert Lichter der Berührung stärker als frühere Romane in einer wiedererkennbaren Wirklichkeit. Handlungen und Dialoge gewinnen an Gewicht.
Zwar weist Olga große Ähnlichkeit mit Adam Vasić auf, dem Helden seines zuletzt auf Deutsch erschienenen Buches Dossier Domaszewski (2004), der als Weltflüchtiger und Mystifikator des Augenblicks in Erscheinung trat und den Traum als Maß der Welt bezeichnete. Velikićs impressionistische Erzählweise, die assoziativen Verknüpfungen und das kreisende Voranschreiten der Geschichte haben sich jedoch gewandelt – ein neuer Realismus ist stattdessen bestimmend geworden.
Prägnanz gewinnt bezeichnenderweise vor allem die Joyce-Episode. Obwohl Velikić die seelischen Folgen des Krieges und die schleichende Asymmetrie der Paare eindringlich zu beschreiben weiß, wirkt sein neuer Roman mitunter überfrachtet und gestelzt. Vor allem die wörtliche Rede hat eine artifizielle Schlagseite. Wie Olga und Andrej geraten Velikićs neue Welthaltigkeit und sein lyrischer Tonfall in ein merkwürdiges Missverhältnis.
Dragan Velikić: Lichter der Berührung
Roman. Aus dem Serbischen von Bärbel Schulte.
Ullstein Verlag Berlin 2005, 224 Seiten, 19,90 €.
Monatelang erkundet sie die fremde Stadt, flaniert durch die Straßenzüge der inneren Bezirke, macht Spaziergänge durch Parks und über Friedhöfe, erforscht das U-Bahnnetz und die Straßenbahnlinien. Wohin sie "der fliegende Teppich" an diesem Tag gebracht habe, will ihr Mann abends wissen. Unaufhaltsam driftet das Ehepaar auseinander.
Obwohl Olga einen Deutschkurs belegt, verweigert sie sich der Fremde: Sie fühlt sich "wie eine Fliege zwischen den Scheiben eines Doppelfensters". Die heimwehkranke Serbin verharrt in diesem Zwitterstadium und schließt Freundschaft mit einem bosnischen Maler, der schließlich nach Südafrika weiter zieht. Stärker als in der Gegenwart lebt sie in den Briefen, die sie aus Kapstadt erhält, in Büchern und in Erinnerungen an ihren verstorbenen Onkel Pavle, der aus Belgrad nach Wien ging und von dort nach München übersiedelte.
Als sie schwanger wird, kann sie für das ungeborene Kind keine Gefühle entwickeln. Der Jugoslawienkrieg mit seinem Rückfall in die Barbarei ist das unheilvolle Hintergrundrauschen ihres langsamen Weltverlustes.
Dragan Velikić ist eine Experte für Spiegelungen und Verdichtungen: die Entfremdung der beiden Exilanten wiederholt sich in mehreren Figurenkonstellationen. Auf der Zeitebene der Gegenwart gibt es den ungarischen Arzt Tibor mit seiner Frau Rita. Ihre Ehe dauert seit 17 Jahren an und ist in Ritualen erstarrt.
Auf der Zeitebene der Vergangenheit stellt Velikić eine Parallele zu Ritas Großmutter Martha her, deren Lebensweg sich mit James Joyces und Noras Exil in Istrien überschnitt. Hier dringt der serbische Schriftsteller in jene mitteleuropäischen Gefilde vor, die seit jeher seine Romane bestimmen.
Im Wechsel mit Olgas Wiener Geschick zeichnet er die wechselvolle Geschichte des irischen Paares nach. Materielle Zwänge, die Verbindung mit Nora, aber auch innere Notwendigkeit hatten Joyce aus Irland vertrieben. Die Fremde lässt Joyce trotz der Entbehrungen nicht erstarren, sondern wird zu einem produktiven Motor seines Schreibens: erst vor der Kulisse der Hafenstadt Triest, die genau das richtige Maß an Ähnlichkeit und Verschiedenheit mit seiner Heimat aufweist, kann Dublin zum Gegenstand seiner literarischen Arbeit werden.
Velikić erzählt nicht nur von Joyces Tätigkeit als Englischlehrer an der Berlitz School und seinem berühmten Schüler Ettore Schmitz, der als Italo Svevo in die Literaturgeschichte eingehen sollte, sondern schildert immer wieder die Phasen von Nähe, Begehren und Entfernung zwischen Joyce und Nora. Lichter der Berührung ist also auch ein Versuch, den Gezeiten der Liebe und Ehe auf die Spur zu kommen.
Velikić, 1953 in Belgrad geboren, während des Krieges Mitarbeiter einer regimekritischen Zeitschrift, zwischen 1996 und 1999 Cheflektor des Verlages B92 und seit kurzem serbischer Botschafter in Wien, verankert Lichter der Berührung stärker als frühere Romane in einer wiedererkennbaren Wirklichkeit. Handlungen und Dialoge gewinnen an Gewicht.
Zwar weist Olga große Ähnlichkeit mit Adam Vasić auf, dem Helden seines zuletzt auf Deutsch erschienenen Buches Dossier Domaszewski (2004), der als Weltflüchtiger und Mystifikator des Augenblicks in Erscheinung trat und den Traum als Maß der Welt bezeichnete. Velikićs impressionistische Erzählweise, die assoziativen Verknüpfungen und das kreisende Voranschreiten der Geschichte haben sich jedoch gewandelt – ein neuer Realismus ist stattdessen bestimmend geworden.
Prägnanz gewinnt bezeichnenderweise vor allem die Joyce-Episode. Obwohl Velikić die seelischen Folgen des Krieges und die schleichende Asymmetrie der Paare eindringlich zu beschreiben weiß, wirkt sein neuer Roman mitunter überfrachtet und gestelzt. Vor allem die wörtliche Rede hat eine artifizielle Schlagseite. Wie Olga und Andrej geraten Velikićs neue Welthaltigkeit und sein lyrischer Tonfall in ein merkwürdiges Missverhältnis.
Dragan Velikić: Lichter der Berührung
Roman. Aus dem Serbischen von Bärbel Schulte.
Ullstein Verlag Berlin 2005, 224 Seiten, 19,90 €.