Verdrängte Wahrheiten
In ihrem Debütroman erzählt Hélène Grémillon von Familien und ihren Lebenslügen in Zeiten des Krieges. Sie zieht den Leser in die Zeit vor und während der deutschen Besatzung hinein, als sich Franzosen entscheiden mussten: kollaborieren oder widerstehen.
Eine junge Frau im Paris des Jahres 1975 bekommt Briefe von einem Unbekannten, einem gewissen Louis. Er berichtet schier Unglaubliches: Eine Geschichte, von der Camille, die Empfängerin, zunächst annimmt, sie beträfe sie gar nicht. Das müsse eine Verwechslung sein. Oder vielleicht ein Romanmanuskript? Sie bekommt als Lektorin tägliche Angebote. Ist dies vielleicht ein verstecktes?
Die Briefe kommen in Kapiteln, es sind Dutzende. Immer mehr Details kommen ans Licht. Camille wird langsam klar, dass dieser Louis ihre Familie gut kennen muss und dass es um sie selbst geht, um ihre Herkunft.
Sie erkennt: Ihre leibliche Mutter ist eine andere. Die Frau, die sich ein Leben lang als ihre Mutter ausgab, hat sie belogen. Sie verzweifelte am Ende an dieser Lebenslüge und beging Selbstmord. Erst jetzt kommt die Wahrheit ans Licht. Durch die Briefe. Doch das ist noch nicht alles, was Hélène Grémillon in ihrem elegant komponierten Roman erzählt. Sie zieht den Leser in die Zeit vor und während der deutschen Besatzung hinein, in Zeiten, als sich Franzosen entscheiden mussten: kollaborieren oder widerstehen.
Es ist ein Familienroman in Zeiten des Krieges, er vermeidet aber politische Bekenntnisse, sondern konzentriert sich ganz auf die Hauptpersonen und ihre Geschichte - neben Camille ihre leibliche Mutter Annie, die sie nie kennenlernen konnte, die in jungen Jahren ebenfalls Selbstmord beging. Sie wird in Rückblenden als junge Frau beschrieben, die Talent zum Malen hat und eines Tages in ihrem Dorf bei Paris eine reiche Gönnerin trifft. Es ist Elisabeth - eben jene Frau, die später behaupten wird, Camilles Mutter zu sein. Sie kann keine Kinder bekommen, sehnt sich aber danach, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, wie sie glaubt. Sie bedrängt die junge Annie, an ihrer Stelle schwanger zu werden. Als das Kind da ist, verstößt Elisabeth die leibliche Mutter, die sich nicht mehr zu helfen weiß und als Prostituierte für deutsche Offiziere ihren Lebensunterhalt verdienen muss.
Die Autorin erzählt immer wieder von der Anpassung, vom bitteren Arrangement mit den neuen Machthabern, weniger vom Widerstand. Aber: Sie urteilt nicht. Sie zeigt dies als Normalzustand im Paris der frühen 40er.
Hélène Grémillon, in Frankreich bekannt als Drehbuchautorin (und als Ehefrau des Chanson-Stars Julien Clerc), legt hier einen klassisch komponierten, dem Erzählstrang verpflichteten Roman vor, der an einigen Stellen zu Geschwätzigkeit neigt, sich aber am Ende immer wieder einfängt, um letztlich einer weitverbreiteten Familientragik eine Stimme zu geben - nämlich wie sich von Generation zu Generation Lebenslügen fortsetzen und nur dann aufhören, wenn jemand den seltenen Mut aufbringt, sie zu beenden.
Besprochen von Vladimir Balzer
Hélène Grémillon: Das geheime Prinzip der Liebe
Hoffmann und Campe, Hamburg 2012
356 Seiten, 19.99 Euro
Die Briefe kommen in Kapiteln, es sind Dutzende. Immer mehr Details kommen ans Licht. Camille wird langsam klar, dass dieser Louis ihre Familie gut kennen muss und dass es um sie selbst geht, um ihre Herkunft.
Sie erkennt: Ihre leibliche Mutter ist eine andere. Die Frau, die sich ein Leben lang als ihre Mutter ausgab, hat sie belogen. Sie verzweifelte am Ende an dieser Lebenslüge und beging Selbstmord. Erst jetzt kommt die Wahrheit ans Licht. Durch die Briefe. Doch das ist noch nicht alles, was Hélène Grémillon in ihrem elegant komponierten Roman erzählt. Sie zieht den Leser in die Zeit vor und während der deutschen Besatzung hinein, in Zeiten, als sich Franzosen entscheiden mussten: kollaborieren oder widerstehen.
Es ist ein Familienroman in Zeiten des Krieges, er vermeidet aber politische Bekenntnisse, sondern konzentriert sich ganz auf die Hauptpersonen und ihre Geschichte - neben Camille ihre leibliche Mutter Annie, die sie nie kennenlernen konnte, die in jungen Jahren ebenfalls Selbstmord beging. Sie wird in Rückblenden als junge Frau beschrieben, die Talent zum Malen hat und eines Tages in ihrem Dorf bei Paris eine reiche Gönnerin trifft. Es ist Elisabeth - eben jene Frau, die später behaupten wird, Camilles Mutter zu sein. Sie kann keine Kinder bekommen, sehnt sich aber danach, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, wie sie glaubt. Sie bedrängt die junge Annie, an ihrer Stelle schwanger zu werden. Als das Kind da ist, verstößt Elisabeth die leibliche Mutter, die sich nicht mehr zu helfen weiß und als Prostituierte für deutsche Offiziere ihren Lebensunterhalt verdienen muss.
Die Autorin erzählt immer wieder von der Anpassung, vom bitteren Arrangement mit den neuen Machthabern, weniger vom Widerstand. Aber: Sie urteilt nicht. Sie zeigt dies als Normalzustand im Paris der frühen 40er.
Hélène Grémillon, in Frankreich bekannt als Drehbuchautorin (und als Ehefrau des Chanson-Stars Julien Clerc), legt hier einen klassisch komponierten, dem Erzählstrang verpflichteten Roman vor, der an einigen Stellen zu Geschwätzigkeit neigt, sich aber am Ende immer wieder einfängt, um letztlich einer weitverbreiteten Familientragik eine Stimme zu geben - nämlich wie sich von Generation zu Generation Lebenslügen fortsetzen und nur dann aufhören, wenn jemand den seltenen Mut aufbringt, sie zu beenden.
Besprochen von Vladimir Balzer
Hélène Grémillon: Das geheime Prinzip der Liebe
Hoffmann und Campe, Hamburg 2012
356 Seiten, 19.99 Euro