Johannes Hillje (Jahrgang 1985) arbeitet als Politik- und Kommunikationsberater in Berlin und Brüssel. 2017 veröffentlichte er das Buch "Propaganda 4.0 - Wie rechte Populisten Politik machen" (Dietz-Verlag). Hillje ist zudem Policy Fellow beim "Progressiven Zentrum". Hillje twittert unter www.twitter.com/jhillje
Die Verteidigung der Schwächeren als Angriff auf die Stärkeren
Wer Asylsuchenden Schutz geben möchte, dem wird heute vorgeworfen, belehrend zu sein oder moralistisch. Minderheiten werden gegen Mehrheiten ausgespielt, beklagt der Politikberater Johannes Hillje. Das sei falsch, denn eine "Moral der Zäune" sei keine Alternative.
Am 4. September 2015 willigte Angela Merkel auf Drängen der Regierungen in Ungarn und Österreich ein, Tausende Geflüchtete aufzunehmen. Es ist eine erstaunliche Fehlleistung unserer Debattenkultur, dass dieses Ereignis der jüngsten Geschichte, heute vollkommen kontrafaktisch wiedergeben werden kann, ohne Widerspruch hervorzurufen.
Von der Wochenzeitung "Die Zeit" bis hin zum Bundesinnenminister wird diese Entscheidung Merkels als "Grenzöffnung" bezeichnet. Das ist ein mächtiges Sprachbild, suggeriert es doch, die Kanzlerin habe den Befehl zum Öffnen von Schlagbäumen gegeben. Diese Geschichtserzählung ist deshalb unzutreffend, weil wir seit 1995 im Schengen-Raum leben, einem Raum der offenen Grenzen. Offene Grenzen kann man nicht mehr öffnen, man muss daher korrekterweise von einer "Nicht-Grenzschließung" sprechen.
Vorsätzliche Missverständnisse
Die Fiktion der Grenzöffnung ist wohlgemerkt nur der Anfang eines vorsätzlichen Missverständnisses über die Flüchtlingspolitik. Es setzt sich fort mit verzerrenden, ja diffamierenden Begriffen wie "Asylgehalt" oder "Asyltourismus", die allen voran Bayerns Ministerpräsident Markus Söder in den letzten Wochen notorisch vorgetragen hat.
Von der ZDF-Moderatorin Dunja Hayali kritisch darauf angesprochen, ob sein Weltbild von Grenzöffnungen, Asylindustrie und Asyltouristen die Realität tatsächlich angemessen beschreibe, fühlte sich Söder brüskiert. Die Kritik an seiner Sprache zeige doch nur, so Söder, dass wir in einer Belehrungsdemokratie lebten, die vielen Menschen auf den Geist ginge.
Verdrehte Verteilung der Solidarität
Diese Anklage Söders eignet sich als Untersuchungsgegenstand für eine umfassendere Zeitdiagnose: Das kritische Hinterfragen, das Widerlegen von Mythen durch Fakten, das Erinnern an Werte und Normen, wird heute als Belehrung verunglimpft. Das hat ganz praktische Auswirkungen auf die Rechtfertigung von Politik.
Das Recht auf Asyl beruht auf dem Grundsatz der Humanität und Solidarität gegenüber notleidenen Menschen. Doch wer die Kritik an einem Begriff wie "Asyltourismus" gereizt als Belehrung zurückweist, verdreht die Verteilung von Solidarität: Denn er versteht die Verteidigung der Schwächeren als Angriff auf die Stärkeren.
Jedes Erinnern an humanistische Grundsätze wird geahndet
Dem Asylsuchenden wird dann nicht mal mehr sein Bedürfnis nach Schutz zugestanden, menschliches Leid kann als solches nicht mehr bezeichnet werden - hier hat sich nicht nur das Sagbare verschoben, hier hat sich Moral verschoben.
Diese Verschiebung der Moral lässt sich auch daran ablesen, dass mittlerweile fast schon jedes noch so sachliche Erinnern an die humanistischen Grundsätze unseres Rechtsstaats, mit dem Etikett "Moralismus" oder gar "Hypermoralismus" geahndet wird.
Moralismus ist zu einem politischer Kampfbegriff geworden. Er diskreditiert das Verweisen auf Werte und Normen oder schlicht auf geltendes Recht, als abgehobenes Elfenbeinturm-Gehabe.
Demokratie muss Moralvorstellungen ausgleichen
Im Prozess der Moralverschiebung hat sich ein neuer Bezugspunkt für moralisches Handeln durchgesetzt. Es gibt in der heutigen Debatte eine Moral der Zäune und Grenzen. Statt Moral auf die Menschen, die nach Schutz suchen, zu beziehen, wird nun eine Moral des Schutzes vor Schutzsuchenden propagiert.
Die Moral der Zäune ist die logische nächste Episode in der Erzählung von der unmoralischen Grenzöffnung: Weil mit dem unrechtmäßigen Reinwinken viel zu vieler Fremder, das eigene Volk in Gefahr gebracht wurde, verlange es nun die Moral, das Volk vor weiterem Schaden mit Zäunen zu schützen. Die Bezugsgruppe für das moralische Handeln ist dabei einzig und allein das Volk. Einerseits ist das okay. Andererseits ist das Volk im Sinne unserer Verfassung nicht die einzige Gruppe, die von moralischem Handeln der Gemeinschaft profitieren kann.
Auch Schutzsuchende gehören dazu. In der Polarisierung der Moral scheint diese Realität unserer Verfassung nicht mehr zu gelten. Der Schutz für die einen wird automatisch zur Bedrohung der anderen. Die Aufwertung von Minderheiten zur Abwertung der Mehrheit. Dieses binäre Denken, die Idee von Politik als Paternoster, ist nicht demokratisch. Demokratie muss Moralvorstellungen ausgleichen. Im konkreten Fall hieße das: Statt einer Moral der Zäune sollten wir eine Moral des Schutzes entwickeln, die verschiedene Schutzbedürfnisse unterschiedlicher Menschengruppe anerkennt und bedient.